Letzte Änderung: 22.01.2024 um 11:11:38 ● Erstveröffentlichung: 14.05.2018 ● Autor: Muħammad Ibn Maimoun
Erläuterungen: {erh.} = „Erhaben und herrlich gepriesen sei Gott“ / (s.) = „Segen und Friede sei mit dem Propheten“

Um das wahrhaft Würdige

Keine der Komponenten des Urteilsvermögens ist so tief in die menschliche Intuition eingebettet wie die ethische. Und dennoch - oder gerade deswegen - gestaltet es sich bei keiner anderen Vernunftkomponente so diffizil, den Grundriss ihrer Idealform analytisch zu erschließen.

Zur Spekulation über den Grund hierfür kommt so einiges in Betracht. In der Präsentation der Logik und der Empirik werden theoretische Konzepte mit deskriptiven Mitteln analysiert - es sollte nicht wundern, wenn praxisbezogene Konzepte mit denselben Mitteln zu analysieren Umstände bereitet. Darüber hinaus ist Ethik der innerste Schlachtplatz wohl aller ideologischen Kämpfe und somit ein Hort zahlreicher Begriffsverwirrungen, welche zunächst einiger Klärung bedürfen. Der Hauptgrund aber dürfte schon in der Natur der Ethik liegen: Handeln ist ohne die Wahrnehmung der empirischen Realität und ein Mindestmaß an Wissen um sie nicht möglich. Wenn sich aber schon Empirik alleine, mit ihrem Geflecht an einander teils aufhebenden, teils relativierenden Sätzen unterschiedlicher Sicherheitsgrade als recht komplex zu beschreibende Angelegenheit darstellt, wie sehr muss dies erst für eine Urteilskomponente wie die der Ethik gelten, die sich zwar nicht aus einem empirischen Urgrund ableitet (bzw. ableiten darf), ihr aber dennoch eine weitgehend unablässige wechselseitige Beziehung mit der Empirik immanent ist? ... ganz zu schweigen vom Ineinandergreifen von Ethik und Psychologie und der hiermit einhergehenden Schwierigkeit, die beiden bzw. ethische und psychische Gründe zu differenzieren.

Darum erschien es ratsam, mit der vorliegenden Schrift eine Art organisch wachsendes kontemplatives Repositorium für die Behandlung der Urteilskomponente der Ethik in der Schrift „Urteil und Erkenntnis“ anzulegen, um einer dortigen Sprengung des Rahmens entgehen zu können. Ohne eine strenge Struktur sollte sich dieses Repositorium in einer Art das Feld durchkämmenden Streifzug sukzessive erweitern (und soll dies an manchen Details und Randgebieten vielleicht noch). Außerdem war es von Nutzen, dass es zusätzlich auch als Sammelbecken passender Bausteine für eine aufs Wesentliche reduzierte Systematisierung der Ethikabhandlung in „Urteil und Erkenntnis“ fungierte.

Eine Hauptfunktion der vorliegenden Sammlung von Betrachtungen ist hierbei die Vorbereitung der Enthüllung des innersten Prinzips objektiver Ethik bzw. die Grundsätzlichkeit dieses Prinzips oder dieser Prinzipien ersichtlich werden zu lassen.

Der Begriff der Würdigkeit

[§1] Es mag noch einleuchten, dass jede böse Tat als ethisch „unmöglich“, sowie jede ethisch „unmögliche“ als böse einzustufen ist. Weit weniger einleuchtend ist, dass jede gute Tat ethisch notwendig ist, womit - für manchen sicher überraschend - in Frage steht, ob „Gut“ und „Böse“ überhaupt echte Antonyme sind. Leider bietet die Sprache nicht viele komfortable Alternativen, so dass hier auch nicht viel anderes übrigbleibt, als den wohl nächstliegenden lexikalisierten, nicht zu viel implizierenden Begriff zu nehmen, nämlich den Begriff der Würdigkeit, und - falls überhaupt nötig - die Definition seiner Bezeichnung geringfügig so zu modifizieren, dass sie mit dem „namenlosen“ Begriff übereinstimmt.

Es sei betont, dass mit einer solchen Operation keine ethische Urteilskategorie erfunden, sondern lediglich eine in jedem gesunden Menschen existierende Urteilskategorie sprachlich handhab- und greifbar gemacht werden soll. Es ist ohnehin fraglich, ob hier überhaupt eine echte Modifikation vorliegt, oder nicht vielmehr eine pragmatische Einengung der Anwendung des Lexems der Würdigkeit auf einen von mehreren ihm auch im Sprachgebrauch zugrundeliegenden Begriffen. Immerhin scheint die Bezeichnung einer Sache als „...-würdig“ häufig indirekt eine gewisse Aufforderung oder zumindest eine praxisbezogene Normsetzung zu implizieren („ehrwürdig“, „lesenswürdig“, „schutzwürdig“, usw.). Von „gut“ scheint man dies weniger sagen zu können; sein Aufforderungskonnotat wirkt schwächer, wenn es nicht gar völlig fehlt. Es ist nun mal so, dass die Redeweise in einem Satz wie „Es wäre gut, wenn du dies tätest“ gewöhnlich impliziert: „Wenn nicht, dann ist es nicht schlimm.“ Bloß als gut Bezeichnetes zu unterlassen, wirkt eben daher nicht unbedingt immer schlimm, Würdiges zu unterlassen hingegen schon viel eher. Jedenfalls bezeichne für unsere Zwecke der sprachliche Ausdruck der Würdigkeit (vielleicht besser Hochwürdigkeit genannt oder als Abkürzung hierfür dienend) eher das echte und volle Gegenteil des Bösen bzw. des Unrechten, bzw. des Schlimmen oder Schlechten.1

Nichtsdestotrotz bedeutet dies nicht, dass auf den Begriff des Guten immer verzichtet werden muss, zumal seine partielle Antonymität zum Begriff des Bösen für den jeweils betreffenden Zweck häufig ausreicht.

Über die Notwendigkeit einer objektiven Ethik und Ethik allgemein

[§2] Es lässt sich die Frage stellen, wozu wir Ethik überhaupt brauchen. Und wozu brauchen wir eine Antwort auf die Frage, ob es eine objektive Ethik gibt bzw. eine solche möglich ist? Und wozu müssen wir überhaupt nach einer objektiven Ethik suchen?

Unentwegt prasseln Imperative auf das Subjekt ein. Ohne feste Präferenzprinzipien würde das Subjekt im Angesicht dieser vielfach in sich widersprüchlichen Bombardierung handlungs- oder wenigstens gesellschaftsunfähig werden. Unweigerlich ließe dies alsbald im Individuum den Imperativ aufkommen, die Handlungsunfähigkeit durch die innere Etablierung von Prinzipien bzw. Maximen so schnell wie möglich wieder herzustellen. Spätestens hier stellt sich dem Individuum die Frage nach der korrekten Ethik. Während es zwar denkbar ist, dass jemand eine falsche Ethik wählt, ist es jedoch keinem Menschen möglich, sich der Wahl jeglicher Ethik zu enthalten.

Die Wahl irgendeiner Ethik ist also schon deswegen unausweichlich, da die Natur des Menschen sowie seine Situation bedingen, dass er sich für irgendwelche Handlungsprinzipien entscheiden muss (nicht nur für Einzelhandlungen), und sei es auch lediglich aus egoistischen und bloß weltlichen Gründen. Die Notwendigkeit, das menschliche Zusammenleben zu regeln und soziale und andere irdische Katastrophen zu verhindern, mündet für den am Gemeinwohl (aus welchen Gründen auch immer) Interessierten ebenfalls in die Notwendigkeit, über eine wenigstens einigermaßen allgemeingültige Ethik nachzudenken und sich mit anderen auf eine solche zu einigen. So kommt es quasi zwangsläufig, dass der eine vor diesem Hintergrund eine auf Individualismus zugeschnittene Nutzenethik befürwortet oder stillschweigend wählt, der andere auf den maximalen, gleichverteilten Nutzen der Gesellschaft oder Menschheit ausgerichtete Nutzenethik, wiederum ein anderer eine solche mit einem hierarchisch verteilten und gradualisierten Nutzen, wiederum andere Lustethiken in ähnlich unterschiedlichen Varianten, individualistisch geprägt, sozialistisch, anthropozentrisch, nur höhere Tiere privilegierend oder gleichstellend berücksichtigend, alle Lebewesen etc. Das Konkurrenzverhältnis dieser Konzepte untereinander, ja ihr Konfliktpotential, ist offensichtlich.

Um aber eine Entscheidung darüber treffen zu können, welche dieser Ethiken die zu Präferierende ist, ist nun eine Ethik höherer Ordnung unabdingbar. Dies geht nicht anders, denn keines der Konzepte ist in der Lage, die eigene Überlegenheit gegenüber den anderen nachzuweisen, ohne sich selbst zu transzendieren oder den eigenen Begriff vom Guten und Würdigen zu modifizieren: Was ist besser, Nutzen ohne Genuss oder Genuss ohne Nutzen? Aus Sicht einer Nutzenethik ist es der Nutzen, und sei er auch genussfrei - doch warum? Aus der Sicht einer Lustethik ist es der Genuss, und sei er auch nutzlos - doch warum?2 Beide können die Frage entweder nur mit einer Zirkularität beantworten („Weil Nutzen/Genuss gut ist, ist Nutzen/Genuss gut“), oder müssen auf eine dritte Ethik als „Schiedsrichter“ zurückgreifen. Somit heben sie sich gegenseitig als Idealethik auf.

Es stellt sich das Problem des noch fehlenden Maßstabs, anhand dessen sich alle konkretisierenden Ethikkonzepte miteinander messen könnten, und das Problem der gemeinsamen Diskursgrundlage, auf der ihre tatsächlichen oder potentiellen Vertreter miteinander diskutieren könnten. - Eine solche gemeinsame Grundlage aber kann nur eine maximal-abstrakte, den Begriff des Würdigen zunächst nicht im geringsten konkretisierende oder ihn voreilig einschränkende Ethik sein.

Der Schleier des Würdigen

[§3] Die Konklusion des Eintrags §2 bringt es freilich mit sich, dass in einer solchen Ethik der Begriff des Würdigen zunächst offen ist, oder anders gesagt: Seine konkrete Entsprechung stellt sich zu Beginn als unerreichbares Geheimnis dar. Während hinter dem Begriff des Guten und Würdigen etwas Verborgenes und zunächst an sich nicht näher Definierbares steht und er selber im Sinne einer Zerlegung nicht definierbar ist (s. Eintrag §32), verhält es sich mit dem Begriff des Nutzens anders: Dieser ist sowohl im Sinne einer Zerlegung definierbar - Nutzen ist nämlich eine direkte oder indirekte Verleihung, Vermehrung oder Bewahrung der Möglichkeit(en) oder der Fähigkeit eines dispositionell Ziele anstrebenden Subjekts, Ziele zu erreichen3, also seiner potentiellen Handlungseffektivität4 - als auch auf empirischer Basis erkennbar reich an (zumindest scheinbaren) Entsprechungen in der Welt. Schon das Wissen darum, dass die Erhöhung jener Fähigkeit etc. wenigstens möglich ist, trägt erheblich zum Unterschied bei. In einer idealen Ethik aber muss man erst einmal ohne die leiseste Ahnung um die mögliche(n) Entsprechung(en) des Guten und Würdigen, und ob es diese Entsprechungen überhaupt gibt, weiterdenken (bzw. weiterfühlen). Der Begriff bleibt offen, und empirisch lässt sich nicht festlegen, welche Entsprechungen er hat, und ob er überhaupt je eine haben könnte. Ethisch statt empirisch hingegen, wenn man dem Begriff gerecht werden und nicht selbst unwürdig werden will, kommt man durchaus zu dem Schluss, dass (man daran glauben muss, dass) er eine Entsprechung haben kann und auch eine hat. Dass man nicht von Anfang an darauf kommt, wer oder was diese ist, tut dem keinen Abbruch.

Der Begriff des Guten und Würdigen darf nicht als leer5 angesehen werden, d.h. entsprechungslos, sondern es muss - auch von Beginn an - angenommen werden, dass er durchaus eine Entsprechung hat. Doch selbst wenn der Begriff in diesem Sinne „leer“ wäre, das Lexem des Würdigen wäre nicht leer, denn es ist durch den Begriff des Würdigen definiert, den wir ja tatsächlich haben.6

Der begriffliche Unterschied zwischen Wert, Nutzen und Genusspotential

[§4] Mindestens allgemein lässt sich nicht infrage stellen, dass es nützlich ist, nach Nutzen zu streben. Wie könnte es denn jemals, solange eine noch so geringe Aussicht auf einen noch so geringen Erfolg solchen Strebens besteht, nicht nützlich sein, nach Nutzen zu streben? Hingegen kann man durchaus ohne die direkte Enstehung eines Widerspruchs allgemein infrage stellen, dass es einen Wert habe, nach Nutzen zu streben (vielleicht legt dies auch die Tatsache der Existenz von Selbstmördern gewissermaßen nahe). Dies untermauert, dass die Begriffe des Wertes und des Nutzens nicht identisch sind. Dasselbe gilt für das Streben nach sinnlichem Glück. Da sich dessen Wert (V)7 ebenfalls ohne die Entstehung eines Widerspruchs infrage stellen lässt, unterstreicht dies auch den Unterschied zwischen dem Begriff des Wertes und dem des Potentials zur Genussbereitung (auch wenn dieses subjektiv und aus der Sicht so Mancher an vielen Dingen ihren Wert konstituiert).

