Samstag, den 17. Oktober 2015 (abgesehen von späteren Updates)
Wer steckt hinter dem IS?

Eins vorweg: Die obige Frage, nämlich wer hinter dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS bzw. ISIS) in Irak und Syrien steckt, beantwortet dieser Artikel nicht. Bei einer aufmerksamen Betrachtung des Phänomens sammeln sich jedoch so viele Auffälligkeiten, Ungereimtheiten und Fragezeichen an, dass die Frage umso berechtigter erscheint, je länger und genauer diese Betrachtung vorgenommen wird.

Hier soll keine blinde Verschwörungstheorie zusammengezimmert, sondern zunächst lediglich eine begründete Anregung angeboten werden, die derzeitigen Ereignisse abseits der Kategorien des reflexartigen, beschuldigenden Fingerzeigs auf den Islam zu denken, derjenigen Religion, deren Fundamente der Weisheit und universalen Barmherzigkeit diametral im Widerspruch zu dem stehen, wofür ISIS momentan (zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung) steht. Denn diese Schuldzuweisung selbst ist nicht viel mehr als die Implikation einer alten Verschwörungstheorie, derzufolge der Islam der Inbegriff des Bösen sei und von der ISIS-Organisation lediglich ausnahmsweise korrekt umgesetzt werde.

Ist ISIS ein Produkt der USA und ihrer Verbündeten? Sicherlich nicht im naiven Sinne. Allseits bekannt ist allerdings, dass es schon immer zur Politik der USA gehörte, gewisse Entwicklungen im Ausland, bishin zu Militärputschen und Revolutionen, gezielt zu fördern. Das ist bekanntlich keine Verschwörungstheorie, sondern schlichtes Allgemeinwissen. Man erinnere sich nur an die anti-demokratischen US-Interventionen in Chile oder im vorrevolutionären Iran und viele andere Beispiele. Dies allein ist schon Grund genug, zumindest zu untersuchen, ob das alte Mittel des Kaufs extremistischer oder einflussreicher Schlüsselpersonen (oft auf beiden von zwei verfeindeten Parteien gleichermaßen) zur Steuerung einer politisch-militärischen Entwicklung auch hier zum Einsatz gekommen ist.

Eine solche Untersuchung macht allerdings nur Sinn, wenn die Schlüsselfrage „Cui bono?“ plausible und realistische Antworten bekommt. Also: Was hätten die USA und ihre Verbündeten von all dem, was da gerade geschieht? Darauf gibt es mehrere Antwortmöglichkeiten, und allesamt liegen sie extrem nahe:

  • Wirtschaftliche Vorteile:

    Wenn eine Ankurbelung der heimischen Rüstungsindustrie beabsichtigt gewesen sein sollte, so ist diese schon jetzt erfolgreich. Dazu hier: ein interessanter FAZ-Artikel.
  • Abschreckung vom Islam:

    Allein in Großbritannien traten in den Jahren zuvor Statistiken zufolge jährlich Zehntausende neu in den Islam ein. Aus ihrer Sorge - vielleicht auch Ohnmacht - angesichts dieser Entwicklung machten viele westliche Politiker keinen Hehl. Nun jedoch gibt es mit dem IS die abschreckendste Form der angeblichen Umsetzung islamischer Gesetze, die je zuvor dagewesen war.
  • Verhinderung der Entstehung eines originalen islamischen Staates:

    In vielen Muslimen, die jahrzehntelang unter pseudo-islamischen Regimen und säkularen Diktaturen litten, besteht oder bestand zumindest der starke Wunsch nach der Entstehung dessen, was die Westmächte seit dem Fall des Osmanischen Reiches trotz ununterbrochener Versuche vonseiten tausender Bewegungen und Gruppierungen erfolgreich verhindern: die Entstehung eines allgemein als original anerkannten islamischen Staates, mit Vorstellungen, dieser werde endlich Frieden, Menschlichkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und eine florierende Wirtschaft mit sich bringen.

