Letzte Änderung: 05.07.2017 um 19:21:46 ● Erstveröffentlichung: 16.07.2012 ● Autor: Muħammad Ibn Maimoun
Erläuterungen: {erh.} = „Erhaben und herrlich gepriesen sei Gott“ / (s.) = „Segen und Friede sei mit dem Propheten“

Wie erreiche ich Demut im Gebet?

Da das Innere in der Religion Gottes die Grundlage des Äußeren ist, gehört es zu den wichtigsten Fragen, wie es sich erreichen lässt, in den Gebeten mit dem Herzen durchgängig dabei zu sein und mit den Gedanken nicht ins Weltliche abzuschweifen.

Hierfür gibt es verschiedene Methoden, die sich in der Praxis bewähren und mit dem Ehrwürdigen Koran und dem prophetischen Usus in Einklang stehen:

Allâhu akbar“ ernst meinen

Die Bedeutung der Formel „Allâhu akbar“ zu Beginn des Gebets sollte man sich besonders bewusstmachen und ernst meinen. Dies impliziert dann: Wenn „Gott größer“ bzw. wichtiger als alles Denkbare ist, dann ist alles außer Ihm Existierende verschwindend klein, einschließlich meiner selbst und meiner Problemchen. Der Geist hat dann erstmal keine Lust, an etwas Gebetsfremdes zu denken. Ideal wäre es, den gleichen inneren Vorgang bei jedem „Allâhu akbar“ zu wiederholen.

Es ist geradezu ein Schlüssel zur Erfüllung des Gefäßes der äußerlichen Gebetshandlungen mit Herz und Geist, wenn die betende Person mit jedem „Gott ist größer“, mit dem sie ihr Gebet in die nächste Haltungsphase überleitet, direkt ihre Seele anspricht, um diese daran zu erinnern: „Die Aufmerksamkeit und Verherrlichung, die dein Herr von dir verdient hat, ist größer“, d.h. größer als diejenige, die du Ihm  im bisherigen Verlauf des Gebets (und erst recht davor) gewidmet hast.

Loslassen und Vertrauen

Das gedankliche Abschweifen ist eigentlich nichts als ein unwillkürliches, verkrampftes Festhalten unserer Psyche an den vergänglichen Dingen des Persönlichen oder Weltlichen. Darum, statt sich mit einer gegengerichteten Verkrampfung zu konzentrieren: Man lasse im Gebet bewusst los - das betrifft sowohl die Gedanken, als auch nicht benötigte Muskeln des Körpers. Dies dürfte zur eigentlichen Bedeutung des arabischen Lexems khushû' gehören, wie er zu Beginn der Sure 23 (al-mu°minûn) verwendet wird und hier mit „Demut“ übersetzt ist:

Bereits Erfolg haben die Glaubenden ● Die in ihrem Gebet voll Demut sind (khâshi'ûn)

Das Wort „khushû'“ scheint den Zustand von etwas völlig Entspanntem und Regungslosem zu bezeichnen, wie seine Benutzung in Sure 41 (fuSSilat), Vers 39 nahelegt:

Und zu Seinen Zeichen gehört, dass du die Erde regungslos (khâshi'atan) siehst. Wenn wir aber Wasser auf sie herabsenden, rührt sie sich und wächst an

Damit dies besser funktioniert, hat dies als Voraussetzung die Erkenntnis des tief liegenden Grundes, warum Demut im Gebet entsteht oder nicht entsteht. Um diesen herauszufinden, stellen wir uns mal die Frage, was es für Gedanken sind, die uns aus dem Gebet „entführen“. Dann dürften wir darauf kommen, dass es sich dabei in der Regel um zwei Arten handelt: Gedanken, innerhalb derer wir irdische Probleme zu lösen versuchen und Gedanken, denen wir aufgrund des in ihnen liegenden Genusses nachhängen. Wenn wir aber so verbissen darin sind, unsere weltlichen Problemchen zu lösen, dass wir selbst im Gebet nicht davon ablassen, deutet dies darauf hin, dass unsere Überzeugung, dass alle Angelegenheiten allein in Gottes und nicht in unserer Hand liegen, nicht fest genug ist. Mit anderen Worten: Uns fehlt es an Gottvertrauen. Auch hinsichtlich des Genusses positiver Vorstellungen oder Erinnerungen lässt sich dies  feststellen: Das Gottvertrauen ist hier offenbar so gering, dass man fast meint, Gott würde einen irgendeinen bedeutenden Lustgewinn verlorengehen lassen, wenn man nicht weiter in jenen Gedanken schwelgt.

Demut im Gebet ist also eine Frucht, wenn nicht gar eine Form des Gottvertrauens: Vertrauen darauf, dass der Erbarmer die Lösung des irdischen Problems durch die innere entspannte Stille nicht in größere Ferne rücken wird, sondern sogar im Gegenteil näher werden lässt. Und Vertrauen darauf, dass Gott einen weit angenehmeren Ersatz anstelle des gebetsfremden Genusses gewähren wird, wenn wir auf den gebetsfremden Gedanken verzichten, und dass einem nichts an Genuss verloren geht, wenn man jene Gedanken loslässt, sondern man im Gegenteil noch mehr Wohlgefühl gewinnt - oftmals noch im selben Gebet, in welchem man sich mit diesem Gedanken innerlich hingibt.