Entweder Lust-/Nutzenethik oder abstrakte Ethik

[§5] Sehr verbreitet ist die Meinung, dass wahre Ethik in irgendeiner Form von Lust- oder von Nutzenethik bestehe und sich darin erschöpfe. Dies ist nicht allzu verwunderlich, ist es doch in der Tat denkerisch bequem und entsprechend verlockend, einfach dasjenige, was jeder Mensch ohnehin von Natur aus bereits anstrebt, nämlich größtmögliches Wohlempfinden bei geringstmöglichem Leid und größtmöglichen Nutzen bei geringstmöglichem Nachteil, zum objektiven Ziel und Zweck aller wahren Moral zu erklären. Es ist der vergebliche theoretische Akt, aus einem bloßen Faktum - ohne Weiteres - etwas in ihm nicht Enthaltenes und in seiner Essenz völlig von ihm Verschiedenes, nämlich eine Wertung, zu gewinnen.

Dies könnte jemand damit zu verteidigen versuchen, dass er leugnet, Wertungen und wertende Begriffe hätten schon auf der begrifflichen Ebene auch nur im geringsten Maße einen non-deskriptiven oder non-faktualen Anteil, d.h. alle Ethik sei nur Beschreiben und/oder Reagieren, womit er eigentlich behaupten würde, es gebe überhaupt keine Ethik, sofern ihr Begriff eine über das Deskriptive und Faktuale Hinausgehendes unbedingt impliziert, wodurch er sich wiederum gegen eine, wenn nicht gar gegen die Intuition praktisch aller Menschen, sowie ohne große Aussicht auf Versöhnung außerhalb jedes potentiellen, auf einer gemeinsamen Grundlage beruhenden Dialoges mit der Menschheit stellen würde. Denn aus seiner Sicht bilden sich die Anderen die wesentliche Eigenschaft des für sie wichtigsten Konzeptes eines solchen Dialoges nur ein, und aus ihrer Sicht ist er für diese Eigenschaft blind. Oder aber er enthält sich der Leugnung, so dass er zur Behauptung zu greifen genötigt wäre, einem der natürlichen Elementarziele, z.B. sinnlich positivem Erleben, hafte ein Wesensaspekt an, welcher die Ethizität des Ethischen ausmache. Allein, man kann noch so sehr über sinnlich positives Erleben reflektieren, so dass nebenher vielleicht das überwältigende Gefühl aufkommen mag, dieses sei das, was ethisch sein solle, doch dass irgendein Aspekt daran direkt wesensbegründend für das Ethische sein sollte, wäre etwas völlig anderes und ist aus der Idee des sinnlich positiven Erlebens selber einfach nicht herauszuklauben.

Der Reduktion liegt ein Trug zugrunde, zu dessen hartnäckiger Beständigkeit sicherlich mancherlei genetische, psychologische und sprachliche Faktoren beitragen. Möglicherweise wird er auch dadurch begünstigt, dass das Subjekt im oberflächlichen Denken von keiner Realexistenz außer der eigenen vollkommen sicher weiß und daher schnell meint, auf anderes als irgendwie auf die eigene Selbstheit bezogene Handlungen seien weniger rational – und da der spezifische Anteil des Begriffs vom ethischen Subjekt komplett durch seine passivische Erlebnisdisposition und seine aktivische Willens- bzw. Handlungsfähigkeit bestimmt ist, sieht das Subjekt u.U. nichts, worauf es außer auf diese beiden Aspekte oder mit ihnen direkt Zusammenhängendes Einfluss nehmen könnte. Des Weiteren dürften die beiden Tatsachen, dass erstens hedonisches und/oder utilitäres Glück das größte und absolute naturale Ziel der Humanautomatik ist/sind, und dass zweitens Nutzen und Leidferne durchaus mehr oder weniger ethisch-objektive relative Erstrebenswürdigkeiten sind, in manch oberflächlichem Denken unwillkürlich zur Erscheinung eines entsprechenden absoluten und zugleich ethisch-objektiven Wertes umso mehr verschmelzen, je oberflächlicher und voreiliger es ist.

Sobald aber der Schleier dieser Täuschung fällt, indem der Tatsache ins Auge gesehen wird, dass diese natürlichen Ziele des Akteursystems a priori und objektiv ethisch indifferent sind und mit dem Wesen wahrer Ethik nichts zu tun haben, ist die nächste Erkenntnis, welche die ist, dass nur eine im Grundsatz alle Konkretheit und begriffliche Bestimmtheit transzendierende Ethik akzeptabel ist, in greifbarer Nähe.

Denn nach dem Fall des Schleiers erweisen sich alle sonstigen möglichen Ziele, sofern sie auch nur ein Kleinstmaß an begrifflicher Bestimmtheit oder Konkretheit aufweisen, entweder als den obigen Zielen im Sinne des Dienstes an ihnen entspringend oder als mit ihnen und untereinander äquivalent und a priori indifferent. Und wenn die Definition des Guten nur in jenen beiden Ethiken eine des Guten für ein/das Geschöpf ist, würde daraus folgen, das in einer sonstigen Ethik der Begriff des Guten nicht von dem des für das Geschöpf Dienlichen abhängig sein kann.

Dritte Ethiken

[§6] Sieht man von allen nicht maximal abstrahierenden Ethiken ab, die nicht quasi auf das Subjekt ausgerichtet sind, lässt sich sagen, dass neben Lust- und Nutzenethik als dritte nur noch eine maximal abstrahierende Ethik denkbar sei. Bei einer solchen dritten Ethik muss es sich allerdings keineswegs unbedingt um eine solche handeln, die in erster Linie am Gemeinwohl interessiert ist, denn eine mit einem solchen Interesse kann ebenfalls Lust- oder Nutzenethik genannt werden, zumal in ihr das Subjekt, auf das sie quasi ausgerichtet wäre, lediglich ein erweitertes wäre (vergrößerter Subjektradius). Da der Erweiterungsgrad sehr variabel ist (eigene Person, eigene Familie, eigene Ethnie, Menschheit, alle organischen Lebewesen etc.) und man ihn so auch einen Einschränkungsgrad nennen kann, lässt sich die Beschränkung auf das individuelle Subjekt schlicht als einer der möglichen Einschränkungsgrade behandeln.

Eine Besonderheit des Menschen ist aber, dass er noch vor maximal abstrahierender Ethik eine ganz anders als auf das Subjekt ausgerichtete Ethik wählen und höchste Werte (S) haben kann, die weder als ihm zum Genuss noch als ihm zum Nutzen gereichend von ihm gedacht werden. Für die Analytik muss leider unbeachtet gelassen werden, inwieweit eine solche Wahl unbewusst doch noch in einem Genuss- oder Nutzenstreben wurzelt, denn dies ist eine Sache der individuellen Psychologie, die im Diskurs, solange sie sich nicht deutlich äußert, ohnehin unzugänglich ist. Eine solche Verwurzelung wird im Diskurs erst relevant, wenn sie explizit als Grundlage angegeben wird.

Doch was immer jemand als höchste(n), nicht maximal abstrakte(n) Wert(e) (S) wählt (und sei es etwas relativ so Abstraktes wie z.B. Zivilisation, Ordnung oder Frieden): Er wird ohne Rückgriff auf eine tiefer liegende Ethik nie objektiv und bis ins Letzte zeigen können, warum der totalen Negation eben desselben Wertes (S) oder gar seinem Gegenteil ein geringerer Rang zukommen soll als dem vermeintlichen Wert (S) selbst,8 ohne dies mit Bezug auf Wohlseligkeit oder Nutzen zu begründen,9 solange seine auf diesen Höchstwert gebaute Ethik nicht als bloße Ausprägung, als bloßes Implikat einer maximal abstrahierenden Ethik gelten soll.

Freilich könnte hier verlockenderweise als Ausnahme der Fall in den Sinn kommen, in welchem seine Ethik auf die Entität eines in jeder Hinsicht absoluten Allurhebers ausgerichtet ist und das Gute und Würdige voll und ausschließlich durch das definiert wird, was dem Allurheber zur Würde gereicht, so dass nur solche Willentlichkeiten einen Wert (V) haben, die um des Allurhebers willen angegangen werden und alle anderen Willentlichkeiten wertlos oder unwert sind. Dies mag sich damit begründen lassen, dass der absolute Urheber als die Bedingung der Möglichkeit idealer Ethik einen höheren Rang haben muss als die ideale Ethik selbst, zumal diese sich selbst und all ihre Begriffe ihm (seinem Willen oder seinem Wesen) zu verdanken hat. Hierfür aber müssten logischerweise eine objektive Ethik samt Würdigkeitsbegriff und ihr Wert schon vorliegen bzw. feststehen, bevor von jener Abhängigkeit auf den Rang des Urhebers geschlossen wird, so dass die auf dieser Basis erschließbare Ethik allenfalls das Implikat, die Frucht oder der Sukzessor einer maximal abstrahierenden und somit nicht die grundlegende Ethik wäre. Andernfalls läge ein Zirkelschluss vor, den zu vermeiden  ohne Ebenenwechsel geradewegs in einen naturalistischen Fehlschluss mündet (Sprung vom reinen Sachverhalt der Allurheberschaft, der Existenz des Allurhebers oder einer ontologisch definierten Abhängigkeit). Darum ist diese Betrachtung vorerst zurückzustellen, auch wenn sie im Nachgang der Etablierung der objektiven Ethik eine erhebliche Rolle spielen mag.10

Jedenfalls lässt sich weiterhin festhalten, dass sobald sich der Wert von Lust- und Nutzenethik als Grundethik ausschließen lässt, nur noch eine im Grundsatz alle Konkretheit transzendierende Ethik akzeptabel ist, sofern der höhere Rang ihrer Basis ein intellektuell erkennbarer (und nicht nur emotional zugeschriebener) ist und in diesem Sinne vielleicht eine emotional, nicht aber eine intellektuell neutrale Haltung ihm gegenüber möglich ist.

Ehrenethik

[§7] Etwas verwirrend mögen im Zusammenhang mit dem vorigen Eintrag (§6) Ethiken sein, in welchen das Konzept der Ehre als höchster Wert angenommen wird. In dieser Rolle wird für die Ehre getötet und der eigene Tod in Kauf genommen, bis hin zur aktiven Herbeiführung des eigenen Todes. Wenn dies so weit geht, wo ist hier die Bedachtheit auf Wohlseligkeit, wo der Nutzen? Im Extremfall könnte der Vertreter einer solchen Ethik diese in ihrer Ausrichtung vom eigenen Subjekt entkoppeln und behaupten, die Konzepte der Ehre und des Guten und Würdigen seien identisch und dabei u.U. erfolgreich durch Berufung auf Intersubjektivität suggerieren, dies sei evident, da die Negation, Ehrlosigkeit, jedem Menschen negativ vorkomme.

Die gefühlte Negativität des Begriffs der Ehrlosigkeit ist nichtsdestotrotz kein vollständiger Beweis für eine objektive Positivität des Ehrbegriffs, da Intersubjektivität nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für Objektivität ist.

Dass Ehrenethik meistens eine Ausprägung einer Lust- oder Nutzenethik ist, lässt sich daran erahnen, dass häufig von „Ehrverletzung“, von „Wiederherstellung“ der Ehre, von „Ehrverlust“ und von „Schaden“, den die Ehre einer Person nehmen könne, die Rede ist. Ehre spielt oft, wenn nicht gar immer, die Rolle einer Art von immateriellem Kapital. Der Vertreter einer Ehrenethik als Hauptethik glaubt in diesem Fall schlicht, dass Ehre der größte denkbare Nutzen bzw. Ehrverlust der größte denkbare Schaden sei, oder er glaubt, in „Schande“ zu leben, sei die größte denkbare Qual. Sicher würde ein überzeugter Anhänger einer utilitaristischen Ehrenethik seine Ehre wohl niemals für irgendein Geld der Welt verkaufen, aber eben nur, weil er meint, dass der Schaden bei Verlust der Ehre nicht wieder zu kompensieren wäre, ähnlich, wie kaum ein Utilitarist11 für irgendein Geld der Welt eine seiner beiden Gehirnhälften hergeben würde.

Dennoch kann es sein, dass Ehrenethik im Rahmen einer Entkopplung der Ausrichtung vom Subjekt jenseits von Genuss und Nutzen auf einer Absolutsetzung von Ehre beruht, womit eine solche Ethik eine nicht auf das Subjekt ausgerichtete wäre. Die bloß intersubjektive Ehre ist jedoch lediglich ein Spiegelattribut, d.h. sie ist eher die Weise, wie sich anderes auf den Träger des Attributs bezieht (z.B. wie er angesehen wird), als wie er selbst sich auf anderes bezieht, und als dass sie in einem relevanten Sinne mitbestimmte, was er an sich ist. Mit dieser Einordnung definiert sie sich lediglich durch die (idealerweise positive) Meinung anderer Individuen und erleidet das weiter oben bereits erwähnte Schicksal aller anderen Werte, die absolut gesetzt werden und nicht aus der maximal abstrahierenden Ethik abgeleitet sind: Der angenommene niedrigere Rang ihrer Negation ist von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet nicht evident und lässt sich ohne eine tiefer liegende Ethik auch nicht objektiv demonstrieren. Dies ist auch der Fall, wenn das Subjekt in seinem Bewusstsein sein Festhalten an der Ehre als Wert völlig von Nutzen und Wohlseligkeit entkoppelt hat.

„Ehre“ dürfte jedoch ohnehin ein nicht direkt definierbarer multikonzeptioneller Terminus sein, dessen Definition als die von der Gesellschaft verlangte Selbstachtung des Subjekts die der realen Verwendung des Terminus am engsten anhaftende, jedoch nicht die einzige Definition ist. Folglich ist die Frage, ob Ehrenethik auf einer Ebene neben Nutzen- und Lustethik steht, erst dann zu beantworten möglich, wenn es klar ist, um welchen der verschiedenen Ehrbegriffe es geht. Wie es endet, ist dennoch mehr oder weniger abzusehen: Zieht man vom potentiellen Ehrbegriff das dazugehörige Gefühl, die Achtung der anderen und die Selbstachtung ab, bleibt vom Begriff wahrscheinlich  nichts mehr übrig, so dass er sich dann allenfalls aus Konzepten bestehend erwiese, die objektiv betrachtet wertneutral sind. - An der eben genannten Definition lässt sich übrigens nachvollziehen, dass nicht alles, was das Subjekt betrifft, auch auf dieses Subjekt ausgerichtet sein muss.

