Sonntag, den 25. August 2013 (Letztes Update: Oktober 2015)
Offener Brief an die Koranverteiler

(Dieser Brief ist bewusst öffentlich, zumal die Hoffnung besteht, dass alle Muslime, die ähnliche Aktionen unternehmen oder vorhaben, davon profitieren können.)

Im Namen Gottes, des Barmherzigen Erbarmers.

Der Friede Gottes sei mit euch, geehrte Geschwister!

Mit diesem Schreiben möchte ich euch zu eurer Koranverteilungsaktion herzlich gratulieren. Damit füllt ihr eine wichtige, seit vielen Jahrzehnten bestehende Lücke in Deutschland.

Das Wort Gottes richtet sich zum großen, wenn nicht gar zum größten Teil an Nichtmuslime. Darum war es in den letzten 50 Jahren ein inakzeptabler Zustand, dass dieses Wort wie versteckt gehalten und nicht in ganz Deutschland verbreitet wurde. Darum vielen herzlichen Dank für eure Aktion! Möge es euch der Allerbarmer {erh.} reich vergüten...

Zugleich bitte ich um wichtige Optimierungen oder wenigstens diese ernsthaft in Betracht zu ziehen:

Ihr wisst sicher, dass der Ehrwürdige Koran nicht in der Suren-Reihenfolge der heutigen Koranexemplare herabgesandt wurde. Unsere Mutter Aishah (r) hat, wie im Saħîħ-Werk des Bukhariyy überliefert ist, auch die Weisheit genannt. Diese ist, dass den Menschen zuerst die Kernglaubensinhalte gelehrt und sie zunächst gründlich mit ihnen vertraut gemacht werden sollen, anstatt sie schon zu Beginn mit Details der Gesetzgebung zu konfrontieren, welche sie sich sofort abwenden lassen würden. Die heutige Reihenfolge mit ihrer bereits ziemlich zu Beginn erfolgenden Thematisierung von Eherecht, Scheidungsrecht, Pilgerfahrt, Militärrecht usw. ist somit zwar sehr gut für Muslime, besonders in einem islamischen Land - jedoch möglicherweise kontraproduktiv in der Ansprache von Nichtmuslimen im nicht-islamischen Land.

Tatsächlich: Versetzen wir uns in den unbedarften Nichtmuslim hinein, werden wir die hinteren, kurzen Suren geheimnisvoll, faszinierend und spannend finden - und genau dort häufen sich auch die wichtigsten Inhalte des Koran! Viele Nichtmuslime - auch Orientalisten - bestätigen diese besondere Wirkung der kürzeren Suren, und der große deutsche Dichter Friedrich Rückert war so hingerissen von ihnen, dass er sich bei seiner Übersetzung besonders auf die mekkanischen Suren konzentrierte. Vergessen wir nicht, dass die früher offenbarten Suren für die Vermittlung des Kerns der Glaubenslehre (€aqîdah) geeigneter sind und darum zuerst herabgesandt wurden.

Wird der Leser jedoch zuerst mit den Suren al-baqarah, âl €imraan, an-nisâ° usw. konfrontiert, ist er im vielleicht noch günstigsten Fall so gelangweilt, dass er das Lesen des restlichen Koran und somit seiner für ihn wichtigeren Teile auf unbestimmte Zeit aufschiebt und sich irgendwann gar nicht mehr dazu aufrafft. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) So verwundert es nicht, dass z.B. die 2009 in den Islam eingetretene Amal Hijabi vor ihrem Eintritt erst nach einem schlimmen Ereignis in ihrem privaten Umfeld sich dazu durchringen konnte, eine Koranübersetzung ganz durchzulesen, vorher jedoch nicht: „Mein Mann schenkte mir den Koran in der ungefähren deutschen Übersetzung. Ich hatte wirklich vor, ihn durchzulesen, aber was da stand, erreichte mich nicht, und so ließ ich es nach dem 3. ‚Kapitel’ bleiben.“ (hijabiblog.com) Oder dass Christine B., die heute zwar Gott sei Dank Muslima ist, jedoch zu Beginn nach anfänglichem Interesse am Islam vom Lesen der ersten Seiten einer Koranübersetzung eher entmutigt wurde: „[...] Also habe ich versucht, mich auf verschiedenen Islam-Seiten im Netz schlau zu machen, und natürlich haben mich die "Wunder des Koran" beeindruckt und neugierig gemacht. Und mich dazu bewogen, zu beginnen, im Internet eine Koranübersetzung zu lesen. Dies wiederum hat dann die entgegengesetzte Wirkung: Je länger ich lese, desto mehr sagt mein Kopf: nein, das ist nun wirklich nichts für dich. Soviel steht da von Krieg und Töten und von Pflichten und Verboten. Und wenn wenn ich dann noch in Islam-Foren lese, dass Musik hören Haram sein soll, und Hunde auch und weiss nicht was alles. Musik! Mit das Schönste und Beste, was die Menschheit je hervorgebracht hat.