    • Das unmenschliche Gebahren des IS-Gebildes ist bestens geeignet, eine große „Ernüchterung“ zu bewirken und die in diese Richtung gehende Motivation zur Herbeiführung eines islamischen Staates geradezu zu vernichten.
    • Auch wen die Brutalität des IS und seine unislamischen Vorgehensweisen nicht kümmern oder wer sie ignoriert: Wenn es scheinbar bereits einen islamischen Staat gibt, braucht er sich nicht um die Entstehung eines zweiten zu bemühen.

  • Verhinderung der Wiederkehr des Kalifats:

    Das Kalifat ist/war der große Traum der meisten Muslime, sogar einiger säkularer Muslime. Dieses wurde nun vom IS - im Widerspruch zu den bekannten islamrechtlichen Voraussetzungen hierfür - ausgerufen. Seine Propaganda kann somit, auch wenn es islamrechtlich nur ein Pseudo-Kalifat ist, die Tatsache ausnutzen, dass es als authentisch geltende Hadithe gibt, welche die Aufstellung eines Konkurrenzkalifen schärfstens verbieten.
  • Weitere Schwächung der islamischen Weltgemeinde durch tiefere Zersplitterung

    und Förderung des innerislamischen Blutvergießens („Divide and Conquer“): Der IS propagiert einen ins Extreme pervertierten Sunnismus und Anti-Schiismus und geht gewaltsam gegen andere islamische Subkonfessionen vor, welche sich ebenso gewaltsam gegen ihn wehren und seinetwegen ihre Rache oft gegen Sunniten allgemein richten. Der zu erwartende Missbrauch von Hadithen, welche die Tötung von Führern, die mit einem bereits gewählten Kalifen nach seiner Wahl konkurrieren, anordnen, würde sein Übriges zum Blutvergießen von Muslimen untereinander beitragen.
  • Radikalisierung der muslimischen Jugend

     zur Herbeiführung von Konflikten innerhalb islamischer Gesellschaften, um diese zu schwächen und zu destabilisieren, sowie um die Toleranzschwelle gegen über Islam und Muslimen in europäischen und anderen Gastgeberländern zu senken. Das mediale Erlebnis des Aufstiegs des IS lässt bereits jetzt zehntausende naive junge Muslime mit dem IS sympathisieren und sich ihm teilweise anschließen.
  • Erleichterung von Tötungen

     und militärischen Überfällen außerhalb der USA im Hinblick auf die eventuelle Kritik vonseiten der Öffentlichkeit. In Zeiten der Ausbreitung des „puren Bösen“ werden Aggressionskriege von der Öffentlichkeit eher begrüßt als kritisiert.
  • Dezimierung der religiösen muslimischen Jugend, die sich angelockt von dem vermeintlichen Siegeszug als Kanonenfutter hergibt. Augenzeugenberichte bestärken diese Vermutung.
  • Ablenkung der Bürger von der bis heute nicht überstandenen existentiellen Krise des westmodernistischen Finanzkapitalismus, dessen Akteure systembedingt, aber auch mit ihren Machenschaften die Welt 2007/2008 an den Rand des Abgrunds brachten. Langfristig wäre die Krise ohne die psychologische und mediale Ablenkung durch die im Vergleich dazu lächerliche Terrorbedrohung geeignet, in den Köpfen der westlichen Bevölkerung die Fundamente der gesamten westlichen Zivilisation in Frage zu stellen.

Verdächtige Fakten

Nun zu dem, was dafür spricht, dass die USA, falls sie ISIS nicht aktiv fördern oder gar steuern, dennoch zumindest den Vormarsch von ISIS und seine Etablierung bewusst und insgeheim begrüßend zulassen:

  • Es ist politikwissenschaftlich bzw. für den Historiker eine nahezu triviale Feststellung, dass die USA zur Absicherung ihrer bedrohten Vormachtstellung (in gewisser Weise gar des Überlebens in der bisherigen Form) den Irak im Jahre 2003 unter einem falschen Vorwand angriffen, um sich dringend benötigte Ölreserven zu sichern. Dies und außerdem der ungeheure Aufwand, der hierfür und für den Umsturz in Libyen durch die Nato-Streitkräfte betrieben wurde, stehen in diametralem Kontrast zu der relativen Gleichgültigkeit und den geringen Maßnahmen, mit welchen dem Walten des IS in den beiden und anderen Ländern zugesehen wird.
  • Monate-, wenn nicht gar jahrelang (erste Hälfte des Jahres 2014 und früher) schauten die USA dem IS-Vormarsch scheinbar tatenlos zu, einer Spekulation zufolge „um den irakischen Ministerpräsidenten Maliki gefügig zu machen“ (FAZ). Verstörend ist auch, dass sie und andere Westmächte sogar nach der Ausrufung des „Kalifats“ noch eine zeitlang schwiegen. Auch die „Zeit“ stellte dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das in Syrien unterwegs ist, die Frage: „Als der IS große Gebiete eroberte und im öffentlichen Bewusstsein des Westens auftauchte, entstand die Frage: Wie konnten denn die Geheimdienste das nicht wissen?“ Seine vielsagende Antwort: „Es ist nicht so, dass wir in den letzten Jahren nicht darauf aufmerksam gemacht hätten, wie wir die politische Lage in bestimmten Orten einschätzen. Die Frage ist, ob das politisch opportunes Wissen ist oder nicht.“
  • Angesichts der nicht erst seit der ungeheuerlichen Kette von NSA-Skandalen zum Allgemeinwissen gehörenden Tatsache, dass die US-Geheimdienste die informationsgierigsten Institutionen der Welt darstellen und die totale informationelle Kontrolle über den gesamten Erdball anstreben, lässt sich ihre schon skurril anmutende Behauptung, sie hätten von der ISIS-Offensive im Juni 2014, die innerhalb weniger Tage zur Vervielfachung des ISIS-Territoriums führte, nichts geahnt, nur als Lüge klassifizieren. Lügen sind für Geheimdienste zunächst einmal nichts Verwunderliches und sind ein normaler Bestandteil ihrer „Arbeit“. Doch eine solche Lüge, die ein im Normalfall als blamabel einzustufendes Versagen auf dem höchsteigenen und wichtigsten Gebiet von Geheimdiensten behauptet, ist ein Indiz dafür, dass der ISIS-Vormarsch bewusst zugelassen, wenn nicht gar gefördert wurde.
  • Auch im Mai 2015 ans Licht gekommene Geheimdokumente scheinen genau die vorangegangenen Punkte zu belegen.
  • Das hochgerüstete Land Irak unter Saddam Hussein eroberten die USA 2003 innerhalb von drei Wochen. Der Irak verfügte über unzählige Panzer, Jagdflugzeuge, Flugabwehr und eine ausgebildete Armee. Für die Besiegung eines Staates, dessen Armee hauptsächlich mit Toyota-Geländewagen unterwegs ist und zum Großteil aus unerfahrenen Jugendlichen besteht, wollen die USA aber mehrere Jahre benötigen? Und die Befreiung einer einzigen syrisch-kurdischen Stadt (Kobane) benötigt ein Vielfaches der Eroberung des ganzen Irak?
  • Nach einem Augenzeugenbericht, platzierten die US-Alliierten ihre Kobane-Luftschläge so, dass die IS-Kämpfer nicht abgewehrt, sondern im Gegenteil auf die Stadt zugetrieben wurden.
  • Der Einsatz von Drohnen zur Vernichtung von anti-amerikanischen Rebellen erweist sich im Vergleich zu ihrem Einsatz in Pakistan und Afghanistan als bemerkenswert spärlich. (Nichtsdestotrotz ist nicht auszuschließen, dass derartige Angriffe auf den IS zu einem späteren Zeitpunkt erhöht werden, um den Eindruck zu erwecken, man sehe den IS als ein ähnliches Problem an wie die Rebellen in anderen Ländern.)
  • In Afghanistan versuchen die Taliban nun seit über 10 Jahren verbissen, die Herrschaft wieder zurückzugewinnen, und schaffen dies trotz jahrzehntelanger Kampferfahrung, zehntausender Mitglieder und Rückhalt in der Bevölkerung nicht, und im Irak kommen ein paar Tausend dem Elternhaus entlaufener Jugendlicher aus Ost und West angeflogen und räumen innerhalb von ein paar Wochen gegen eine hochausgerüstete Armee auf, während sie gleichzeitig gegen mehrere andere Armeen (Staatliche Armee, Syrische freie Armee, Hizbollah, El Kaida etc.) in Syrien kämpfen?
  • Zunächst „nahezu alle Anführer des IS waren Insassen von US-Haftanstalten.“
  • Während der erst nach sehr langem Zögern gestarteten militärischen Offensive gegen den IS wurden von der US-Luftwaffe auch syrische Rebellen angegriffen, die zu den effektivsten Gegnern des IS gehören.
  • Bemerkenswert spät kam die US-Koalition mit Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern zustande, die mit Kampfjets gegen den IS vorgehen sollte. Als mehrere Monate danach, im März 2015, arabische Länder in einen anderen Konflikt eingriffen, nämlich gegen die tendenziell schiitische Huthi-Miliz im Jemen, werden unter der Führung des US-Verbündeten Saudi-Arabien laut den Angaben 185 Kampfjets entsendet, ein Vielfaches dessen, was gegen den IS im Einsatz war.
  • Gerade die Mitglieder der US-geführten Koalition scheinen besonders wenig dagegen zu tun, dass ausgerechnet aus ihren Ländern viele IS-Sympathisanten ausreisen, um am Kriegsgeschehen teilzunehmen, und noch im Juni des Jahres 2015 erhält die irakische Armee kaum Waffenunterstützung, wie sich der irakische Ministerpräsident beschwerte.