Das Problem des Konzepts der Ehre liegt auch darin, dass es eine wichtige soziale Funktion erfüllt, allerdings dies nur dann vermag, wenn den Individuen der Gesellschaft erfolgreich suggeriert wird, es sei ein objektives Konzept, oder sie wenigstens dazu erzogen werden, mit ihm so umzugehen, als sei es ein solches. Ehre lässt sich jedoch ohne Kriterien niemandem zuordnen, oder (so man Ehre als etwas Angeborenes ansieht) wenigstens niemandem ohne Kriterien absprechen. Solche Kriterien können nun bloße Konvention, beliebig und subjektiv, oder aber objektiv sein. So lässt sich Ehre als ein Allgemeinbegriff für das subjektive oder objektive Recht auf Achtung vonseiten anderer ansehen, so dass das objektive derartige Recht nur eine spezielle Subkategorie der Ehre darstellt und vom intersubjektiven verschieden sein kann. Diese Subkategorie lässt sich Würde nennen.

Weitere Gedanken zur Ehre

[§8] Ehre ist für die meisten Menschen etwas, bzw. der Begriff der Ehre beinhaltet, dass Ehre etwas ist, das verloren werden kann, was u. U. verteidigt werden muss. Nicht selten wird mit dem Konzept der Ehre umgegangen, als sei sie eine unsichtbare Entität, die einem mehr oder weniger „anhaftet“. Wüchse jemand ohne Gesellschaft auf, würde er wahrscheinlich gar nicht so etwas wie einen Ehrbegriff entwickeln. Da Ehre etwas Unsichtbares ist, was man weder sehen, noch riechen, noch schmecken kann, ist der mit ihr verknüpfte Ausdruck nicht nur ein typischer Kandidat für einen multikonzeptionellen Terminus (wie z.B. „Liebe“, „Geist“ oder „Zeit“); auch kann man auf die Existenz von Ehre nur von anderen hingewiesen werden. Das legt nahe, dass Ehre essentiell etwas mit der Gesellschaft zu tun hat. In der früheren Ständegesellschaft sah man es als etwas Selbstverständliches an, dass der Ritterssohn eine größere Ehre habe als der Bauer; das arabische Wort sharaf bedeutet sowohl Adel als auch Ehre, ein sharîf ist ein Adeliger. Damit drückt Ehre einen gewissen Rang aus, mit anderen Worten: Der Ehrbegriff und der Begriff des sozialen Ranges könnten identisch sein. Ehre wäre demnach, zumindest als Grundehre, die Gleichrangigkeit mit dem Rest der Gesellschaft oder dem Rest des Standes, dem man angehört. Sie wäre einfach der Wert, den andere Individuen der Gesellschaft oder die Gesellschaft allgemein dem Individuum beimessen. So ist es dann auch kein Wunder, dass das Individuum um seine Ehre besorgt ist und sie als Kapital ansieht, denn es ist ja auch der Wert, den es tatsächlich besitzt, wenn auch nicht der objektive, sondern nur der Wert, der einem auf der Basis diskutabler Konventionen zugewiesen wurde.

Das wahrhaft Gute

[§9] Wer um die Kontingenz aller weltlichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen weiß und dennoch an der Beschränkung auf Lust- oder Nutzenethik festhält, ist offensichtlich am wahrhaft Guten nicht interessiert, oder schlimmer: der hat sich bewusst dagegen entschieden. Hat er sich nicht dadurch, dass er dem Begriff des Würdigen jeglichen wahren Wert aberkannt hat, nicht selbst als unwürdig erwiesen?

Ethiken, die in ihrem Fundament nicht maximal abstrakt sind, haben ihre Wurzeln gewöhnlich in der Empirie bzw. sind zu stark von ihr abhängig. Beispiel Nutzenethik: Schon zur Erfassung des Nutzenbegriffs muss die erfahrbare Realität stark betrachtet werden. Von der Lustethik ganz zu schweigen. Das hat fatale Konsequenzen. Denn wenn man in Betracht zieht, dass es erwiesen ist, dass in dieser Welt den Ursache-Wirkung-Beziehungen an sich keinerlei logische oder essentielle Notwendigkeit innewohnt, sondern diese Beziehungen letztlich kontingenten Naturgesetzen entspringen, führt dies zur Erkenntnis, dass es in dieser Welt keinen einzigen Teil derselben gibt, der wahrhaft nutzenbringend ist. Zumindest eine non-theistische Nutzenethik vorausgesetzt, müsste somit die Hoffnung darauf, dass es wahren Nutzen gibt, aufgegeben werden. Wäre eine solche Nutzenethik oder Lusthetik der Weisheit letzter Schluss, gäbe es nichts wahrhaft Gutes oder auch nur als wahrhaft Gutes Denkbares. Unabhängig davon, ob sich die Existenz des wahrhaft Guten doch noch beweisen ließe (z.B. durch Rückgriff auf eine tiefer liegende Ethik), sollte eines feststehen: Wer nicht an das wahrhaft Gute glaubt, in dem steckt nichts Gutes.

Die Absurdität eines hybriden Begriffs des Guten

[§10] Das „Gute“ der Lustethik ist aus nutzenethischer Sicht wertlos und kann nicht das wahrhaft Gute sein, denn bloßes Wohlempfinden, wenn es nicht in irgendeiner Weise der potentiellen Handlungseffektivität dient, ist eben nutzlos, während in der Lustethik auch bloßes Wohlempfinden wertvoll ist. Umgekehrt ist das „Gute“ der Nutzenethik aus lustethischer Sicht wertlos und kann nicht das wahrhaft Gute sein, denn bloße Förderung oder Erhaltung eines reinen Handlungspotentials, wenn es nicht dem Wohlempfinden dient, ist eben genusslos, während in der Nutzenethik auch bloßer Nutzen wertvoll ist.

Die unauflösbare Dichotomie von Nutzen- und Lustethik findet auf globalhistorischer Ebene ihre deutlichste Verkörperung in dem Widerstreit zweier gleichwohl auf einander sehr angewiesener Hauptkomponenten des Westmodernismus, die sich aber auch darüber hinaus in anderen Formen wie zwei rote Fäden durch die Geschichte der Menschheit ziehen: des wirtschaftsideologischen Kapitalismus und des konsumideologischen Hedonismus. Auf der individuellen Ebene tendiert ersteres erfahrungsgemäß zu Verzicht und Askese12, letzteres hingegen zu Sucht und Ausschweifung.13

Keine der beiden Ethiken ist in der Lage, die Überlegenheit des eigenen Begriffs vom Guten gegenüber dem der anderen zu beweisen. Es ließe sich zunächst lediglich untersuchen, ob es möglich ist, den Begriff des Guten aus einer Synthese von Nutzen und Wohlempfinden zu konstruieren. Diesbezüglich lässt sich zeigen, dass eine solche Konstruktion möglich sein mag, man aber weit mit einem solchen Begriff nicht kommen wird. Denn wie soll man überhaupt entscheiden zwischen einer Handlung, die langfristig sehr viel Nutzen bringt, und einer mit ihr konfligierenden anderen, die langfristig sehr viel Wohlempfinden nach sich zieht?

Offensichtlich ist die notwendige praktische Vergleichbarkeit ähnlich wenig gegeben wie in dem folgenden Szenario, in welchem ein Obsthändler nach dem Preis eines Kilos Äpfel gefragt wird, und er antwortet: „Drei Taler.“ Auf die Frage, ob das nicht etwas teuer sei, entgegnet er zum Beweis der preislichen Angemessenheit, der gegenüber liegende Obsthandel biete ein Kilo Birnen für zwei Taler und neunzig Pfennige an. Das Argument ist offenkundig unsinnig, und es hat im wahrsten Sinne des Wortes ein Vergleich zwischen Äpfel und Birnen stattgefunden. Kaum jemand wird am Preis von Birnen ablesen können, ob der Preis von Äpfeln angemessen ist. Mehr noch: Mit einem solch chimärenhaft zusammengesetzten Begriff ist es nicht einmal in einem hinreichenden Maß möglich, Konflikte überhaupt zu erkennen, wenn solche auftreten. Anders wäre es freilich, wenn der Begriff ausschließlich mit dem des Nützlichen identisch wäre, dann ließe sich zwischen zwei Möglichkeiten hinsichtlich des größeren Nutzens (oder geringeren Schadens) abwägen, oder ausschließlich mit dem des Lustverschaffenden identisch, dann ließe sich zwischen zwei Möglichkeiten hinsichtlich des größeren zu erwartenden Vergnügens (oder geringeren Leids) abwägen. Wenigstens theoretisch ließe sich sagen, welche von zwei in Konflikt stehenden Handlungsentscheidungen zu bevorzugen wäre. Mit dem hybriden Begriff des Guten lässt sich solches nicht einmal in der Theorie sagen. - Es zeichnet sich ob der folglich zu erwartenden Entscheidungsverwirrungen also ab, dass ein Individuum mit einem solchen Begriff des Guten und Würdigen langfristig wohl weder nachhaltigen Nutzen noch nachhaltiges Wohlempfinden für sich erzielen wird, so dass sich die Ethik eines solchen Begriffs selbst ad absurdum führt.

Und wenn man nun bedenkt, dass die meisten, wenn nicht prinzipiell alle Entscheidungssituationen die Feststellung der höheren von zwei Prioritäten oder Notwendigkeitsgraden erfordern und somit Konfliktsituationen darstellen, erübrigt sich die Konstruktion des Begriffs des Guten aus denen des Nützlichen und des Genussbereitenden vollends.

Fürgrund, Motivation & Vorhaben: Die drei Dimensionen der Absicht

[§11] Was jemand ohne Absicht oder bewusste Inkaufnahme getan hat, ist ohne Weiteres ethisch nicht bewertbar, weder als würdig noch als unwürdig. Unter jenen Umständen ist es mit dem betreffenden Tun wie mit dem im Rahmen von Naturgesetzen zustande kommenden Spiel der Wellen auf der Oberfläche eines Gewässers, für welches das Gewässer selbst nichts kann. Denn unwürdig kann etwas erst werden, wenn es einem gültigen ethischen Satz widerspricht, und ethische Sätze sind normativ und ihre Spezifizierung als „ethisch“ sinnlos, wenn sie ohnehin grundsätzlich bzw. von Natur aus befolgt oder ebenso immer missachtet würden. Folglich setzen sie ein Vermögen voraus, sich für oder gegen ihre Befolgung zu entscheiden. Ein solches Entscheidungsvermögen nennen wir „Willen“ (hier im Sinne einer Disposition). Wo kein Wille ist, kann einem ethischen Satz auch nicht widersprochen werden. Mit einem Willen (nun im Sinne des aktualen Impulses, d.h. nicht nur des dispositionalen Willens) geht immer eine Absicht einher; ein Wille ohne Absicht ist ähnlich undenkbar wie materielle Form ohne Substanz. Folglich: Wo keine Absicht ist, da ist kein Wille, und wo kein Wille ist, da ist keine ethische Bewertbarkeit. Unabdingbar an einer bestimmten Handlung, damit sie als gut oder böse eingestuft werden kann, ist also die Absicht.

Die Absicht ist weniger trivial strukturiert, als mancher vielleicht denkt - sie ist gewissermaßen dreidimensional:

  1. Die Warum-Dimension (Ausrichtung): Die wichtigste ihrer drei Dimensionen ist die der Ausrichtung auf einen finalen Wertträger, auf etwas, wovon sich in der inneren Einstellung des Handelnden der Wert der Handlung ableitet, und dessen Wertschätzung sich in der gesamten Handlung manifestiert.  Die hierzu passende Frage nach der Absicht lautet: Warum (um wessentwillen) willst du etwas tun? Oder: Was ist das Würdige an der betreffenden Willentlichkeit?
  2. Die Wozu-Dimension (Motivation): Eine weitere Dimension ist die der Motivation (S). Diese ist vom finalen Wertträger strikt zu unterscheiden und selten - eher nie - mit ihm identisch. Die Vergegenwärtigung der Motivation neutralisiert die inneren Hemmnisse, welche die Umsetzung des Vorhabens behindern könnten, von denen besonders die Neigung zur Trägheit zu nennen ist, aber auch Ängste und Aversionen. Obwohl die Überzeugung hinsichtlich des Ranges des finalen Wertträgers das ethisch eigentlich Relevante unter den Absichtsebenen darstellt, würde sich das potentiell wollende Individuum ohne die Ebene der Motivation trotz höchsten Wertebewusstseins wohl nie in Bewegung setzen können. Die hierzu passende Frage lautet: Wozu willst du etwas tun? Oder: Was ist das Lohnenswerte an der betreffenden Willentlichkeit? (Was wird sie der Erwartung nach bringen?)
  3. Die Was-Dimension (Vorhaben): Zu guter Letzt ist da die Dimension des konkreten Vorhabens. Die hierzu passende Frage lautet: Was willst du konkret tun? Oder: Was wäre die reale Entsprechung der betreffenden Willentlichkeit?