Und wer auf Gott vertraut,
dem ist Er sein Genüge

Das Sehen Gottes

Die betende Person mache sich das Allsehen Gottes bewusst und denke permanent daran. Gott sieht in diesem Moment ihr Inneres und Äußeres gleichermaßen. Das erhöht die Herzensgegenwart des Betenden, sowie sie ebenfalls erhöht wird, wenn man mit einer erschaffenenen Person konfrontiert ist, die man wahrnimmt, und von der man weiß, dass sie einen wahrnimmt. Nicht umsonst erinnert Gott Seinen Gesandten im Koran1:

Und vertraue auf den Machtwürdevollen, den Barmherzigen ● Der dich sieht, wenn du (im Gebet) stehst ● Und dein Wechseln unter den Niederstirnenden

Ebenso antwortete der Gesandte Gottes auf die Frage, was iħsân2 sei: Dass du deinen Herrn anbetest, als ob du Ihn siehst. Auch wenn du Ihn nicht siehst, Er sieht dich.3

Bewusstmachen: Gott spricht

Während der Koranrezitation sollte die betende Person daran denken, dass die ganze Zeit Gott mit ihr spricht, denn es sind erstens Gottes Formulierungen, und zweitens wird die Stimme des Betenden und die Bewegungen seiner Zunge und Lippen während seiner Rezitation nicht von ihm selbst, sondern allein von Gott erschaffen, der ja alles erschaffen hat. Zwar sind diese Bewegungen und Töne nicht völlig willen- und mühelos - dann gäbe es ja keinen essentiellen Unterschied zum prophetischen Empfang einer Offenbarung - doch dieser kleine Aufwand ist nur der kleine Preis dafür, die Worte Gottes wahrnehmen zu dürfen, ohne diese wunderbare Sache verdient zu haben.

Das Gesagte gilt für die Rezitation nach der Fâtiħah-Sure. Die Fâtiħah-Sure selbst sollte so rezitiert werden, als seien es die eigenen Worte, die als Bittgebet an Gott gerichtet werden. Dies geht nicht nur aus dem Wortlaut dieser Sura hervor, sondern auch aus dem folgenden authentischen Hadith4:

قال أبو هريرة: سمعت رسول الله صلى الله عليه وسلم يقول: قال الله تعالى: قسمت الصلاة بيني وبين عبدي نصفين. ولعبدي ما سأل. فإذا قال العبد: الحمد لله رب العالمين، قال الله تعالى: حمدني عبدي. وإذا قال: الرحمن الرحيم، قال الله تعالى: أثنى علي عبدي. وإذا قال مالك يوم الدين قال: مجدني عبدي. فإذا قال: إياك نعبد وإياك نستعين قال: هذا بيني وبين عبدي ولعبدي ما سأل. فإذا قال: اهدنا الصراط المستقيم صراط الذين أنعمت عليهم غير المغضوب عليهم ولا الضالين، قال: هذا لعبدي ولعبدي ما سأل.
Abû Hurayrah berichtet, er habe den Gesandten Gottes gehört, wie er sagte: „Gott, hochgeheißen sei Er, sagte: ‚Ich habe das Gebet zwischen Mir und Meinem Knecht in zwei Hälften geteilt, und Meinem Knecht soll gehören, worum er bittet.’ Wenn der Knecht sagt: ‚Das Lob gehört Gott, dem Herrn der Welten’, sagt Gott, hochgeheißen sei Er: ‚Mein Knecht hat Mich gelobt.’ Und wenn er sagt: ‚Dem Barmherzigen Erbarmer’, sagt Gott, hochgeheißen sei Er: ‚Mein Knecht hat Mich gepriesen.’ Und wenn er sagt: ‚Dem König des Gerichtstags’, sagt Er: ‚Mein Knecht hat Mich gerühmt.’ Wenn er sagt: ‚Dich beten wir an, und Dich bitten wir um Hilfe’, sagt Er: ‚Dies ist zwischen Mir und Meinem Knecht, und Meinem Knecht soll gehören, worum er bittet.’ Wenn er dann sagt: ‚Leite uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Wohltat erwiesen hast, nicht derer, denen gezürnt wird, und auch nicht der Irregehenden’, sagt Er: Dies ist für Meinen Knecht, und Meinem Knecht soll gehören, worum er bittet.’“

Kein voreiliges Wechseln zum nächsten Gebetsschritt

Bevor man zum jeweils nächsten Gebetsschritt wechselt, z.B. vom Stand in die Verneigung oder vom Niederstirnen ins Sitzen usw., sollte man innerlich und äußerlich erst völlig zur Ruhe gekommen sein und sich erst bewusst machen, vor wem man den jeweils bevorstehenden Gebetsschritt zu vollziehen vorhat. So wies der Prophet einen Mann an, sein Gebet zu wiederholen, da er nicht wirklich gebetet habe. Er tat dies, doch dann erhielt er die gleiche Anweisung nochmal. Dies wiederholte sich solange, bis der Mann wissen wollte, was denn der Prophets unter einem „Gebet“ verstehe. Daraufhin erklärte er ihm, er solle die Gebetsschritte so umsetzen, dass er vor dem Wechsel in einen nächsten Schritt zur Ruhe kommt.

