Letzte Änderung: 09.02.2024 um 09:30:06 ● Erstveröffentlichung: 16.07.2012 ● Autor: Muħammad Ibn Maimoun
Erläuterungen: {erh.} = „Erhaben und herrlich gepriesen sei Gott“ / (s.) = „Segen und Friede sei mit dem Propheten“
Die Unantastbarkeit muslimischen Lebens
Einer Person, welche die Religion der Ergebung (islâm) praktiziert,
das Leben zu rauben, und zwar wenn dies mit voller Absicht und zu Unrecht erfolgt, gehört zu den gewaltigsten überhaupt vorstellbaren Verfehlungen. Ist ihr wirklich - zumindest näherungsweise - die Negativstufe der Entkennung (kufr) zuzuordnen?
Grundlage
Der Ehrwürdige Koran:
Und wer einen Glaubenden vorsätzlich tötet, dessen Entgelt ist Gehenna,
ewig darin weilend, und Gott zürnt ihm und hat ihn verflucht und ihm gewaltige Peinigung vorbereitet.
(Sure 4:93)
Und die zusätzlich zu Gott keine andere Gottheit anrufen und nicht die
Seele töten, die Gott sakrosankt machte, außer mit Recht, und keine Unzucht begehen.
Und wer das tut, wird ein Verhängnis erleiden - die Peinigung am Tage der Auferstehung
wird ihm vervielfacht, und in Schande gestoßen wird er in ihr ewig verweilen
(Sure 25:68-69)
Lehre und Usus des Propheten:
- „
Einen Muslim
fortwährend1 zu beleidigen, ist Frevelei (fusûq), und ihn zur Tötung zu
bekämpfen (qitâl),
ist Entkennung
(kufr).
“
- „
Werdet nach mir nicht zu Entkennern, indem ihr einander die Hälse durchschlagt.
“
- Miqdâd b. 'Amr b. Aswad berichtet, er habe zum Propheten gesagt: „Gesandter Gottes!
Wenn ich (in der Schlacht) auf einen Entkennenden treffe und wir kämpfen, bis er meine Hand abschlägt,
dann aber hinter einem Baum vor mir Schutz sucht und sagt: ‚Ich ergebe mich Gott!’ Sollte ich ihn töten?“
„
Töte ihn nicht
“, sagte der Gesandte Gottes . Miqdâd sagte: „Gesandter Gottes!
Er hat mir eine meiner Hände abgehauen, und das erst danach gesagt! Sollte ich ihn töten?“
„Töte ihn nicht
“, sagte er. „Denn wenn du ihn tötest,
wird er deinen Rang haben, den du vor seiner
Tötung hattest, und du wirst seinen Rang haben, den er gehabt hatte, bevor er sein Wort aussprach,
das er aussprach.
“
- „
Wer gegen uns das Schwert zieht, gehört nicht zu uns.
“
- „
Jede Sünde wird Gott vielleicht verzeihen,
außer als Beigeseller (mushrik)
zu sterben oder einen Glaubenden vorsätzlich zu töten.
“
- „
Wenn zwei Muslime sich mit ihren Schwertern begegnen, befinden sich
Tötender und Getöteter im Feuer.
“ Ich (d.h. der Überlieferer, Abû Bakrah b. Ħârith) sagte:
„Der Tötende, ja, aber
wieso der Getötete?“ Er antwortete: „Er war ja darauf bedacht, seinen Gefährten zu töten.
“
- „
Der Glaubende befindet sich so lange in einem Freiraum seiner Religion,
wie er sich nicht mit sakrosanktem Blut befleckt.
