Eins ist hinsichtlich dieses Volkes sicher, und Judentum, Christentum und Islam sind sich weitgehend einig: Gog und Magog sind Menschen, die sich in der „Endzeit“ massenhaft und in rasender Geschwindigkeit über die Erde ausbreiten und sie in beispielloser Weise verwüsten. Kann man sie schon jetzt lokalisieren?
Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, wer Gog und Magog sind und wo sie sich befinden, sollten wir uns zunächst darüber klar werden, inwiefern dies überhaupt sinnvoll und keine Zeitverschwendung ist. Immerhin gelten mehrere Prophetenaussprüche als authentisch, aus denen hervorzugehen scheint, dass sich der Ausbruch Gogs und Magogs erst nach dem Auftauchen des Antichristen und nach dessen Besiegung durch den zurückgekehrten Jesus Christus ereignen wird. Solange diese beiden Zeichen nicht eingetroffen sind, scheint man sich also beruhigt zurücklehnen zu können. Dies ganz abgesehen davon, dass die Erfüllung von Gott inspirierter Prophezeiungen nicht verhindert werden und somit auch eine Identifikation und Lokalisierung des Volkes nicht zur Verhinderung seines Ausbruchs führen können.
Bei den Aussprüchen handelt es sich um:
Sich auf diese Überlieferungen hinsichtlich der Reihenfolge der Ereignisse zu verlassen, dürfte jedoch zumindest leicht bedenklich sein. Hadith 1 steht zwar im Saħîħ-Werk Muslims. Dennoch werfen hadithwissenschaftlich betrachtet seine Überliefererkette und sein Inhalt Fragen auf.1 Hadith 2 und 3 sind umstritten.2 Hadith 4 ist leicht anzusehen, dass er keine chronologische Reihenfolge beabsichtigt.
Hingegen existiert eine Überlieferung, über deren Authenzität sich Buchari, Muslim und andere Hadithgelehrte - anders als bei den Hadithen 1 bis 3 - einig sind, und deren Implikationen der obigen Reihenfolge zu widersprechen scheinen:
Zaynab b. Jahsh berichtete, dass der Prophet, Gottes fürsorglicher Segen und Frieden mögen auf ihm ruhen, [eines Tages] aus seinem Schlaf mit rotem Gesicht erwachte [, zu ihr erschrocken hereinkam] und sagte: Keine Gottheit außer Gott! Wehe den Arabern vor einem Übel, dass schon nahe ist - von dem Wall Gogs und Magogs ist heute schon so viel geöffnet worden! Dabei fügte er Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis zusammen. Sie sagte: „Gesandter Gottes, werden wir denn zugrunde gehen, auch wenn sich Rechtschaffene unter uns befinden?“ Er antwortete: Ja, wenn die Schlechtigkeit sehr zugenommen hat.
Zu betroffen und erschrocken wirkt der Gesandte Gottes hier, und zu sehr betont er die Nähe des „Übels“, in dessen Zusammenhang er Gog und Magog erwähnt, als dass die durch die anderen Hadithe implizierte Ferne ihres Ausbruchs plausibel erscheinen könnte. Besonders deutlich wird dieses Spannungsverhältnis angesichts der dem Propheten in Hadith 1 zugeschriebenen verharmlosenden Attitüde bezüglich des Antichristen (andernorts als größte Gefahr bzw. Versuchung aller Zeiten dargestellt), obwohl sein Erscheinen den obigen Hadithen nach noch näher bevorsteht als der Ausbruch Gogs und Magogs.
Eine Möglichkeit, den Konflikt einigermaßen aufzulösen, wäre, das Erschrecken nicht direkt auf die Nähe des Ausbruchs Gogs und Magogs zu beziehen, sondern auf die mit ihr ebenfalls feststehende Nähe der Dinge, die dem Ausbruch vorausgehen und für welche die Öffnung im Wall ja ebenfalls ein Zeichen sein muss, wenn die Chronologie als dem Propheten bekannt vorausgesetzt wird. Ganz aus der Welt schafft diese Möglichkeit das Problem der laut Hadith 1 ruhigen Verhaltensweise des Propheten allerdings nicht.