Wie dramatisch es sich auswirken kann, den interessierten Nichtmuslim zuerst mit den kürzeren, frühen Suren bekannt zu machen, zeigt der Erlebnisbericht des berühmten und international bekannten deutschen Muslims Murad Wilfried Hofmann: „Und so bin ich damals 1961/62 dazu gekommen, mir den Koran anzuschaffen, denn ich sagte mir: I have to know how they ‚tick’; deshalb muss ich ihr Buch lesen, damit ich weiß, was mit ihnen los ist, und ich hab dann nie mehr aufgehört, den Koran zu lesen, bis zum heutigen Tag. Das ging auf diese schwierige Zeit zurück. Ich hab den Koran von hinten nach vorne gelesen und war begeistert von den kurzen Suren am Ende, weil die Offenbarung eine poetische Form hat. Es hat gleichzeitig mein ästhetisches Empfinden angesprochen, nicht nur mein religiöses; und so habe ich den Koran von hinten nach vorne gelesen und bin dabei vom Koran bekehrt worden, d.h. ich bin zu der Überzeugung gekommen: Das kann nicht von Menschen stammen! Zumal wir ja auch Hadithe haben und daher den Duktus der Sprache Muhammads kennen, denn der Duktus der Hadithe ist nicht der Duktus des Korans. Ich bin also vom Koran bekehrt worden, wenn man das so sagen darf.

Die deutsche Koranforscherin Prof. Dr. Angelika Neuwirth liefert eine Bestätigung, als sie in einem Interview gefragt wird, welchen Rat sie einem Menschen geben würde, der bisher keinen Zugang zur Religion des Islams hatte und sich den Koran zum ersten Mal durchlesen möchte: „Wenn man Muslim ist, tut man gut daran, einfach die Kommentare zu lesen [...] Wenn man Außenstehender ist, dann sollte man sich vielleicht damit begnügen, zunächst einmal den letzten Teil des Korans zu lesen, nach Möglichkeit auf Arabisch, wenn es geht, und dabei eine Koranrezitation zu hören. Dieses letzte Dreißigstel des Korans, das dschuz' 'amma, wie es im Arabischen heißt, ist ein sehr schöner Zugang. Wenn sich da in einem nichts öffnet, wird es auch nicht bei Sure Zwei nicht passieren (lacht). Ich würde unbedingt raten, sich Koranrezitation dazu zu gönnen.“ (Aus einem Interview, erschienen im Online-Magazin „Das Milieu“, veröffentlicht am 15. November 2013.) Dies bestätigt auch Prof. Dr. Hans Zirker im Vorwort seiner Koranübersetzung: Den mit seiner Lektüre noch nicht vertrauten Lesern sei allerdings empfohlen, sich nicht von der jetzigen Reihenfolge der Suren leiten zu lassen. Der Zugang fälllt leichter, wenn man sich zunächst den früheren und kürzeren zuwendet, die bei der redaktionellen Zusammenstellung des Koran ihren Platz gegen das Ende hin bekommen haben.