“
- „
Bevor die Stunde einbricht, wird es Versuchungen wie die Stücke einer dunkler
werdenden Nacht geben, in welchen mancher morgens noch ein Glaubender ist, am Abend aber schon ein Entkennender,
und abends noch ein Glaubender, am nächsten Morgen aber schon ein Entkennender. Der in ihnen Sitzende ist
besser als der Stehende, und der in ihnen Gehende besser als der Eilende. Zerbrecht darum eure Bögen, zerschneidet
eure Bogensehnen und zerschlagt eure Schwerter auf Steinen. Falls dennoch (bei einem von euch) eingedrungen wird,
so sei er wie der bessere der beiden Söhne Adams.
“
- „
Es wird Versuchungen geben. Hört! Dann wird es eine Versuchung geben, in welcher
der in ihr Sitzende besser ist als der Gehende, und der Gehende in ihr besser als der zu ihr Eilende.
Hört! Wer, wenn sie eintrifft, Kamele besitzt, der soll zu seinen Kamelen gehen, und wer eine Schafherde
besitzt, soll zu seinen Schafen gehen, und wer Land besitzt, soll zu seinem Land gehen.
“
Ein Mann sagte: „Gesandter Gottes! Was, wenn er weder Schafe, noch Kamele, noch Land besitzt?“
„Dann soll er die Klinge seines Schwertes auf einem Stein zerschlagen,
dann rette er sich, wenn er sich retten kann. O Gott, habe ich es überbracht? O Gott,
habe ich es überbracht? O Gott, habe ich es überbracht?
“
Jemand sagte: „Gesandter Gottes! Was, wenn ich mit Zwang zu einer der Schlachtreihen geschleppt
werde und mich ein Mann mit seinem Schwert schlägt oder ein Pfeil kommt und mich tötet?“
Er antwortete: „Er wird seine und deine Sünde davontragen und zu den Gefährten des Feuers
gehören.
“
- „
Bald wird das beste Vermögen des Muslims eine Schafherde sein, mit der er
den Berggipfeln und Wasserstellen nachgeht, seine Religion vor den Versuchungen in Sicherheit bringend.
“
Warum keine niedrigere Stufe?
Alle Gelehrten des Islam sind sich einig, dass das Töten eines praktizierenden Muslims
zu den schlimmsten vorstellbaren Taten gehört.
Man könnte aber dennoch fragen: Geht die Einstufung als Entkennung nicht zu weit? Und man könnte hierbei
darauf hinweisen, dass die islamische Gelehrsamkeit größtenteils in den obigen Prophetenaussprüchen den
kufr nicht wörtlich interpretiert und seine wörtliche Interpretation
als sektiererische Tendenz nach der Art der Charidschiten (khawârij) ansieht.
Außerdem gibt es ja den Koranvers, der zwei einander bekämpfenden Gruppen durchaus nicht
allein deswegen den Glauben abspricht: Und wenn zwei Gruppen der Glaubenden
einander zur Tötung bekämpfen, so stiftet Frieden zwischen ihnen. Wenn eine der beiden gegen die andere dann
überbegehrt, dann bekämpft die, die überbegehrt, bis sie wieder zum Befehl Gottes Einkehr hält.
Hält sie dann Einkehr, so stiftet zwischen ihnen Frieden mit Gleichbehandlung und lasst
Gerechtigkeit walten. Gott liebt ja die, die Gerechtigkeit walten lassen.
Dazu lässt sich sagen:
- Auch eine formaljuristisch nicht exkommunizierend wirkende Entkennung ohne die in einem koranbasierten Gemeindesystem
weitreichenden weltlichen Folgen einer solchen (Auflösung der Ehe, Enterbung etc.) kann
dennoch so schwer wiegen, dass sie der exkommunizierend wirkenden Entkennung aufs Äußerste nahe kommt
(z.B. im Sinne einer weitgehenden Ungültigkeit der bisherigen Taten für das Jenseits bei weiterhin bestehender Gültigkeit für das Diesseits),
so dass eine Einordnung in die Negativstufe 7 insofern sinnvoll ist, als dass sich dies als „Aufrundung“ einer gedachten
Negativstufe „6,9“ o.ä. auffassen lässt.