Auch ohnedies wäre eine nähere Untersuchung zu diesem Thema nicht ohne einen gewissen Nutzen. Falls sie nämlich zu einem nennenswerten Ergebnis kommt, wird dieses voraussichtlich die Verlässlichkeit der Methoden der Hadithwissenschaft untermauern oder aber wenigstens dazu beitragen, die Grenzen ihrer Verlässlichkeit genauer festlegen zu können. - Zudem lässt sie erwarten, die Setzung eines wichtiges Puzzlestücks aus der Thematik um Dhul Qarnayn und somit die Fehlerlosigkeit des Ehrwürdigen Koran weiter zu untermauern, zumal Polemiker oft behaupten, der historische Dhul Qarnayn werde von Sure 18 falsch, weil als Monotheist und nicht als Polytheist beschrieben.
Bezüglich der Frage, wo Gog und Magog derzeit sind, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Wall des Dhul Qarnayn, hinter dem sie zurückgehalten wurden, trotz moderner Satellitentechnik noch nicht entdeckt ist, und auch keine Landfläche mit einem darin eingesperrten Volk, gibt es mehrere Hypothesen:
Wenn man nicht nur alle Koranverse, sondern auch alle einigermaßen authentischen Hadithe respektieren möchte, ohne auf Möglichkeit 1 und 2 zurückzugreifen, wird es schwierig. Wahrscheinlich müsste man auf die Vorstellung verzichten, dass Gog und Magog derzeit eingesperrt sind, egal ob oberhalb oder unterhalb der Erdoberfläche. Doch bei genauerem Hinsehen lässt sich keinem Koranvers und keinem unumstritten authentischen Hadith eindeutig entnehmen, dass Gog und Magog wirklich eingesperrt sind und permanent versuchen, eine Eisenmauer zu durchbrechen.3 Die folgenden Texte erweisen sich nicht als Beleg des Letzteren geeignet:
Daraufhin vermochten sie ihn weder zu übersteigen, noch vermochten sie, ihn zu durchlöchern.- dies mag implizieren, dass sie versuchten, den Wall zu übersteigen und zu durchlöchern, nicht aber, dass sie es bis in die schiere Ewigkeit tun.
Bis, wenn Gog und Magog geöffnet werden4 und sie von jeder Anhöhe herabeilen- die Übersetzung ist unsicher. Wie hat man sich vorzustellen, dass ein Volk als solches „geöffnet“ wird? Korankommentatoren gehen in der Regel vom Vorliegen einer Ellipse aus, gehen aber leider nicht näher auf diese Auffälligkeit ein. Demzufolge jedenfalls sagt der Vers nicht explizit, was geöffnet wird. Ist es aber eine Mauer? Ein Tor? Landesgrenzen im heutigen Sinn? Das verwendete Verb fataħa (wörtl. „öffnen“) bedeutet außerdem auch u. a. „(ein Land) erobern“ und wird an sehr vielen, wenn nicht gar an den meisten Stellen des Koran in einem nicht-wörtlichen Sinn benutzt.
von dem Wall Gogs und Magogs ist heute schon so viel geöffnet worden!wurde direkt nach dem Aufwachen des Propheten getätigt, womit ihm offensichtlich ein Traumgesicht zugrundeliegt. Wenn dieser Ausspruch lediglich die Beschreibung eines Traumbildes ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass er symbolisch zu verstehen ist, da auch die Träume Mohammeds , wie von so mancher authentischen Überlieferung bekannt ist, Symboliken beinhalteten, die nicht als direkte Abbilder der Realität zu verstehen waren.