Die Angemessenheit einer dergestaltigen Strukturierung der ethisch relevanten Absicht lässt sich zum einen sozusagen phänomenologisch an Beispielen deutlich machen (s.u.). Zum anderen ist klar, dass in keiner ethisch relevanten Handlung ein Vorhaben ohne Grund anvisiert wird. Eben dieser Grund muss, wenn der Begriff der Absicht alle mentalen Faktoren einbezieht, die zu der Manifestation der Handlung führen, als weitere Dimension der Absicht neben dem Vorhaben angenommen werden. Vorhaben an sich und losgelöst vom Grund betrachtet sind meist neutral und können so nicht das prinzipiell ethisch Relevante an einer Abischt sein (mehr dazu in Eintrag §48). Also ist der Grund zu beurteilen. Nun kann ein Grund entweder theoretisch fundierend oder praktisch wirksam sein. Ohne den Grund, der für den Akteur das Vorhaben theoretisch fundiert bzw. rechtfertigt, entzieht sich die Handlung der Beurteilung, wie auch der Akt eines Tiers. Ohne einen Grund als Kausalursache der Realisierung des Vorhabens lässt sich eben diese andererseits nicht erklären. Die Unmöglichkeit der Identität der beiden lässt sich durch introspektive Reflexion feststellen, aber auch indirekt, angesichts der vergeblichen Bemühungen von Metaethikern aller Richtungen (Konstruktivismus, Non-Kognitivismus, Realismus...), diese beiden Arten von Gründen miteinander zu vereinen, ja ihre Unvereinbarkeit als die wohl größte Wurzel des Streits der metaethischen Theorien angesehen zu werden hat. Darum ist davon auszugehen, dass beide Gründe als distinkte Dimensionen der Intention zur Dimension des Vorhabens hinzutreten.

Nun ein einfaches Beispiel: Ein leicht invalider und daher als nicht wehrpflichtig geltender nationalistischer Eiferer fasst den Entschluss, sich zur Kriegsteilnahme zu melden. Seine finale Ausrichtung gilt seiner Nation, d.h. in seinem Entschluss manifestiert sich die extreme Wertschätzung, die er für seine Nation hegt. Seine Motivation ist der in Aussicht stehende Ruhm bzw. die Ehre im Fall seiner Rückkehr, vielleicht auch die Gelegenheit, Abwechselung vom öden Alltag zu erleben, der Sold, die Aussicht auf Genugtuung hinsichtlich seines gegen die verfeindete Nation kultivierten Hasses, o.a. Sein konkretes Vorhaben ist derweil schlicht der Gang zum Meldebüro und in einem der darauf folgenden Schritte der Eintritt in den Krieg.

Ein weiteres Beispiel: Eine wohlhabende Person fasst den Entschluss, ihrer betagten Mutter, die bislang in einer maroden kleinen Mietwohnung lebt, ein Häuschen zu schenken. Hier könnte die Mutter als Person der finale Wertträger und die Motivation ihr zu erwartender Dank, ihr freudvoll lachendes Gesicht und sonstige Freudenäußerungen und das gute Gewissen sein, während das Vorhaben der Kauf des Hauses und der Schenkungsakt ist.

Die Unabdingbarkeit der Ebene der Motivation, und dass der Mensch häufig oder stets wenigstens in subtiler Form eine solche braucht, um sich überhaupt in Bewegung setzen (oder bremsen) zu können, muss dem Postulat der Willensfreiheit des Menschen übrigens keineswegs widersprechen. Denn der Mensch ist - wenngleich nicht unbegrenzt - mit der Fähigkeit ausgestattet, die Treib- und Bremskraft von Motivationen (S) und Gegenmotivationen (S) über die Quantität ihrer Vergegenwärtigung bzw. Ausblendung erhöhend und verringernd zu steuern und hierdurch zu wählen, welche der beiden entgegengesetzten Motivationsseiten gegenüber der anderen überwiegt. Letztlich mag diese Wahl zwar mehr oder weniger automatisch aus dem Rang, den der finale Wertträger im Verhältnis zu anderen Wertträgern beim Individuum einnimmt, resultieren, doch die Zuordnung dieses Ranges ist mit keinem Aufwand verbunden und wird von keinem Aufwand behindert, sondern ist eine frei gewählte Voreinstellung. Auch ist ein finaler Wertträger in der Regel zu abstrakt, als dass der Gedanke an ihn eine auf Sinnlichkeit und Instinkten basierende Zu- oder Abneigung und die mit ihnen verbundenen psychischen Aufwände evozieren könnte.

Weitgehend spielt die Motivation, obwohl sicher oft mit dem finalen Wertträger verwechselt (während sie sich allerdings durchaus manchmal im Vorhaben wiederfindet), zunächst sozusagen nur die Rolle eines technischen Aspekts, der sich unter gewissen Voraussetzungen als von der Ethik trennbar darstellen kann. Nicht von der Ethik ist hingegen die Frage trennbar, um wessentwillen Handlungen geschehen. Z.B. das falsch Anmutende an menschlichem egoistischem Handeln, dem Handeln um des eigenen Selbst willen, kann ja nur darin wurzeln, dass der Handelnde seinem Ich offenbar einen Wert zuordnet, der ihm in dieser angemaßten Höhe und Absolutheit nicht erkennbar (bzw. sogar erkennbar nicht) zukommt. - Alle Handlungen, die willentlich getan werden, geschehen um irgendeiner Idee oder Entität willen, d.h. auf der Grundlage der Annahme eines Wertes bzw. Ranges jener Idee oder Entität. Der objektive Wert einer Handlung bemisst sich darum zuallererst nach dem tatsächlichen Wert bzw. Rang dessen, um dessentwillen gehandelt wurde. Solches wie dieses Letztere ist oben bereits „(finaler) Wertträger“ genannt worden. Es lohnt sich allerdings womöglich, sowohl zum einen von Wertträgern allgemein zu reden, die solche auch unabhängig von aktual geschehenden Handlungen sein können, als auch zum anderen vom Wertträger, für den - d.h. um dessentwillen - eine Handlung tatsächlich geschieht. Diesen könnte man den „Fürgrund“ der Handlung nennen.14

Es ist in diesem Zusammenhang beispielsweise sicher nicht ohne Bedeutung, dass ein Erwachsener, der ohne irgendeine Verabredung ganz alleine unter dem Sonnenschirm eines Eiscafés Platz nimmt, dort verharrt, süßes Milcheis für sich bestellt und mit dieser Speise zu keinem Zweck außer dem bloßen eigenen Genusserlebnis seine Zunge immer wieder bestreicht, stets ein wenig armseliger wirkt, als z.B. jemand, der seinen Genuss zur Komponente einer geselligen Veranstaltung bestimmt, so dass dieser wenigstens als Teil einer Handlung interpretierbar ist, die nicht allein um des handelnden Individuums selbst willen geschieht, sondern zu den Mitteln zu einem Zweck gehört, der mehr als nur dem potentiellen Wert des handelnden Individuums alleine Rechnung trägt (z.B. Aufrechterhaltung und Förderung des sozialen Miteinanders und zwischenmenschlicher Verbindungen usw.).15

Zur Klarstellung des fundamentalen Unterschieds zwischen Fürgrund und Motivation diene das Beispiel der beruflichen und berufsvorbereitenden Lebensaktivität, die als (wenn auch vergleichsweise groß angelegte) Handlung gelten kann. In dieser Handlung kann eine Person zur Überwindung der eigenen Trägheit Konkurrenzdenken im Rahmen einer Motivationsstrategie anwenden, so dass die Motivation in dem imaginierten Siegerstatus bestünde (Prüfungs- und Zeugnisnoten nutzen bekanntlich u.a. dies aus). Sollte trotz allem irgendwann das „Überholen“ Anderer mit Gewissheit als endgültig unmöglich erscheinen, dürften die meisten lediglich etwas Motivation verlieren, in Aufschiebungsverhalten fallen oder sich nach anderen, geeigneteren Motivationen umschauen etc. - der Karrierist hingegen, der den stetigen Karriereaufstieg als höchsten Wert idealisiert, würde eher psychisch erkranken oder gar Selbstmord begehen.

Es sollte allerdings klargestellt werden, dass die Absicht (V) nicht aus dem Fürgrund besteht, und auch nicht aus den Motivationen (S) oder dem Vorhaben (S). Dies sind lediglich die durch die Absicht „angesehenen“ Gegenstände (wobei an diesem „Ansehen“ übrigens ablesbar ist, dass der Name „Absicht“ sprachlich nicht von ungefähr von „Sehen“ abgeleitet ist und vor seinem etymologischen Hintergrund zu allen drei Dimensionen passt16). Vielmehr besteht die Absicht (V) aus der Ausrichtung (V) auf den Fürgrund, der (mitunter selektiven) Vergegenwärtigung (V) der Motivation[en] (S) - manchmal/oder ihre schiere Wirksamkeit - und dem Sichvornehmen (in der Terminologie Kurt Lewins: „Vornahme“) bzw. der Fassung (V) des Vorhabens (S).17

Das eigentlich Bewertete

[§12] Wenn man sich vergegenwärtigt, wie essentiell die Absicht für eine Handlung ist, kommt einem die Aussage, die Ethik bewerte Handlungen, seltsam vor, bzw. stereotype, bloß auf den äußeren Aspekt Bezug nehmende Sätze ethischer Bewertungen - z.B. Rauchen in der Gegenwart von Kindern ist verwerflich. - scheinen dann von vorneherein mangelhaft zu sein. Wenn willentliche Handlungen nichts als ein Resultat der willentlichen Absicht sind und das Maßgebliche an der Absicht die Wahl des finalen Wertträgers ist, dann sind ausschließlich Bewertungen bzw. Wertschätzungen das, was Ethik in Handlungen eigentlich bewertet. So skurril es sich lesen mag: Ethik bewertet Bewertungen.

Jedenfalls beruht der obige, auf das Rauchen vor Kindern bezogene Beispielsatz auf recht vielen empirischen Voraussetzungen bzw. Vorabinformationen, z.B. dass Rauchen gesundheitsschädlich ist, dass Passivrauchen gesundheitsschädlich ist, dass es der Gesundheit von Kindern in besonders großem Maße schadet, dass Kinder von Natur aus zur Nachahmung neigen... Die maßgeblichste empirische Voraussetzung ist aber, dass das Rauchen in der Gegenwart von Kindern wider besseres Wissen um die schädlichen Effekte mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf schließen lässt, dass ein solcher Raucher die Gesundheit von Kindern weniger wertschätzt, als er sollte. Die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins dieser inneren Einstellung nimmt mit der Häufigkeit der Zuwiderhandlung übrigens auch noch zu. Diese Einstellung ist offensichtlich eher das, was ein ethischer Satz idealerweise eigentlich negativ bewertet.

Einem Menschen die Zunge entgegenzustrecken, lässt sich ohne Weiteres ethisch nicht eindeutig bewerten - es kann obligat, unerheblich oder verwerflich sein. Gegenüber einem Arzt im Rahmen einer Untersuchung erscheint dieser Akt zum Beispiel in einem anderen Licht als gegenüber irgendjemandem auf der Straße, zumal dem Akt im ersteren Fall die Wertschätzung der eigenen Gesundheit, im zweiten Fall womöglich die Geringschätzung eines Menschen zugrunde liegt. Die eigentliche Frage lautet also nicht: „Was hast du getan?“ oder „Welche Konsequenzen hat die Tat?“ sondern eher: „Würde man den Akt und seine Konsequenzen gutheißen oder befürworten? Wenn ja, aufgrund welcher tiefer liegenden Bewertung?“ Bzw. „Würde man ihn verurteilen und verabscheuen? Wenn ja, aufgrund welcher tiefer liegenden Bewertung?“ Hier ist es die theoretisch unabhängig vom Akt bestehende, intellektuale Gutheißung und Bewertung, nach der gefragt wird, und komme sie auch im Nachhinein zustande. Das impliziert natürlich, dass jemand an einem Akt schuldig sein kann, dessen Urheber er auf der materiellen Ebene gar nicht ist. Dazu genügt eine Befürwortung seinerseits, die entschieden genug und so groß ist, dass sie ihn unter denselben Umständen zu dem Akt bewogen hätte. Ebenso kann es unter speziellen Umständen ja sein, dass jemand etwas Entsetzliches verursacht, an dem ihn keine volle Schuld trifft. Anders als aus dem Straßenverkehrsrecht gewohnt, ist somit festzustellen: Schuld und materielle Verursacherschaft sind also zwei grundsätzlich verschiedene Begriffe.

Ein ethischer Satz, der hingegen scheinbar einen Akt anstelle einer Bewertung bewertet, kann (und muss) aber dennoch brauchbar sein, indem er, basierend auf empirischen Betrachtungen, eine gewisse Natur des Handelnden, seiner Handlung und u.U. ihres Gegenstands und Kontextes als Prämissen annimmt, durch welche die Handlung mehr oder weniger authentisch auf die zugrundeliegende Wertzuordnung oder -absprechung hinweist. Der Satz bewertet die besagte Zuordnung bzw. Absprechung sozusagen indirekt. Ob man erwarten sollte, dass die Brauchbarkeit eines Satzes dieser Art häufig der Fall ist, ist eine andere Frage. - Hier liegt übrigens nicht die logische Ableitung eines Sollens aus einem Sein vor, sondern ein empirischer Schluss von äußerem Sein auf inneres Sein und die Feststellung einer Diskrepanz zwischen diesem inneren Sein und einem präetablierten Sollen. Der auf diese Weise - wenn auch nur mit einer für Empirik typischen Wahrscheinlichkeit - indirekt bestehende Widerspruch zwischen dem äußeren Sein und dem präetablierten Sollen bildet die Grundlage für die (vorbehaltliche) Verurteilung des äußeren Seins.

Der Würdigkeitsbegriff: Konstruiert oder nicht?