So sei aus diesen Gründen die dringende Empfehlung an euch gerichtet, statt einer kompletten Übersetzung lediglich eine kleine Auswahl der Koransuren kostenlos zu verteilen und die Komplettversion zum ausschließlichen Kauf anzubieten oder zumindest - wenn kostenlos - nur auf besonderen Wunsch. Dies würde viel Druckkosten sparen und der im Buche Gottes verbotenen Verschwendung vorbeugen. Mit dieser Absicht wurde auch die Lichtwort-Veröffentlichung „Koran. Der Beginn eines besonderen Weges“ zusammengestellt.

Eine weitere wichtige Optimierung wäre die folgende... Eure Übersetzung (von Ibn Rassoul) hat klugerweise fast alle Prophetennamen eingedeutscht („Moses“ statt „Musa“, „Jesus“ statt „Isa“). Dies ist sehr gut und sollte so beibehalten werden. Denn es vermeidet Verwirrung und sorgt in den Herzen der Deutschen für das hochwichtige Gefühl der Vertrautheit. Traurigerweise fehlt diese weise Vorgehensweise in der Übersetzung Ibn Rassouls jedoch bei einem viel wichtigeren Namen: Beim Namen Gottes.

Dem gefährlichen Eindruck, Allâh {erh.} sei lediglich eine „arabische“ Götterfigur oder nur der Gott der Araber, muss unbedingt entgegengewirkt werden. Der konsequente Einsatz der Übersetzung „Gott“ würde dies sehr erleichtern. Immerhin ist „Gott“ die exakte Übersetzung für allâh, welches bekanntlich eine Variante von °ilâh" ist, wie genügend islamische Gelehrte bestätigen.

Es darf auch nicht sein, dass wir dem Einheimischen vermitteln, „Allâh“ verlange dieses oder jenes von ihnen, worauf der Einzelne jederzeit entgegnen könnte: „Schön. Gott verlangt dies aber nicht.“ Es muss immer klar sein, dass Allâh Gott ist und Gott Allâh. Damit dies auch durchgehend im Bewusstsein verbleibt, genügt auf keinen Fall ein bloßer Hinweis am Anfang des Buches, sondern allein eine konsequente Übersetzung des Wortes von der ersten bis zur letzten Seite.

Falsche Definitionen des Begriffs „Gott“ vonseiten mancher christlicher Theologen spielen hier keine Rolle, da der Gottesbegriff der Allgemeinheit dem islamischen Gottesbegriff im Wesentlichen entspricht. Ganz abgesehen davon wird ja durch die Lektüre des Koran der Inhalt des Gottesbegriffs korrigiert. - Es sollte auch nicht vergessen werden, dass falsche Definitionen des Begriffs „Allâh“ auch schon vor und zur Zeit der Offenbarung des Koran bei den Arabern existierten, von denen ein Teil Allâh als gebärendes oder zeugendes Wesen verstand. Dies hielt den Koran nicht davon ab, den Schöpfer „Allâh“ zu nennen.

Und vor dem Hintergrund, dass in dem Wort allâh das durchaus übersetzbare °ilâh steckt, greift es auch ins Leere, wenn manchmal darauf gepocht wird, man dürfe einen Namen, den Sich der Herr {erh.} gegeben hat, nicht antasten. Schließlich hat Sich der Schöpfer auch ar-raħmân genannt, und nichts an dieser Tatsache verhindert die Übersetzung dieses Namens.

Zu guter Letzt möchte ich sagen: Mit eurer Verteilungsaktion hat euch der Allweise {erh.} zu einer hervorragenden Idee und ihrer Umsetzung rechtgeleitet. Ihr habt euch damit zum Lobe Gottes als mit Vernunft gesegnete Menschen erwiesen und wandelt in den Fußstapfen der Propheten. Darum gibt es - auch bezüglich der genannten Vorschläge - keinen Zweifel, dass ihr auf ständige Verbesserung und Perfektionierung bedacht seid, so dass sich das Licht Gottes in optimaler Weise verbreitet. Möge der Herr {erh.} euch segnen!

Euer Bruder
Muħammad Ibn Maimoun