Das geringste Problem ist derweil der Wall Dhul Qarnayns, auch wenn er noch nicht als wiederentdeckt gilt. Als ein seit Jahrhunderten in einem Gebirge befindliches Konstrukt wird er von Schnee, Gletschern, Geröll und/oder pflanzlichem Bewuchs bedeckt sein und daher, zusätzlich zu seiner schwierigen Zugänglichkeit, nicht als künstliches Bauwerk auffallen. Es wäre möglicherweise sogar in Betracht zu ziehen, dass er (evtl. schon vor der Zeit Mohammeds ) teilweise oder ganz entfernt oder zerstört wurde. Dies lässt sich durch Sure 18:97 nicht ausschließen, denn dieser Vers beschreibt nur, dass Gog und Magog unfähig waren, den Wall zu überwinden (und das möglicherweise auch noch nur zu Zeiten Dhul Qarnayns, immerhin heißt es vermochten
in Vergangenheitsform statt „vermögen“), und lässt zu, dass durch eine lokale Naturkatastrophe eine vorzeitige Zerstörung erfolgt oder anderen Völkern später Techniken zur Verfügung stehen, die Mauer zu zerlegen und ihr Material für andere Zwecke zu verwenden, insbesondere in einer Zeit, in der scheinbar keine akute Gefahr mehr durch Invasionen Gogs und Magogs mehr bestand. Hiergegen lässt sich einwenden, dass 18:98 nahelege, dass der Wall in etwa bis zum Tag des Gerichts bestehen und nicht auf künstliche Weise abgetragen werde: Dies, sagte er, ist eine Barmherzigkeit von meinem Herrn. Wenn aber die Verheißung meines Herrn kommt, wird Er ihn zu Schutt werden lassen. Und die Verheißung meines Herrn ist wahr. Doch dieses Argument ist solange schwach, wie es das Wahrscheinlichste ist, dass der hier Zitierte - Dhul Qarnayn - kein Prophet war, sowie, dass er mit der Verheissung eine speziell diesen Wall oder seine Umgebung betreffende meinte. Diese kann auch mit einer vor Jahrhunderten geschehenen Naturkatastrophe erfüllt worden sein, z.B. einem zum Schmelzen des Metalls führenden Vulkanausbruch, einem Erdbeben oder beidem. Nicht uninteressant in diesem Zusammenhang ist, dass in dem Gebirge, in welchem Dhul Qarnayn den Wall errichten ließ, tatsächlich eine permanente Erdbebengefahr herrscht und mehrere Vulkane existieren, wie sich in einer näheren Untersuchung zeigen lässt.
Das Thema ist wirklich - zumindest für mich persönlich - sehr spannend, obwohl ich bis vor Kurzem nie vorhatte, jemals etwas Dezidiertes über dieses Thema zu schreiben.
Doch während meiner Arbeit an dem Artikel „Wer war Dhul Qarnayn?“ sammelten sich
nebenbei Berge von Informationen im Zusammenhang mit Gog und Magog an,
welche nun ihrer Sortierung sowie ihrer Aus- und Verwertung in einem eigenen
Artikel harren. Dieser würde den obigen vier Hypothesen eine fünfte hinzufügen5 und zur Feststellung derjenigen unter ihnen, welche der Wahrheit am nächsten kommt, ein kritisches Ausschlussverfahren anwenden. Neben einer linguistischen und etymologischen Analyse der arabischen und der nicht-arabischen Version des Namens „Gog und Magog“ sowie exegetischen, herausragende Kommentarwerke konsultierenden Untersuchungen relevanter Stellen im Koran dürfte er sich durch Raum und Zeit auf eine Reise in verschiedene geographische Gebiete des Altertums begeben, wie z.B. das alte Persien, die antike Kaukasus- und andere Regionen, um stumme wie sprechende und schriftliche wie archäologische Zeugen zu Wort kommen zu lassen und eine Reihe von „Hinweisschildern“ wahrzunehmen, die fast alle in ungefähr die gleiche Richtung zeigen, und vieles mehr.
Das Material und das Thema sind jedoch so umfangreich,
dass das Ergebnis erwartungsweise eher die Gestalt eines Buches als nur
die eines Artikels haben würde. Darum stellt sich die Frage, ob nicht
trotz eines Nutzens solch einer Studie dieser nicht doch in einem
angesichts anderer wartender Lichtwort-Projekte unvertretbaren
Verhältnis zum Aufwand stünde. Und da es zudem fraglich ist, wie hoch
das Interesse der Leser an einer solchen „ehrenamtlichen“ Arbeit wäre,
muss sie sich wohl in der Prioritätenliste auf einen Platz verschieben,
der sich sicher nicht im Feld des oberen Drittels der Skala befindet.
Dies könnte sich ändern, wenn durch die Finanzierung dieser Unternehmung
soviel Kapazitäten freigeräumt werden könnten, dass sie schon jetzt in
Angriff genommen werden kann. Anregungen und Vorschläge hierzu sind
willkommen und können gerne per E-Mail (mail@lichtwort.de) eingereicht
werden.