[§13] Den Verdacht, der Begriff der Würdigkeit sei nicht elementar, sondern kombinativ, da kontextuell strukturiert, könnte jemand mit der These erregen wollen, dass (als Auszeichnung von Handlungen „Gesolltheit“ produzierende) Würdigkeit doch nur im Widerspruchsverhältnis zwischen der Unterlassung einer Willentlichkeit und einem zu Recht etablierten ethischen Satz bestehe.

Eine solche Definition wäre in der Tat offensichtlich kontextuell, somit kombinativ und nicht die Abbildung eines Elementarbegriffs. Jedoch ist sie zirkulär („zu Recht“, „ethisch“) und damit unbrauchbar, was uns eine etwaige Diskussion bereits an dieser Stelle erspart. Dennoch ist es aufschlussreich, darüber hinwegzusehen und sich bewusst zu machen, dass das Vorliegen eines Begriffs als Kontextualbegriff kein Beweis dafür ist, dass er nicht auch als ontische Variante vorliegt. Denn während nicht jeder Kontextualbegriff ein ontisches Pendant besitzt, kann hingegen zu jedem ontischen, und somit auch zu jedem elementaren Begriff ein Kontextualbegriff konstruiert werden, wenn letzterer den Zweck hinsichtlich der Repräsentationsleistung und Abgrenzbarkeit seines Gegenstands von anderen Gegenständen genauso gut oder den einer stärkeren Eingrenzung erfüllt.

Sodann sollte man sich bewusst machen, dass die genannte Definition sich auf etwas bezieht, das sich relativ neutral zunächst, in Anlehnung an die Bezeichnungen für logische Urteile, einfach „ethische Notwendigkeit“ nennen lässt. Die Bedeutung der Ausdrücke „Würdigkeit“ und „Unwürdigkeit“ besteht aber dort, von woher sie genommen wurden, in etwas anderem als irgendwelchen Widerspruchsverhältnissen zwischen Sätzen.

Immerhin besitzt Würdigkeit zweifellos eine Analogie in der Schönheit. Das heißt nicht zwingend, dass die ontischen Begriffe von Würdigkeit und Schönheit, soweit für beide vorhanden, im Kern auch nur das geringste gemeinsam haben. Was sie aber durchaus gemeinsam haben, sind vielmehr ihre typischen Begleitmerkmale: Zu beiden passt Rühmung, wenn auch bei (sinnlicher) Schönheit wohl nur subjektiv; die Erkenntnis bzw. Wahrnehmung eines jeden der beiden zieht Wohlempfinden nach sich, wenn auch bei Würdigkeit nur im Idealfall; beide lassen ihren Träger zum Gegenstand von (und sei es oberflächlicher) Liebe werden; etc.

Die Feststellung dieser Analogie könnte sich als recht nützlich erweisen. Der subjektive Begriff der Schönheit ist - was nicht überraschen sollte - geeignet, ein zentraler Begriff der Lustethik zu sein. Dies gilt insbesondere, zumal es nicht nur visuelle oder akustische Schönheit gibt, sondern auch die von Empfindungen. Letzteres spricht übrigens dafür, dass der Begriff der Schönheit im Kern ontisch und sogar elementar ist, da die naheliegende kontextuelle Definition von Schönheit, nach welcher schön das sei, dessen Wahrnehmung schönes Empfinden mit sich bringe, zirkulär wäre. Jedenfalls repräsentiert das Gutsein einer Handlung - durchaus auch Schönsein genannt18 - lustethisch die Schönheit der erhofften langfristigen Empfindung. Was diesem Ziel widerspricht, dem kommt lustethisch das Gegenteil des Gutseins zu. Analog lässt sich in der idealen Ethik die ethische Notwendigkeit einer Willentlichkeit als repräsentativ für eine begrifflich ontische Würdigkeit ansehen, auch wenn vordergründig nur Widerspruchsverhältnisse betrachtet wurden.

Genau bedacht kann es auch nicht anders sein, denn das Pflichtsein einer potentiellen Willentlichkeit leitet sich letztlich von der Würdigkeit eines finalen Wertträgers ab, oder ist gewissermaßen für diese repräsentativ, und Wertträger können ja auch Entitäten sein, deren Essenzen sich nicht wie z.B. Sätze auf Widerspruchsverhältnisse mit irgendetwas anderem untersuchen lassen - also beinhaltet der Begriff ihrer Würdigkeit ursprünglich nicht die Bezugnahme auf Widerspruchsverhältnisse. Vielmehr sind anstelle von Definitionen jene Widerspruchsverhältnisse lediglich die Bedingung dafür, dass der sozusagen superpositionale Begriff (und nicht nur, wenn eine bloße Definition vorläge, das Lexem) der Würdigkeit auch einer Handlung oder sonstigen Willentlichkeit zugeordnet werden darf. Etwas ähnliches haben wir auch in der Empirik: Wahrscheinlichkeit und Sicherheit sind ursprünglich subjektive bzw. erlebnishafte Eindrücke, deren Wesen von Widerspruchsverhältnissen unabhängig ist; vielmehr sind letztere lediglich Bedingung dafür, dass man von Sätzen, welche diese Bedingung erfüllen, diese Eindrücke haben oder nicht haben „darf“. - Gegen Ende des Eintrags §39 dürfte dies noch klarer werden, wenn sich herausstellt, dass Würdigkeit von den allermeisten ethischen Sätzen lediglich „transportiert“ wird.

Eine Analyse des Imperativkonzepts

[§14] Die Relevanz des Imperativkonzepts in der Ethik dürfte auf der Hand liegen: Jede Wertaussage und jeder normative Satz bildet die Vorlage für einen oder mehrere Imperative, und quasi permanent stellt sich ethisch die Frage, ob einem Imperativ Folge geleistet oder ihm dies verweigert werden soll. Nicht zuletzt sollte eine Analyse des Imperativkonzepts die Beantwortung der Frage erleichtern, was denn nun der unmittelbare Gegenstand abstraktiver ethischer Dialektik ist, zumal so einiges in Frage kommt: normative Sätze, Imperative, Handlungen... Und wo doch Willentlichkeiten im Fokus der Ethik stehen - ist nicht so mancher Willensimpuls eine Art Befehl, der z.B. an die Körperglieder gesendet wird?

Da man nicht alle auf einen einprasselnden Imperative, nicht einmal alle akzeptierten unter ihnen, auf einmal abarbeiten kann und außerdem auch aufgeschobene und verzögerte Ausführungen von Befehlen nötig oder gar verlangt sein können, müssen auch Imperative gespeichert werden können. Dies spricht dafür, dass sie ebenfalls, wie Faktenwissen, Korrelate19 sind, zumindest temporäre. Als Weiteres spricht hierfür, dass Imperative deklarativ formulierbar zu sein scheinen.20

Woraus setzt sich ein „imperatives Korrelat“ nun zusammen? Eine seiner Komponenten ist zweifelsohne ein Begriff für das, was im Falle der idealen Befolgung des Imperativs als Wirkung eines oder mehrerer Willensimpulse des Adressaten oder eines Automatismus in ihm herbeigeführt, unterlassen oder aufrechterhalten würde. Der Begriff steht für eine (zunächst nur) gedachte (da erst nur geforderte) innere oder äußere Realität (S). So komplex der Begriff gestaltet sein und so viele Individualbegriffe er auch in sich instantiieren mag, er ist letztlich ein Allgemeinbegriff,21 und der Imperativ fordert die Herstellung einer realitären Entsprechung dieses Allgemeinbegriffs.

Bezieht das Korrelat auch einen für den Adressaten stehenden Individualbegriff ein? Bei einem typischen kommunikativen Imperativ muss üblicherweise klar sein, wer im Falle eines als endgültig feststellbaren Ausbleibens der besagten realitären Entsprechung verantwortlich ist, häufig auch wenn der Verantwortliche in der Formulierung des Imperativs nicht mit einem eigenen sprachlichen Element bedacht worden ist (z.B. „Das Zimmer sei vor Mitternacht aufgeräumt!“). An irgendeiner Stelle des Korrelats wird in der Regel also ein Individualbegriff für den Adressaten eingebunden. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass diese Einbindung anders als in Faktualkorrelaten auftritt, nämlich als Ursache-Wirkung- oder Akteur-Aktion-Verknüpfung zwischen dem auf den Adressaten bezugnehmenden Individualbegriff und dem für die verlangte Realität. Ein typischer Imperativ fordert nun mal nicht die Verwirklichung einer Situation, ohne dass in der die geforderte Situation repräsentierenden Idee die (erwartete) Verursacherrolle des Adressaten enthalten ist.22

Doch fast noch klarer ist, dass der Individualbegriff zum Adressaten und der Allgemeinbegriff zur gedachten Realität nicht das sein können, was einen Imperativ ausmacht. Denn nichts an den beiden Begriffen und ihrer Verknüpfung, zumal sie zusammen schlicht einen auch andernorts und zu völlig anderen Zwecken einsetzbaren losen Begriff oder Begriffsverbund darstellen, wirkt imperativ.

Dies hat zur Folge, dass im Imperativkorrelat eine weitere Komponente angenommen werden muss, nämlich die des Imperativqualifikators bzw. -charakteristikums. Worin dieses genau besteht, wäre noch zu erörtern; festhalten lässt sich aber, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen Begriff handeln wird, denn es soll ja das Übrigbleibende nach Abzug des propositionalen Teils des Korrelats sein, und Korrelate sind Begriffsverbünde.

Im Überblick setzt sich ein typisches Imperativkorrelat also zusammen aus:



Angesichts des bisher Ausgeführten drängt sich die Erklärung für die Tatsache auf, dass sich die Formate deklarativer und imperativer sprachliche Sätze beidseitig ineinander umwandeln lassen: Jedes Korrelat, egal ob faktual oder imperativ, besteht aus einem Korrelatrumpf, der für sich keinerlei Information darüber enthält, ob er die Abbildung eines Faktums oder einer bloßen Forderung darstellt (Grundproposition). Diese Funktion übernimmt erst eine hinzutretende Komponente, nämlich ein in Imperativkorrelaten die Imperativqualität konstituierender oder mit ihr korrespondierender Begriff, dessen Stelle in Faktualkorrelaten ein die Faktualqualität konstituierender Begriff besetzt, und umgekehrt. Imperativkorrelate und Faktualkorrelate sind also, anders als die Grammatik den Anschein macht, zumindest auf der ersten Ebene strukturell gleich und unterscheiden sich im Wesentlichen ausschließlich durch die Art der qualitativ auszeichnenden Zusatzkomponente.

Dies legt den Boden für eine epistemologisch-konzeptologisch interessante Sichtweise: Jedes Korrelat, egal ob Faktum oder Forderung repräsentierend, besteht nicht nur aus Begriffen, sondern ist letztlich selbst ein (wenn auch komplexer) Begriff, der (bzw. da er) sich genauso einordnen und verarbeiten lässt, wie alle anderen Begriffe auch. Sogar über den Typus, dem ein solcher Begriff angehört, lässt sich etwas sagen - so muss beispielsweise ein Faktualkorrelat mit historischem Bezug insgesamt ein Individualbegriff sein.23

Zurück zu den Imperativen - diese lassen sich in die folgenden Kategorien unterteilen:


Worauf beruht ihre spezifizierende Qualität? Fasst man Imperative als aus epistemischen Korrelaten bestehend oder für solche stehend auf, lautet ein äußerst plausibler Gedanke: Das Imperativcharakteristikum besteht in nichts als einer Instanz des Begriffs der Wichtigkeit oder beinhaltet eine solche zumindest. Für niemanden nämlich ist die Imperativität eines Imperativs, der nicht irgendeine Form von Wichtigkeit der befohlenen Handlung auf irgendeine Weise implizit nahelegt, denkbar. Hinzukommt, dass alle unsere als willentlich wahrgenommenen Handlungen, deren Herbeiführung, Behinderung, Ersetzung oder sonstige Beeinflussung außerwillentliche Imperative anstreben könnten, auf (bewussten oder unbewussten) Prioritätenabwägungen u.ä. basierende Entscheidungen sind, so dass ein Imperativ schon Prioritäten o.ä. setzen bzw. Notwendigkeitsgrade zuordnen oder zu setzen bzw. zuzuordnen sich anmaßen muss, um ein Imperativ zu sein bzw. um zu dem mit ihm verbundenen Ziel zu führen. Ein Imperativ ist einen Willensentschluss zu provozieren bestimmt oder konkurriert potentiell mit dem Willen des Empfängers zumindest, und ein (freier) Willensentschluss geht dem (subjektiven) Feststehen der Wichtigkeitsverhältnisse nicht voraus (darauf wird in Eintrag §21 eingegangen). Und die begriffliche Nähe zwischen Wichtigkeit und Priorität bzw. Notwendigkeit ist kaum zu übersehen (s. Einträge §50 und §102). Die Überlegung zum Zweck einer willentlichen Entscheidung lautet stets: Welche der sich als Option anbietenden Handlungskombinationen und -reihenfolgen (eine solche konstituiert insgesamt wiederum eine Handlung) besitzt den höchsten Notwendigkeitsgrad? Letzteres wiederum bestimmt sich danach, welche der Optionen zu unterlassen am wenigsten im Widerspruch zu einem vorab angeeigneten (z.B. utilitären oder hedonischen) Paradigma steht.

Bei kommunikativen Imperativen fällt auf, dass ihre sprachlich-formalen Gebilde und Befehlsformen von Verben in vielen, wenn nicht in allen Sprachen deutlich kürzer sind als „normale Sätze“: Von „du wirfst“ bleibt im Befehlssatz nur noch „wirf“ übrig. Der Adressat wird hier keiner Bezugnahme anhand eines Pronomens oder einer eigenen Konjugationsendung gewürdigt, allein die geforderte Handlung wird in den Vordergrund gestellt. Eine solche Kürze ist geeignet, nahezulegen:

Der Grundtenor ist offenbar: Es ist kein Raum für den Willen oder den Einsatz der Verstandesfähigkeit des Adressaten. Dass Befehlssätze im Schriftlichen häufiger mit Ausrufezeichen versehen und beim Militär oft mit sehr lauter Stimme verstärkt werden, deckt sich damit: Alle Gedanken hinsichtlich alternativer Handlungsoptionen werden „übertönt“, und ein nahezu paralysierend wirkender Schrei ist geeignet, für einen Moment die Willensfähigkeit geradezu zu lähmen.