  • Gegen die zum großen Teil barfüßigen Huthi-Rebellen im Jemen beteiligen sich laut den saudischen Angaben zwei Drittel der saudi-arabischen Soldaten. Spiegel-Online-Autor Christoph Sydow ist über diese Angaben verwundert: „... eine solch massive Truppenverlegung würde bedeuten, dass die Armee andere Konfliktzonen entblößt - etwa die Grenze zum Bürgerkriegsland Irak, in dem der "Islamische Staat" (IS) große Teile kontrolliert.“
  • Warum posaunt der einflussreiche libanesische Politiker Saad Hariri in einer öffentlichen Pressekonferenz am 06. August 2014 in alle Welt die im Normalfall sensible Information hinaus, der damalige US-verbündete saudische König habe Libanon angeblich nun eine Milliarde (!) Dollar geschenkt (!), um ISIS zu bekämpfen? Und ist es nicht merkwürdig, wie er die Nachricht in die Länge zieht, um sie theatralisch mit den Worten zu beenden: „Und der Betrag ist nun angekommen“? Und das, nachdem es in der selben Rede zunächst nur darum geht, der König habe ihm mitgeteilt, angeordnet zu haben, eine derartige Hilfe zu leisten? Plötzlich weiß Hariri am Ende der Rede, der Betrag sei angekommen?
  • Die Kurden sind die wichtigsten Alliierten im sogenannten Kampf gegen den IS. Dennoch billigen die USA im Juli 2015 Bombenangriffe der Türkei auf kurdische Stellungen.
  • Unter den Nicht-Alliierten sind immerhin die Al-Qaida-nahen Rebellen in Syrien ein schlagkräftiger Gegner des IS. Doch statt diese einigermaßen gewähren zu lassen und sich auf die Bekämpfung des IS zu konzentrieren, bombardieren die USA jene Rebellen gezielt.
  • Was immer man von Putin und seiner Politik halten mag - völlig zu Recht stellte er im September 2015 die Frage, wo denn im Falle des IS die üblicherweise von den USA forcierten Sanktionen gegen die Ölkunden von „Schurkenstaaten“ oder Verbrecherorganisationen bleiben. Mehr noch: Völlig unwidersprochen sagte er, US-Alliierte seien Ölkunden des IS.
  • Im Oktober 2015 entscheidet sich die US-Regierung, aufgrund der Bedrohung durch die Taliban 5.500 US-Bodensoldaten in Afghanistan weiterhin zu stationieren. Das Verblüffende ist, dass Bodentruppen den Irak betreffend in diesem Ausmaß seit Jahren für die USA nicht in Frage kommen, obwohl der Vormarsch des IS weit deutlicher war als derjenige der Taliban. Erledigt im Irak am Boden der IS selbst bereits die Arbeit für die USA?
  • Wie belanglos ist das Detail wirklich, dass der IS-Kalif Al-Baghdadi beim öffentlichen Predigen einen desinteressierten bis emotionslosen Gesichtsausdruck an den Tag legt und auch sonst seine Audiobotschaften von einem auffallend monotonen und gelangweilten Tonfall geprägt sind? Ist es Zufall, dass dies an die Haltung einer Person erinnert, die lediglich einen Job hinter sich bringen möchte?
  • Warum sieht die ISIS-Flagge nicht so aus wie üblicherweise die Flagge mit dem Glaubensbekenntnis bei Hunderten anderen islamischen Organisationen und Staaten, sondern eher nach dem Teil einer geschickten kommunikationspsychologischen Markenbildungsstrategie westlichen Zuschnitts?
  • Es ist in höchstem Maße irritierend, dass die führenden Westmächte erst nach den Pariser Anschlägen vom November 2015 gemeinsam überlegen (!), die Finanzströme des IS versiegen zu lassen. Jahrelang galt er als das gefährlichste und bösartigste Phänomen aller Zeiten, durfte aber gleichzeitig auf finanzieller Ebene global schalten und walten, wie es ihm beliebte?
  • Der IS strebt offen die Weltherrschaft an, also auch die Herrschaft über Saudi-Arabien, zumal er explizit allen arabischen Regierungen die Anerkennung verweigert. Oft gibt er sich gegen die saudische Monarchie hasserfüllt. Warum schwieg dann der oberste Fatwa-Rat Saudi-Arabiens zu den Machenschaften des IS und der islamrechtlich hochsensiblen Ausrufung des angeblichen Kalifats? Ist er nicht sonst immer bereit, die Legitimation der saudischen Regierung religiös mit Fatwas zu untermauern? Ist es wichtiger, das 374. lächerliche Argument zusammenzuzimmern, warum Frauen das Autofahren weiterhin verboten bleiben müsse, als Massen verblendeter Jugendlicher vor dem Abgleiten in den Terror zu bewahren?
  • Wie schon weiter oben andeutungsweise der Eindruck entstand, betrachtet die mit den USA verbündete saudische Regierung den „Siegeszug“ des IS möglicherweise mit mehr Wohlwollen, als sie zugeben möchte. Immerhin steht der IS genau wie Saudi-Arabien in der extrem strengen religiösen Tradition von M. Ibn Abdulwahhâb, und wie den Saudis ist auch dem IS fast alles willkommen, was die schiitische Vorherrschaft eindämmen könnte (Iran und der irakische Präsident Maliki). Für die USA wiederum könnte ISIS ein Glücksfall sein, denn mit Anhängern von M. Ibn Abdulwahhâb in jener Region haben sie und ihre Vorgänger-Weltmacht Britannien in der Geschichte sehr „gute“ Erfahrungen gemacht - wirtschaftlich und geopolitisch betrachtet jedenfalls, und das ist ja das, was für sie zählt. Bekanntlich instrumentalisierte der US-Vorgänger Britannien die damals ebenfalls nicht zimperliche Strömung auf der arabischen Halbinsel zur Destabilisierung des damaligen Osmanischen Kalifats, installierte dort dann die saudi-arabische Monarchie und gewann damit für sich und später für die USA einen wichtigen wie willigen Verbündeten in der Region. Genau das brauchen die USA nun im Irak, angesichts der mit Besorgnis beobachteten Ausweitung des iranischen Einflusses auf den Irak mit seiner schiitischen Maliki-Regierung.