- Außerhalb des Koranverses «a» gibt es im Ehrwürdigen Koran keine Stelle, die ein Verbot
von geringerem Gewicht als das Verbot der Entkennung mit einer derart schweren Androhung
und in dieser Weise bewehrt. (Koranvers «b» droht zwar ebenfalls mit der Verewigung in der
Peinigung, jedoch nicht eindeutig nur für Unzucht.)
- Wie kann jemand, der Koranvers «a» gelesen und verstanden hat, fähig sein, ihm bewusst zuwiderzuhandeln,
ohne dem Vers gegenüber entkennend zu sein?
- Die Abfolge in Koranvers «b» legt nahe, dass die unrechtmäßige Tötung einer Person schlimmer als eine
Großaufsässigkeit im gewöhnlichen Sinn (hier: Unzucht) ist, und somit mindestens eine Groß-Großaufsässigkeit.
Dabei bezieht sich der Vers auch auf nichtmuslimische Opfer. Wenn ihre Tötung eine Groß-Großaufsässigkeit ist,
was erst muss die Tötung eines praktizierenden Muslims wiegen?
- Die Prophetenaussage «a» stellt augenscheinlich eine Klimax zwischen der Erwähnung zweier Untaten
her, so dass die zweite Untat (Bekämpfung) als noch schlimmer aufgefasst werden soll als die erste
(Beschimpfung). Die Einordnung der Beschimpfung des Muslims als Frevelei (fusûq)
legt nahe, dass hier eine Großaufsässigkeit (Negativstufe 5) vorliegt, wie Imâm Ibn Ħajar von Askalon unter Bezugnahme
auf die Abfolge in Sure 49:7 in seinem Kommentar zu diesem Hadith feststellt2.
Dies wiederum legt nahe, dass selbst wenn es sich bei dem darin erwähnten kufr
nicht um denjenigen handelt, der im Koran hauptsächlich erwähnt wird, so aber dennoch mindestens (!)
um eine Groß-Großaufsässigkeit (Negativstufe 6). Nun ist das lediglich die Bekämpfung - für die direkte Tötung
bleibt somit nicht viel anderes als die siebte Negativstufe übrig (es sei denn, etwas ihr extrem Nahekommendes).
- Nawawiyy zählt acht verschiedene, das wörtliche Verständnis der Prophetenaussage «a» zu meiden versuchende
Interpretationen auf, Ibn Ħajar findet noch zwei weitere in den Kommentaren der Gelehrten; die Abwegigkeit
oder Umständlichkeit der meisten davon ist bei ihrer Betrachtung offensichtlich.
Die Vielzahl und Verschiedenheit der Lösungsvorschläge,
obwohl es sich um einen relativ einfachen, die einfache irdische Wirklichkeit der Menschen betreffenden Hadith handelt,
und nicht um einen mit Bezug zu transzendenten Realitäten, lässt ahnen, dass eine Revision der Ablehnung des
wörtlichen Verständnisses ratsam ist. Tatsächlich ist dieses Verständnis möglich, ohne der oben zitierten
Sure 49:9 zu widersprechen, indem
- zwischen weltlich-juristisch feststellbarer und nicht-feststellbarer Entkennung unterschieden wird;
der Mord an sich kann in der Theorie als Ausdrucksform der Entkennung angesehen und zugleich
unter Hinweis auf die zahlreichen Unsicherheiten
für die Praxis als Kriterium für die Feststellung des Vorliegens einer solchen abgelehnt werden.
- im Falle der einander bekämpfenden Parteien die Gruppendynamik berücksichtigt wird,
die es unmöglich macht, von außen zu beurteilen, inwiefern sich der einzelne Teilnehmer lediglich
eine aus seiner Sicht gerechte Sache oder sein eigenes und seiner Nahestehenden Leben zu
verteidigen gezwungen sah.