Das dürfte angesichts des evidenten Zwecks von Befehlssätzen unter Menschen nicht allzu sehr verwundern, ist im stereotypen Fall doch mit dem Befehlssatz eines Sprechers - und sei es auch ein verzweifeltes und nicht im autoritären Sinne befehlendes „Hilf mir!“ - beabsichtigt, eine andere Person zu einer gewünschten Handlung zu bewegen, insbesondere im Fall zu großer eigener physischer Unfähigkeit oder Begrenztheit. Der Adressat wird kommunikativ der Physis des Senders als temporäres Organ sozusagen „einverleibt“.

Zumindest auf der Kommunikationsebene sind Imperative offenbar nicht bloß dazu da, die Wichtigkeit einer Handlung mitzuteilen, sondern sie zu suggerieren. Suggeriert wird: Die Herstellung bzw. Herbeiführung der realitären Entsprechung des betreffenden Handlungsbegriffs ist von höherer Wichtigkeit als sich ihrer zu enthalten, und die Umsetzung ist wichtiger, als dem eigenen Willen Gehorsam zu verschaffen oder den eigenen Willen überhaupt in Erscheinung treten zu lassen. - Im „Erfolgsfall“ erzielt wird die Suggestion durch die typische sprachliche Form des Befehlssatzes, indem die auf solche Formen ausgerichtete Empfänglichkeit für derlei Suggestionen ausgenutzt wird.

Kommunikative Imperativsätze als sprachliche Gebilde sind somit nicht für Belehrungen, sondern zur Steuerung und Beeinflussung anderer Subjekte gedacht.25 Die Suggestionswirkung geht aber nicht unbedingt auf das Imperativchrakteristikum im Korrelat zurück, sondern auf die sprachliche Form des kommunikativen Imperativs und die mit dieser Form verknüpfte Empfänglichkeit. Spürbar wird das beim phänomenologischen Vergleich eines Befehls mit der ihm entsprechenden Wichtigkeitsaussage („Es ist wichtig, dass du...“), welche neben ihm schwach und angreifbar wirkt. Analog dazu, dass in einer faktualen Wissenseinheit der (angenommenen) Entsprechung eines Korrelatrumpfs prädikativ Faktizität zugeordnet wird, bildet den von seinem sprachlichen Umschlag befreiten Inhalt des Imperativs eine Prädikation (S): Der (potentiellen) Entsprechung eines Korrelatrumpfs wird Wichtigkeit zugeordnet.

Imperative bilden Willensimpulse ab. Woran man dies erahnt: Unter Menschen würde ein Individuum nicht zum Mittel des kommunikativen Imperativs greifen, wenn der Adressat tatsächlich eines seiner Organe und naturgesetzlich seinem Willen unterworfen wäre. Also haben wir es hier mit einer Maßnahme des Individuums zu tun, durch die es im Adressaten einen zu seinem hypothetischen Willensimpuls analogen Impuls erzeugen zu können hofft: die Maßnahme der ferngesteuerten Erzeugung eines Imperativkorrelats im Geistraum des Adressaten. Sobald das Korrelat im Adressaten eine gewisse, z.B. trägheitsbedingte Latenzzeit unverworfen überdauert, startet die Umsetzung; hierbei kann dieser Start der Umsetzung zunächst auch lediglich darin bestehen, in sich einen Plan zur weiteren Umsetzung zu arrangieren.

Wenn nun Willensimpulse durch Imperative repräsentiert werden und diese im Wesentlichen Prädikationen sind, spräche dies übrigens dafür, dass Willen eine Subkategorie der Annahmen ist,  mithin eine Subkategorie des Glaubens. In diesem Zusammenhang bedeutete imperative Suggestion die vonseiten einer Fremdentität erfolgende (mindestens versuchte) Verursachung des Glaubens an eine Wichtigkeit, demgegenüber ein echter Willensentschluss die Selbstüberzeugung von einer Wichtigkeit darstellt, bzw. ein nicht-fremdverursachtes Glauben daran ist.

Es bliebe noch die Frage, warum Imperativsätze als nicht-wahrheitsfähige Sätze gelten, wenn sie doch eigentlich gewissermaßen an Assertionen erinnernde Prädikationen sind. Dies dürfte nicht wirklich verwundern, denn:

Die Unzugänglichkeit der Prädikation eines Imperativs ist mit derjenigen von präsuppositionellen Assertionen zu vergleichen. Ähnlich verfehlt wäre beispielsweise die übliche Art der Leugnung der Aussage: „Die Raben auf dem Mars sind schwarz.“ Statt eines verfehlt wirkenden „Das stimmt nicht!“ muss explizit gesagt werden: „Auf dem Mars leben aber gar keine Raben!“ Analog kann z.B. eine leugnende Reaktion auf einen Befehlssatz lauten: „Hier eine Hütte zu bauen, ist aber nicht wichtig!“

Neigungen

[§15] Umgangssprachlich ausgedrückt, sind Neigungen „das, was man gerne tut“ (Süßes verzehren, faulenzen, Schönes betrachten, etc.) - dies allerdings sind, wenn überhaupt, Neigungen im Sinne der aktionalen Bezugsgegenstände von Neigungen, so dass der Ausdruck hier ein Metonym ist. Was Neigungen im Sinne von inneren Zuständen bzw. Aufkommnissen betrifft, die bei Fehlen von Hindernissen und ausreichender Nähe der Ziele zu Letzteren in der Regel hinführen, umgangssprachlich also das „Gerne-tun-Wollen“, so liegen diesem Ausdruck zwei Begriffe zugrunde. Und zwar sind diese derjenige der akuten bzw. aktualen (d.h. tatsächlich aufgekommenen, sich „meldenden“) Neigung und derjenige der Neigung als Disposition zur aktualen Neigung. Die Parallelen zwischen dem Willen und der Neigung sollten auffallen, z.B.:

Angesichts der Parallelitäten von Neigung und Willen, aber auch des häufigen Konfliktverhältnisses, in welchem die beiden zueinander stehen, könnte es sich als nicht ganz unpassend erweisen, die Aussage zu treffen: Soweit nicht alles Wollen des Menschen lediglich aus - allenfalls höher entwickelten bzw. aus einem herangereiften komplexen Neigungensystem hervorgehenden - Neigungen besteht, sind Neigungen gewissermaßen das „Wollen“ einer zweiten Selbstheit. Dieses Selbst wäre nicht mit der eigentlichen Person identisch und somit nur ein Pseudo-Selbst. Wegen der erwähnten Parallelen sollte es nicht überraschen, wenn das wahre Selbst die Neigungen des Pseudo-Selbst dennoch oft für den eigenen Willen hält.

Sicherheitshalber nehmen wir einige Begriffsunterscheidungen vor, demonstriert anhand eines Beispiels: Die meisten Menschen haben es gerne, Komplimente zu bekommen bzw. gelobt zu werden. Gelobt zu werden an sich ist jedoch, auch wenn sie es gerne haben, nicht das eigentliche „Genusserlebnis“, gleich wie stark die betreffende Person dazu neigt, das Lob der Menschen anzustreben. Gelobt zu werden ist lediglich eine Kategorie von Vorgang oder Ereignis. Das Genusserlebnis ist vielmehr dasjenige, dessen Form bzw. direkter Bezugsgegenstand das sich infolge jenes Vorgangs im Innenleben der Lob empfangenden Person einstellende Wohlgefühl ist. Es ist leicht einzusehen, dass ohne die Erwartbarkeit dieses „Hochgefühls“ der Vorgang des Lobens seine Attraktivität verlöre. Auch ist es denkbar, dass man sich an Lob gewöhnt, so dass man zwar weiterhin gelobt wird und sich dessen bewusst ist, ohne dass sich das Wohlgefühl einstellt. Somit ist weder gelobt zu werden, noch das Bewusstsein hierum mit dem Genusserlebnis zu identifizieren. Derweil ist nichts von alledem, weder das Genusserlebnis noch der dazu gereichende Vorgang bzw. das Ereignis, die Neigung der gelobten oder Lob mögenden Person.  Vielmehr hat die Neigung jenes Erlebnis zum Ziel bzw. gibt dieses als Handlungsziel vor - sie scheint eine Ausrichtung auf das eigentliche Genusserlebnis genannt werden zu können. Letzteres wird in dieser Neigung vertreten durch das, was gemäß der Erfahrung zu dem Genusserlebnis führt,27 nämlich das Lob.28

Auch Triebe gibt es sowohl als Aufkommnisse als auch als Disposition zu diesen und stellen eine Subkategorie der Neigung dar. Diese Subkategorie bestimmt sich u.a.29 dadurch, dass Triebe in der Regel stärker als die restlichen Neigungen sind und außerdem ihrem direkten Vertreter des Genussempfindens, z.B. zu essen oder zu trinken, kein bestimmtes, künstlich oder individuell erworbenes Handlungsmuster innewohnt wohingegen eine sonstige Neigung etwas künstlich oder individuell Erworbenes als direkten Zielvertreter vorgeben kann, z.B. Klavier zu spielen oder Fantasyromane zu lesen. Auch Begierden sind eine Subkategorie der Neigungen - wenn man möchte, kann man speziell natürliche Neigungen zum Konsum oder konsumähnlichen Genuss materieller Gegenstände sowie zur Einverleibung oder direkten physischen Kontakt als „Begierden“ bezeichnen und den Ausdruck hierauf beschränken.

Nebenbei gesagt geht es bei einer Neigung nicht unbedingt immer um die Erzielung einer positiven Empfindung, sondern oft auch um die Beendigung eines negativen Empfindens oder die Vermeidung eines drohenden solchen. Fassen wir die Begriffe des positiven Empfindens und der Freiheit von negativem Empfinden zu einem Oberbegriff zusammen, den wir dem Ausdruck „Wohlseligkeit“ zugrunde legen, lässt sich zur Ersparnis der Kompliziertheit der Formulierung sagen: Neigungen lassen die (sich auch als Steigerung oder Aufrechterhaltung vollziehende) Herbeiführung sinnlicher Wohlseligkeit anstreben. „Sinnlichkeit“ schließt hier die introspektiv bedingte Sinnlichkeit ein und ist nicht auf diejenige beschränkt, die mit der Wahrnehmung der äußeren Sinne eventuell einhergeht.

Es gibt also drei verschiedene ethisch relevante Begriffe, die mit dem Terminus „Neigung“ verknüpft sind:

  1. Ein das Individuum zu einer sinnlichen Wohlseligkeit nach sich ziehenden Aktion zu führen typischerweise geeignetes, endogenes, temporäres Aufkommnis (aktuale Neigung)
  2. Die Disposition zu dem Aufkommnis
  3. Der in Punkt 1 erwähnte Akt (der aktionale Gegenstand des Aufkommnisses)

Da Nr. 2 auf Nr. 1 aufbaut und Nr. 3 eine rein metonymische Definition liefert, ist der erste Begriff der wichtigste: Die akute Neigung ist ein temporäres Aufkommnis, welches, solange nichts mit ihm interferiert und ihm keine Schwäche der Physis und kein sonstiges Hindernis im Wege steht, unausweichlich (dies im empirischen Sinne) eine vollständige Beschreitung eines Weges durch das Individuum zur Folge hat, der gemäß der Erfahrung oder erfahrungsbasierten Einschätzung des Individuums mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als ohne seine Beschreitung zur Entstehung oder Vergrößerung einer positiven Empfindung (Wohlbehagen, Vergnügen) oder zur Verhinderung oder Reduzierung einer negativen Empfindung (Unbehagen, Pein) führt.

Trotz der Verschiedenheit des zum positiven Empfinden führenden Ereignisses (oben: gelobt zu werden) von dem Empfinden selbst, setzt etwas im Menschen - aufgrund der engen empirischen Verknüpfung -  als Bezugsgegenstand der Neigung das Ereignis stellvertretend an die Stelle des Empfindens. Dies stellt wohl sicher, dass nicht jedes Mal von Neuem überprüft werden muss, ob es sich lohnt, sich um die Herbeiführung des Vorgangs oder Ereignisses zu bemühen. Deswegen sagt man eher: „Ich habe Lust, eine Runde zu schwimmen“ als: „Ich möchte ein Wohlgefühl empfinden und Langeweile loswerden.“ Daher rührt der manchen vielleicht irritierende Plural in „Neigungen“, welcher den Eindruck weckt, wir hätten es mit abzählbaren Gegenständen zu tun. In Wirklichkeit handelt es sich bei der theoretischen Rede von zwei verschiedenen Neigungen lediglich um die Rede von zwei kontextualbegrifflichen Subkategorien von Neigung, deren in der Funktion einer differentia specifica begriffsbestimmender Kontext im stellvertretend fungierenden Gegenstand der Neigung besteht, z.B. der Neigung zum Verzehren von Süßem einerseits und derjenigen zum Faulenzen andererseits. Der Plural ist auch insofern passend, als in ihm zum Ausdruck kommt, dass Neigungen sich auch untereinander widersprechen können.