Die Liste verdachterregender Fakten ist sicher noch lange nicht zu Ende...

Eine von Westmächten induzierte Ausrufung des „Kalifats“ wäre jedenfalls ein geschickter Schachzug, da zum einen so die Spaltung unter den Muslimen verschärft wird und zum anderen eine für die Fernsteuerung arabischer Staaten wichtige Quasi-Monarchie errichtet wird. Die Karte der traditionellen Monarchie ist dagegen verspielt, sie ist auch den religiösen Extremisten u.a. aufgrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ein Graus, nicht umsonst fielen die meisten im arabischen Raum installierten Monarchien im 20. Jahrhundert irgendwann wie Dominosteine und wurden durch präsidiale Diktaturen ersetzt. Für die Karte der präsidialen Diktatur gilt vor dem Hintergrund der arabischen Revolutionen dasselbe, ganz zu schweigen davon, dass ein solches modernes „Teufelszeug“ sich niemals mit den Vorstellungen der jungen ISIS-Anhänger decken würde, und selbst ihr unwissendes „Kanonenfutter“, ganz zu schweigen von ihren Ideologen, haben nunmal aufgrund der heutigen allgemeinen höheren Bildung ein etwas sensibleres politisches Bewusstsein als ihre historischen Vorgänger der Arabischen Halbinsel. Und da eine Wiederholung der Entsendung eines „Lawrence von Arabien“, um die Feldzüge anzuführen, zu auffällige Parallelen aufweisen würde, was würde sich da besser eignen als die Beauftragung eines arabischen oder wenigstens arabisch aussehenden und sprechenden Verbindungsmannes als Anführer und Kalifen in einem?