Bekanntlich kann ein „Überbegehren“ der Gruppe durch wenige anonyme Individuen ausgelöst werden,
worauf sich der Einzelne in einer unumkehrbaren Situation zu befinden glaubt.
- die Texte nur auf denjenigen Kämpfer oder Mörder bezogen werden, den diese Texte erreicht
haben, der sie verstanden hat und ihnen in dem betreffenden Augenblick bewusst zuwiderhandelt.
- Liest man die Prophetenaussagen «h» bis «j» gemeinsam, bemerkt man, dass sie wohl zusammenhängen,
so dass durch die Betrachtung von Prophetenaussage «j» zu ahnen ist, dass Verwicklungen in die Tötung von Muslimen
dazu führen können, dass man seine Religion bzw. seinen Status als Ergebener verliert.
- Die Koranverse und Hadithe, die allesamt in eine ähnliche Richtung zeigen, sind zu viele, als dass die Einordnung
in die Negativstufe 7 einfach von der Hand gewiesen werden oder die unwörtliche Interpretation jedes einzelnen
davon als realistisch angesehen werden könnte.
- Der argumentative Wert des Hinweises auf die Denkweise der Charidschiten (wobei wohl nicht einmal die eigentlichen Charidschiten gemeint sind, sondern nur Ibaditen u.ä.) ist allenfalls psychologischer Natur. Mit dem Hinweis ist wohl eine Stigmatisierung
der Meinung und der sie hegenden Diskussionsteilnehmer beabsichtigt, indem suggeriert wird,
sie sei ausschließlich sektiererischen Ursprungs und sei durch den Konsensus der Altvorderen (salaf) widerlegt.
Dazu lässt sich sagen:
- Charidschiten sahen den Begeher einer bloßen Großaufsässigkeit prinzipiell als Entkenner an, was
nicht damit gleichzusetzen ist, eine einzelne der mehreren, als bloße Großaufsässigkeiten
angesehene Taten als Entkennung einzustufen.
- Jede der Strömungen der Muslime, einschließlich
des heutigen Mainstreams, sieht die eine oder andere (Nicht-)Handlung als Entkennung an, welche die
andere Strömung als bloße Großaufsässigkeit ansieht. Dies gilt sogar für Richtungen innerhalb des
Mainstreams, z.B. bezüglich der Frage, ob das Praktizieren von Magie oder das Unterlassen des Gebets aus Faulheit eine Entkennung ist.
- Darüber
hinaus besteht das entscheidende Merkmal der Charidschiten nicht nur darin, dass sie die meisten
bloßen Großaufsässigkeiten als Entkennung ansahen, sondern auch, dass sie konkret Muslime der
Entkennung bezichtigten (takfîr), sobald sie glaubten, die jeweilige
Großaufsässigkeit bei einem von ihnen festgestellt zu haben. Wir jedoch kümmern uns hier um die
Einordnung von Handlungen, ohne zu behaupten, damit sei direkt das Einordnen von Menschen für Menschen
möglich.
- Die Prophetenaussage «a» gereicht den (ursprünglichen) Charidschiten, die bekannt für ihre Neigung zur Tötung von
Muslimen sind, eher zum Nachteil als zum Vorteil.
- Es lässt sich zeigen, dass unter Altvorderen und renommierten Gelehrten, die nicht für charidschitische Tendenzen bekannt sind,
im Wesentlichen der gleiche Standpunkt gehegt wurde (s. unten).
Renommierte Gelehrte und Altvordere mit ähnlichen Standpunkten
Abû Bakrah at-Thaqafiyy3 (gest. 52 n.H.), Ibn Abbâs4 (gest. 68 n.H.),
Abû Wâel al-Asadiyy5 (gest. 82 n.H.), Muħammad b. Ismâîl al-Bukhâriyy6 (194-256 n.H.), Ibn Jarîr at-Tabariyy7 (224-310 n.H.), Ibn Ħazm8 (384-456 n.H.),
Shafiitische Rechtsschule9