Wie aber kann es sein, dass, wenn die Pluralität der Neigungen nur eine oberflächliche ist, dass sich Neigungen zuweilen untereinander widersprechen? Der Grund hierfür liegt nicht in einer Mannigfaltigkeit der Neigung, sondern in der Mannigfaltigkeit der umgebenden Realität und ihrer mannigfaltigen kausalen Verknüpftheit mit dem Individuum und seinem Zustand hinsichtlich seiner Wohlseligkeit. Ein simples Beispiel hierfür wäre eine hypothetische Realität (S), in welcher eine von Schnupfen geplagte Schülerin von einer überempfindlichen Lehrerin unterrichtet wird, die jeden ausschimpft, der seine Nase in der Klasse mit einem Taschentuch säubert. Hier widerspricht die Neigung, frei atmen zu können, der Neigung zu gefallen, bzw. die Abneigung gegen ein triefendes Riechorgan widerspricht der Abneigung gegen Tadel oder Kritik. Die Mannigfaltigkeit der Realität hat dazu geführt: Eine triefende Nase, und eine überempfindliche Lehrerin.

Schon sprachlich bedingt schwingt im Ausdruck „Neigung“ mit, dass damit etwas bezeichnet wird, was der ausschlaggebende Faktor bei der Bevorzugung einer von zwei oder mehr Handlungsoptionen ist, soweit keine übergeordnete Instanz spätestens kurz vor der Umsetzung einer der Optionen eingreift. Neigungen wohnt eine gewisse Analogie zu physikalischen Kräften inne. Von zwei Neigungen, die miteinander in Konflikt stehen, setzt sich die stärkere durch, indem sie gemeinsam eine resultierende Neigung ergeben, die schwächer als die stärkere Neigung ist, wenn diese alleine wäre, aber immer noch stark genug, um einen Ausschlag zu geben. Jemand, der sehr müde und sehr hungrig auf einem Bett vor einer warmen Speise sitzt, der spürt seine Müdigkeit weniger stark, als wenn er erheblich weniger hungrig wäre. So wird er wohl zuerst etwas essen und sich schon nach einer ansatzweisen Sättigung hinlegen, da irgendwann die akute Neigung zum Essen schwächer geworden ist, diejenige zum Schlafen jedoch nicht, so dass diese dann den Ausschlag gibt. Ohne die Müdigkeit (und natürlich gewisse Prinzipien der Selbstkontrolle) hätte er sich den Magen viel voller geschlagen, und ohne den Hunger hätte er sich sofort zum Schlafen hingelegt.

Neigungen mögen manchen an Zwänge erinnern und muten sozusagen wie eine abgeschwächte Version von ihnen an. Der Aspekt, den diese mit Neigungen gemeinsam haben, ist, dass auch ein Zwang ein Aufkommnis ist, das zu einer Aktion der Person oder zur Verhinderung einer solchen führt, und welches mit dem Willen häufig in Konflikt steht. Eine Verwechselung ist jedoch unbedingt zu vermeiden, denn weder sind die Begriffe der Neigungen und der Zwänge miteinander identisch, noch ist das eine der beiden eine Subkategorie des anderen. Die Unterschiede sind:

Der wichtigste Unterschied zwischen Neigungen und Zwängen kennzeichnet zugleich ihre wichtigste Gemeinsamkeit: Ohne eine innere, übergeordnete Kontrollinstanz, der wirksam Einwendungen gegen Neigungsimperative einzubringen möglich ist, ist der Mensch ein von seinen Neigungen (abgesehen von Zwängen, Reflexen und sonstigen Automatismen) voll gesteuerter Automat. Der Unterschied besteht in der (und sei es begrenzten) Wirksamkeit einer solchen Instanz bei Neigungen und ihrer Unwirksamkeit bei Zwängen, die Gemeinsamkeit derweil im Automatismus bei Fehlen einer solchen Instanz.

Die Bezugsgegenstände der Neigungen

[§16] Die zielvertretenden Bezugsgegenstände von Neigungen lassen sich in zwei Kategorien unterteilen:

  1. Anzugehendes: Aktionen des Individuums selbst
    1. ohne wertableitende Fokussierung auf materielle Objekte
      (z.B. singen, jubeln, brüllen, Gedichte lesen)
    2. mit wertableitender Fokussierung auf materielle Objekte
      (z.B. Cola trinken, Baby liebkosen)
  2. Herbeizuführendes: Fremdaktionen, Zustände und Situationen
    (z.B. Lob anderer Menschen, eine bevorzugte Umgebungstemperatur)

Die erste Kategorie, die der Aktionen des Individuums selbst, lässt sich wiederum in zwei Subkategorien einteilen, nämlich die solcher Aktionen, die eine wertableitende Fokussierung auf einen materiellen Aktionsgegenstand involvieren, und die der übrigen Aktionen. Mit der wertableitenden Fokussierung ist gemeint, dass anstelle der Aktion ein materielles Objekt oder dieses gemeinsam mit der Aktion als der eigentliche Repräsentant der Wohlseligkeit wahrgenommen wird. Hierbei überträgt sich auf subjektiver Ebene der Wert der Wohlseligkeit auf das materielle Objekt, was so weit gehen kann, dass im Bewusstsein die Aktion selber zugunsten des Objektes in den Hintergrund rückt. Dies ist insbesondere dann zu erwarten, wenn es sich bei der Aktion um etwas subjektiv sehr Banales handelt, das zu den tief verwurzelten Automatismen des Individuums gehört, zu denen keine bis kaum Konzentration erforderlich ist, oder zu einem hohen Grad aus einem Instinkt resultiert. Das Rücken der Aktion in den Hintergrund ist auch dann zu erwarten, wenn sie sehr unspezifiziert ist und ganz allgemein in irgendeiner Beschäftigung mit dem materiellen Objekt besteht, weil eben gemäß der Erfahrung des Individuums sehr viele Arten der Beschäftigung mit dem Objekt oder gar jede dem Individuum zur Wohlseligkeit gereicht. Der Grund dürfte darin liegen, dass es schwierig ist, bei einem Bündel von möglichen Aktionen den Überblick zu behalten, so dass keine klar definierte Aktion im Bewusstsein verbleibt, während das Objekt nichts von seiner Definiertheit verliert, oder darin, dass die Wiederholung des Vorkommnisses des gleichen Objekts im Bezugsgegenstand der Neigung als Gegenstand mehrerer zur Wohlseligkeit gereichender Aktionen seinen subjektiven Wert gegenüber der einzelnen Aktion steigert. - Ein Beispiel wäre die natürliche Neigung, sich mit kleinen Kindern zu beschäftigen,31 ohne dass jedem, in dem diese Neigung stark ausgeprägt ist, etwas Konkretes vorschwebt, worin im Einzelnen diese Beschäftigung bestehen könnte (füttern, liebkosen, kommunizieren, spielen etc.). Es wird  über eine Person tatsächlich eher gesagt „Sie liebt Kinder“ als „Sie liebt es, Kinder zu füttern“ oder „Sie liebt es, Kinder zu liebkosen“ etc., obwohl nichts davon von der Wahrheit abweichen wird.

Es ließe sich kritisch anmerken, dass in der zweiten Kategorie („Herbeizuführendes“) ebenfalls stets eine Aktion des Individuums selbst enthalten ist, zumal die Herbeiführung selbst als etwas „Anzugehendes“ bezeichnet werden kann. Doch das Relevante ist hier, dass die Methode der Herbeiführung bei dieser zweiten Kategorie nicht durch die Erfahrung so etabliert und so eng und spezifisch mit der Wohlseligkeit verknüpft ist, dass sich subjektiv etwas vom Wert der Wohlseligkeit auf diese Methode überträgt. Das Zustandekommen einer angenehmeren Umgebungstemperatur folgt auf die Betätigung der Heizung erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Und selbst wenn dies keine Rolle spielt(e): Zu Hause mag man zur Anpassung der Umgebungstemperatur einen Knopf zu drehen haben, draußen in der Wildnis hingegen hat man womöglich ein Lagerfeuer anzurichten und während eines Besuchs den Gastgeber gegebenenfalls höflich um das Öffnen oder Schließen des Fensters zu bitten. Ähnlich bedingt rückte die Aktion schon in 1 b in den Hintergrund, dort zugunsten des materiellen Objekts, hier zugunsten des Herbeizuführenden, und zwar hier noch mehr, denn dort befand sich die Aktion mit dem materiellen Objekt wenigstens mehr oder weniger auf einer Ebene. Hier aber ist die Methode der Herbeiführung dem Herbeizuführenden ganz klar vorgelagert und hierdurch nicht direkt mit der Wohlseligkeit verknüpft. Gleichwohl sei nicht ausgeschlossen, dass sozusagen im letzten Moment, nach dem Feststehen der Methode und ihrer relativen Alternativlosigkeit, die Methode in den Bezugsgegenstand einer aktual aufgekommenen Neigung vorübergehend aufgenommen wird, ohne dass dies für den Bezugsgegenstand der dazugehörigen dispositionalen Neigung gilt.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass „Aufrechtzuerhaltendes“ nicht als dritte Kategorie zum „Anzugehenden“ und „Herbeizuführenden“ hinzukommt, da sich Aufrechterhaltung näher betrachtet als nichts anderes erweist als das Angehen oder Herbeiführen eines zusätzlichen, sich zeitlich an eine bereits bestehende Aktion anschließenden Maßes derselben. Somit ist Aufrechtzuerhaltendes stets entweder (als aufrechterhaltend Anzugehendes) eine Subkategorie des Anzugehenden oder (als aufrechterhaltend Herbeizuführendes) eine Subkategorie des Herbeizuführenden. Gleiches gilt für „zu Steigerndes“, mit dem bloßen Unterschied, dass das zusätzliche Maß sich hier an einen Zeitraum sukzessiv nicht anschließt (horizontal), sondern innerhalb eines Zeitraums hinzukommt (vertikal).

Neigungen: Mysteriöser als gedacht

[§17] In der Regel zweifeln wir nicht daran, zu wissen, was Neigungen sind. Doch je genauer wir analytisch hinschauen, desto mehr verschwimmen ihre Konturen und stellt sich das, was sich mancher vielleicht als ein Völkchen innerer anstachelnder Kobolde vorstellt, immer mehr geradezu als Phantom dar.

Betrachten wir, was wir an Begriffselementen bisher zur Erfassung dieses Phantoms beisammen haben:

  1. Ein inneres Aufkommnis
  2. Ein Ziel des Aufkommnisses: Die Wohlseligkeit der Selbstheit, bestehend in positivem Empfinden und/oder Freiheit von negativem Empfinden
  3. Ein Zielvertreter, d.h. ein Vertreter der Wohlseligkeit als Bezugsgegenstand des Aufkommnisses, bestehend in etwas, das erfahrungsgemäß direkt zur Wohlseligkeit beiträgt (entweder etwas Anzugehendes, d.h. eine eigene Aktion, oder etwas Herbeizuführendes, d.h. eine Fremdaktion, ein Zustand oder eine Situation)
  4. Eine kausale Beziehung zwischen Zielvertreter und Aufkommnis: Das Aufkommnis hat den Vertreter der Wohlseligkeit zur Folge (so dass das Anzugehende angegangen oder das Herbeizuführende herbeizuführen versucht wird)

Das Mysteriöseste an der Neigung ist sie selbst im Hinblick darauf, was sie im Kern sein soll: ein inneres Aufkommnis. Das ist in etwa so vielsagend wie die Spezifikation eines angeblichen Gegenstands einfach nur als etwas, das am Himmel auftauche. Dies lässt ziemlich viel Raum dafür, was es sein könnte: Ein fliegendes Tier, ein Komet oder sonstiger Himmelskörper... Es wird noch mysteriöser: Sogenannte unbekannte Flugobjekte werden wenigstens von irgendjemandem wahrgenommen, zumindest subjektiv. Hat aber jemals jemand wirklich das Aufkommnis, das die Neigung sein soll, wahrgenommen? Im ersten Augenblick würde mancher diese Frage vehement bejahen wollen, denn wir kennen doch Situationen, in denen wir eine innere Anspannung, eine Regung oder einen „Kitzel“ verspüren, wenn eine Neigung aktual wird. Wir spüren einen Mangel und streben danach, diesen zu kompensieren. Nun ist dies sicherlich häufig durchaus der Fall, doch sollten wir nicht vergessen, dass wir dem Aufkommnis eine kausale Wirksamkeit zugeschrieben haben. Ist jene Anspannung dasjenige, dem diese Wirksamkeit zukommt, und somit mit dem Aufkommnis zu identifizieren? Oder ist es die Wahrnehmung bzw. das Spüren des Mangels (der Mangel selbst sicher nicht, zumal, wie bekanntlich nicht untypisch für Neigungen, er bloß eingebildet sein kann)? Leider haben wir keine Mittel auszuschließen, dass in diesen Dingen keineswegs das wirksame Aufkommnis besteht und sie stattdessen bloße Begleiterscheinungen des eigentlichen, nicht direkt wahrnehmbaren Aufkommnisses darstellen.