Vor diesem Hintergrund wären die US-Angriffe auf die IS-Gebiete als Makulatur und allenfalls als eine besondere Form der Grenzfestlegung für das Gebiet des erhofften Verbündeten zu bewerten. Man vergleiche nur, wie häufig nach den 9/11-Anschlägen in Bezug auf Al-Qaida Worte wie „vernichten“ oder „ausräuchern“ etc. seitens der US-Regierung fielen, und wie häufig in Bezug auf den IS bisher hingegen vom „Eindämmen“ die Rede ist.

Doch soviel derzeit auch für diese Interpretationsmöglichkeit sprechen mag - ob sie wirklich zutrifft oder nicht, müssen die nächsten 50 (wenn nicht mehr) Jahre zeigen, denn dass derartige politische Strategien solche langen Zeiträume benötigen, zeigt ja die Entstehungsgeschichte Saudi-Arabiens.

Es gibt aber auch Hinweise, dass der IS eine anfänglich marginale Truppe war, die nur deswegen zu diesem großen Ungeheuer werden konnte, weil er gleich von mehreren verschiedenen Parteien unabhängig voneinander aus strategischen Gründen genährt wurde, ohne dass sie sich bewusst waren, dass die jeweils anderen dieselbe Taktik verfolgten. Bei diesen Parteien handelt es sich um: Die syrische Assad-Regierung (um die Rebellen zu schwächen und ihre Verschwörungstheorie von der islamistischen Gefahr zu belegen), die Türkei (um Assad zu schwächen), Russland (um Assad zu stützen) und möglicherweise auch Iran (um Assad zu stützen). Bei den Hinweisen handelt es sich um die folgenden:

  • Nach außen hin tritt der IS zwar als Assad-Opponent auf, doch berichtet mittlerweile nicht nur der Rest der Opposition, dass sich die beiden merkwürdigerweise weitgehend gegenseitig in Ruhe lassen, um beide gegen die Opposition vorzugehen, sondern auch von ihr unabhängige Quellen.
  • Russland griff im Herbst 2015 in den syrischen Bürgerkrieg militärisch ein und rechtfertigte dies mit der Bekämpfung des IS. Doch es stellte sich von Beginn an heraus, dass das Land es auf die Bekämpfung der anderen Rebellen abgesehen hatte.
  • Die Türkei war jahrelang ein Transitland für ausländische Jugendliche, die sich dem IS anschließen wollten, IS-Verwundete wurden in die Türkei gebracht, um dort in Ruhe in türkischen Krankenhäusern behandelt zu werden.