Frei gestaltbare Phasen nutzen

Das rituelle Gebet besteht nicht nur aus vorgegebenen Elementen, sondern auch aus Phasen, die man in einem gewissen Rahmen frei gestalten kann. Beispielsweise ist es empfohlen, im Zustand des Niederstirnens (sujûd) Bittgebete der eigenen Wahl zu sprechen5. Diese können auch in der Formulierung frei gestaltet werden, so Gott will auch in der individuellen Muttersprache. Dies trägt dazu bei, dass man sich automatisch auf das Gebet konzentriert.

Weitere mit Bittgebeten ausfüllbare Stellen sind auch diejenigen zwischen Gebetseröffnung und der Fâtiħah-Sure und vor der Abschlussbegrüßung (taslîm). Bekanntlich nutzte der Gesandte Gottes in seinem Gebet auch die Pausen zwischen einzelnen Koranversen für zum koranischen Inhalt passende Bittgebete, d.h. dass er bei der Erwähnung des Paradieses und seiner Bewohner um die Barmherzigkeit Gottes bat oder bei der Erwähnung der Pein und der Gepeinigten Zuflucht bei Gott suchte. Diese Haltung verhindert automatisch das gedankliche Abschweifen, da der Inhalt des auswendig Rezitierten permanent beachtet wird.

Gelassenheit statt Verbissenheit

Unvermittelte Einfälle, oder dass die Gedanken beim Gebet dann und wann etwas abschweifen, auch wenn es möglichst eine Seltenheit sein sollte, ist etwas Normales und Menschliches. Selbst über den Gesandten Gottes ist authentisch überliefert6, dass ihm während des Nachmittagsgebets plötzlich einfiel, dass er noch etwas Gold in der Wohnung hatte, das er auf keinen Fall ungespendet lassen wollte. Darum staunten seine Gefährten zunächst, als er nach dem Abschluss des Gemeinschaftsgebets in seine Wohnung hastete. Nach seiner Rückkehr klärte er sie über sein Verhalten auf.

Mit diesem Wissen lässt sich unnötiger Ärger vermeiden und ein gelassenerer Umgang mit dem Gebet erreichen, so dass das Gebet für die Psyche eine schöne Erfahrung bleibt, statt dass sie gegen dieses wegen des wiederholten (unnötigen) Ärgers vielleicht sogar eine Abneigung entwickelt.

Eher sollte man den Zustand der Demut als wertvolles Ziel ansehen, welches zu erreichen eine stets wiederkehrende edle Herausforderung und Teil einer steten, im Idealfall täglich zunehmenden persönlichen Entwicklung ist.

Zusatzgebete als Übungsfeld

In den verpflichtenden Hauptgebeten ist so mancher zu starr und besorgt, etwas falsch zu machen, als dass er sich problemlos hingeben könnte. Darum laute hier die Empfehlung, Zusatzgebete (nawâfil, sg. nâfilah) als Übungsfeld zu nutzen, sich darin ausgiebig Zeit zu lassen und für die Hingabe besonders tief zu entspannen, sowie die Gelegenheiten der freien Gestaltung zu nutzen. Je häufiger man dies so handhabt, desto leichter lässt sich die hiermit in den Zusatzgebeten entstehende besondere Mentalität in die Hauptgebete „mitnehmen“.

Dem Usus des Propheten, Friede sei mit ihm, entspricht diese Vorgehensweise insofern, als dass es tatsächlich sicher überliefert ist, dass er sich besonders in seinen nächtlichen Zusatzgebeten ein Vielfaches an Zeit ließ und sehr viel länger im Stehen, in der Verneigung und im Zustand des Niederstirnen verharrte als in den Pflichtgebeten. Dies hat natürlich als Nebeneffekt zur Folge, dass ein Pflichtgebet einem gar nicht mehr lang vorkommt, so dass eine weitere Ursache wegfällt, durch welche die demütige innere Hingabe verhindert wird. Denn die Vorstellung, ein langes Gebet vor sich zu haben, dessen Länge verpflichtend ist, führt zu Verkrampfung und zum Ausschweifen der Gedanken an Dinge, die erst nach dem Gebet kommen oder zumindest nichts mit ihm zu tun haben.



1 Sure 26 (as-shu'arâ°), Verse 217 bis 219
2 iħsân: Spirituelle Perfektionierung oder vortreffliches Handeln, der Gipfel der mit islâm und îmân beginnenden Dreistufigkeit
3 Saħîħ al-Bukhâriyy u.a.
4 Saħîħ Muslim, kitâbu s-Salâh, Nr. 395
5 Saħiħ-Werk Muslims, Hadith Nr. 479: Und was das Niederstirnen angeht, so strengt euch darin mit Bittgebeten an.
6 Saħiħ-Werk Bukhâriyys, Hadith Nr. 1163.