Mehr noch: Überhaupt das Postulat eines Aufkommnisses als eigener, zusätzlicher Faktor ist ein Kandidat für einen Ryleschen Kategorienfehler32 oder, positiv ausgedrückt, ein rein theoretisches Hilfskonstrukt. Wenn man auf einem der Decks eines Schiffes eine Kamera fest montiert, die den Boden filmt, auf welchem sich eine glatte Kugel befindet, wird man als Beobachter am Bildschirm sehen, wie die Kugel scheinbar regellos mal an einem Ort verharrt, mal plötzlich in eine neue Richtung als zuvor losrollt, usw. Ein Beobachter am Bildschirm, der nicht weiß, dass der gefilmte Boden zum Deck eines auf stürmischer See fahrenden Schiffes gehört, also auch nichts von den behäbigen und doch starken Schaukelbewegungen des Schiffs sieht, wird den Eindruck haben, die Kugel werde ferngesteuert oder rolle aus einem eigenen Antrieb heraus, der auf das Wirken eines ihr innewohnenden, immer wieder aufkommenden oder mit einem Aufkommnis verbundenen Faktors zurückzuführen sei. Ähnlich ist es mit dem Regen, bei welchem sich ohne rudimentäres meteorologisches Vorwissen der Eindruck aufdrängen mag, kurz vor dem Beginn des Regens habe es das Ereignis eines Umdrehens gigantischer Wassereimer oder des Öffnens von Luken im Inneren der Wolken gegeben. Ein zu den permanenten Prozessen und Zuständen hinzukommendes, unabhängiges und ursächliches Einzelereignis gibt es hier auf der physikalischen Ebene nicht,33 lediglich hat die in permanenter Akkumulation von zunächst fürs Herabfallen zu leichten Wassertröpfchen bestehende Kondensation und das damit einhergehende Wachstum der Tröpfchen einen kritischen Punkt überschritten, an welchem die schon vor dem Niederschlag permanent vorhandene Erdgravitation im Niederschlag sichtbar wird. In dem berühmten Märchen, in welcher eine „Frau Holle“ durch das Auschütteln eines Kissens für Schneefall sorgt, finden wir diese Art des Kategorienfehlers übrigens wieder.

Sicherlich gibt es in neigungsbestimmten Wesen Aufkommnisse, auch solche, (z.B. hormoneller Natur) die eine zu Aktionen führende oder solche begünstigende kausale Wirkung mit sich bringen, doch ist für die Funktionsweise der Neigung eine solche anzunehmen nicht nötig. Es dürfte genügen, davon auszugehen, dass sich jedes wache, neigungsbestimmbare Individuum permanent in einem Modus des Ansteuerns möglichst idealer Wohlseligkeit befindet, ähnlich wie physikalische Körper (vgl. die Kugel) auf der Erde permanent zum Erdmittelpunkt streben, und der Aufkommnis-Eindruck daher rührt, dass in der Vorstellung (z.B. im Rahmen einer gewöhnlichen Assoziationenverkettung oder infolge direkter Wahrnehmung) mehr oder weniger zufällig verschiedene Zielvertreter auftauchen (vgl. die Lageänderungen des Schiffs), von denen sich das Individuum in unterschiedlichem Maße, je nach seiner Erfahrung mit diesen Zielvertretern, verspricht, durch ihre Angehung oder Herbeiführung eine Erhöhung seiner Wohlseligkeit zu erzielen, woraufhin das Individuum automatisch beginnt, auf den jeweiligen Zielvertreter vorwärts „zuzuschweben“, und zwar in der nahtlosen Fortsetzung eines schon zuvor im Gange gewesenen „Schwebens“, mit dem einzigen Unterschied, dass dieses auf einen anderen Zielvertreter gerichtet gewesen war.

Die erwähnte „Sichversprechung“ besteht in der Zuordnung des Werts, die das Individuum (besser gesagt: seine sekundäre Selbstheit oder sein Akteursystem) bezüglich der verschiedenen Zielvertreter (vor der Ansteuerung) vornimmt bzw. vorgenommen hat. Der jeweilige Wert ist vom subjektiven und doch apriorisch anmutenden Wert der Wohlseligkeit abgeleitet und stets geringer als dieser ihr Wert, aber umso höher, je sicherer der Zielvertreter der Beurteilung des Individuums zufolge zu ihr führt, und je intensiver, länger und zeitnäher sie durch ihn der Erfahrung nach ist. Tauchen zwei oder mehr Zielvertreter in der Vorstellung auf, kommen diese mit in der Regel unterschiedlichen Werten daher, und automatisch wendet sich das neigungsbestimmte Individuum dem Zielvertreter mit dem höheren Wert zu, um ihn anzusteuern, wenn sich nicht beide zugleich angehen oder herbeiführen lassen. Da in solch einem Fall eine Aktion auszuführen bedeutet, die andere nicht zu tun, erhält die Unterlassung der anderen denselben Wert. Folglich verliert die wertkleinere Aktion ihren Wert vorerst vollends (der Wert der Unterlassung überwiegt ja ihren Wert), und der Wert der wertgrößeren Aktion verkleinert sich um den Wert der wertkleineren Aktion, eben weil auch die wertkleinere Aktion auszuführen die andere Aktion zu unterlassen impliziert. Lassen sich zwei Zielvertreter zugleich angehen, addieren sich ihre Werte hingegen (z.B. unterhaltsames Beisammensein mit Freunden und Verzehr von Kaffee und Kuchen). Bestätigt sich in der Realität die Addierung der Werte durch eine Wahrnehmung der Addierung der Wohlseligkeit, verschmelzen die beiden Zielvertreter zu einem einzigen, der als solcher gespeichert wird. Dass eine solche Bestätigung allerdings nicht zwingend ist, ist eine allseits bekannte Erfahrung (bei unappetitlicher Kombination von einzeln und für sich als appetitlich wahrgenommenen Elementen; für wohl die meisten z.B. Grillwurst mit Nougatcréme).

Das „Ansteuern“ des Zielvertreters ist eher ein Schweben oder Fallen in Richtung des Zielvertreters und besteht in nichts anderem als in der Angehung der den Zielvertreter darstellenden Eigenaktion oder in der Herbeiführung der Fremdaktion oder Situation, in welcher er besteht. Der Modus der Bewegung in Richtung irgendeines Zielvertreters wird praktisch nie unterbrochen, es ändert sich lediglich die Richtung, je nach dem, wie die Werte subjektiv über die Zielvertreter verteilt sind. Hier ist keine Bewegung im naiv-physikalischen Sinne gemeint, so ändert sich an dieser Darstellung auch nichts im Falle eines Individuums, das von außen betrachtet lediglich träge und regungslos herumliegt. Sein Zielvertreter, solange er im sinnlichen Wert alle Alternativen übertrifft, ist in dem betreffenden Moment das Weiterliegen oder etwas, das ein solches Weiterliegen impliziert (z.B. weiter intensiv tagträumen). - Mit dem neigungsbestimmten Wesen und seinen Aktionen verhält es sich somit in etwa wie mit einem bergabwärts strömenden Fluss, der vertikal nur eine Richtung kennt (abwärts) und lediglich je nach dem, was ihm auf dem Weg für Ebenheiten (analog zu den Zielvertretern) begegnen und wie stark diese ausgeprägt sind, die Richtung auf der horizontalen Ebene ändert (nach rechts oder links). Sein Fallen in Richtung Erdmittelpunkt hört jedoch, mindestens solange er nicht am Bergfuß angekommen ist, nicht auf. In diesem Licht erweist es sich als besonders passend, dass im deutschen Wort „Neigung“ eine Abwärtsrichtung anklingt, und noch passender, dass das entsprechende arabische Wort, hawâ, als Verb „sinken“ oder „fallen“ bedeutet.

Besteht man also auf dem Begriff des Aufkommnisses als Angelpunkt der Definition der Neigung, so bietet sich an, hinter dem Begriff der aktualen Neigung das Aufkommnis (V) einer als Zielvertreter geeigneten (da etwas Angeh- oder Herbeiführbares)  und als solcher ausgezeichneten (d.h. subjektiv wertbehafteten) Vorstellung (S) zu sehen. In diesem Modell wird das Aufkommen zwar nicht als an sich oder direkt kausal wirksam gekennzeichnet, aber wenigstens ist klar, was das Aufkommende ist, und das feste Einhergehen der aktionalen Wirkung mit dem Aufkommen der Vorstellung genügt, um ihrem Aufkommen oder sogar der Vorstellung selbst rein methodisch den Status einer Ursache zuzuweisen, auch wenn die eigentliche(-re) Ursache in einem völlig unterhalb jeder Bewusstseinsebene liegenden Mechanismus wurzeln mag und das Bewusstsein lediglich den Schaum wahrnimmt, mit dem verborgene Meeresströmungen spielen.

Der subjektive Wert der maximalen Wohlseligkeit

[§18] Gefühle der Mühe etc. ändern übrigens nichts am Schwebe- bzw. Fallcharakter der Grundbewegung, die dem neigungsbestimmten Agieren zugrunde liegt. Auch wenn die Negativität solcher Gefühle Alternativen einer aktuellen neigungsbedingten Aktion theoretisch natürlich durchaus einen Wert verleiht, so ist dieser dennoch effektiv gleich Null, solange theoretisch die aktuelle Aktion einen noch höheren Wert hat, der nun reell durch den theoretischen Wert der Alternative lediglich gemindert wird. Das Mühegefühl ist kein Indiz dafür, dass die Bewegung vom Individuum unabhängig vom Grundmodus aufrechterhalten wird, sondern lediglich die inkaufgenommene Begleiterscheinung einer speziellen Richtung der Bewegung. Eher zeigt es, dass das Individuum von jeder alternativen Aktion eine noch größere Negativität erwartet, welche nicht einmal einer größeren Mühe anhaften muss, zumal Negativität vielerlei anhaften kann (Reue, Trauer, Blamage, Mitleid etc.). Solange kein wertvoller erscheinender, konkurrierender Zielvertreter in der Vorstellung oder Wahrnehmung auftaucht, wenngleich die Wahrscheinlichkeit hierfür angesichts der zu erwartenden Marginalität des Restwertes mühebehafteter Zielvertreter recht hoch ist, wird der Kurs beibehalten.

Wohl aber kann aufgrund eines außerordentlich geringen resultierenden Wertes eines Zielvertreters die Dichte der Aktion bzw. ihre Intensität gering ausfallen. Zuvor führe man die folgende Betrachtung durch: Wenn sich der subjektive Wert eines Zielvertreters vom Wert der höchsten Wohlseligkeit ableitet und es nur die technische „Leistungsfähigkeit“ des Zielvertreters ist, die den Wert mindert, wie groß ist dann der Wert dieser höchsten Wohlseligkeit, und wie wird dieser bestimmt? Unendlich groß kann er nicht sein, denn dann wäre das von ihm nach der Subtraktion Übrigbleibende ebenfalls unendlich groß, so dass auch der Wert jedes gleich wie leistungsschwachen Zielvertreters subjektiv unendlich groß wäre.  Aber ohnehin ist hier die Möglichkeit des Messens in numerischen Absolutwerten, gleich ob endlich oder unendlich, als nicht gegeben anzusehen, denn für die Angabe eines numerischen Absolutwertes fehlt jegliches Kriterium, zumal die Grenze der höchstmöglichen Wohlseligkeit vor ihrer Erreichung nicht festlegbar ist, selbst wenn ein Begriff der kleinstmöglichen Wohlseligkeit, sozusagen eines „Wohlseligkeitsquantums“, vorläge. Maßgeblich können also ausschließlich prozentuell darstellbare Verhältniswerte sein. Die notwendig damit verbundene Annahme ist, dass in der Regel jedes Individuum irgendeine maßgebliche Vorstellung von 100%-iger Wohlseligkeit hat, auf deren Basis Zielvertreter ihre Werte haben. Diese vollkommene Wohlseligkeit kann bestehen in der/dem höchsten...

Für die systemische Effektivität muss diese Vorstellung bzw. latente Annahme nicht unbedingt realistisch sein, so kann man z.B. zur im zweiten Punkt genannten höchsten vorstellbaren Wohlseligkeit in Wirklichkeit unfähig und diese lediglich auf Grundlage von Erfahrungswerten konstruiert sein, ja die Konstruktion auch weitgehend spekulativ sein, z.B. wenn bezüglich eines bestimmten Zielvertreters (der leider auch eine Droge bzw. ihre Einnahme sein kann) die zunächst nicht überprüfbare Angabe kommt, er bringe eine doppelt so hohe wie die höchste bisher erfahrene Wohlseligkeit. - Das höchste bisher erfahrene Wohlempfinden musste hier als Alternative zur höchsten bisher erfahrenen Wohlseligkeit übrigens in Erwägung gezogen werden, weil das eine höher sein kann als das andere und umgekehrt.

Jedenfalls bedeutet obiges, dass sich die Hundertprozentgrenze immer wieder neu definiert, insbesondere da immer wieder die Erfahrung eines positiven oder negativen Empfindens bisher noch nicht erlebter Intensität möglich ist oder die Spitze eines solchen Empfindens in Vergessenheit geraten kann.

Der Zielvertreter hat einfach einen geringeren Prozentwert, je leistungsschwächer, desto geringer. Freilich können wir auch auf dieser Basis selten einen genauen Prozentwert benennen. Dies geht wohl auf permanente, naturbedingte Fluktuationen im Zustand des Akteursystems und in der Fokussiertheit bzw. Reinheit der Introspektion zurück. Jedenfalls hängt die subjektive Bewertung eines Zielvertreters davon ab, inwiefern man ihn (insbesondere anhand von Wahrscheinlichkkeitsbetrachtungen) als zur höchstmöglichen Wohlseligkeit führend einschätzt. Diese Einschätzung kann sich noch während der Verfolgung eines Zielvertreters (z.B. bedingt durch physische Zustände wie Müdigkeit, oder durch Vergessen oder veränderte Konzentration) ändern und diese Änderung zwischenzeitlich einen anderen Zielvertreter „hochspülen“; die Ansteuerung eines Zielvertreters kann zugunsten eines anderen kurz- oder langfristig immer wieder unterbrochen werden. Dies wirkt sich auf die Aktionsdichte aus. - Vertreter von Zielvertretern gibt es natürlich auch und werden nach einem analogen Prinzip bewertet.

Ein interessanter möglicher Fall ist die Konfrontation des Subjekts mit zwei verschiedenen, miteinander in Konflikt stehenden Zielvertretern von jeweils demselben subjektiven Wert, während alle anderen potentiellen Zielvertreter einen geringeren Wert haben (so dass sich nichts Drittes „freuen“ kann, während die zwei sich streiten). Wohin wendet sich das neigungsbestimmte Subjekt? Zunächst scheint klar zu sein, dass ein solcher dauerhafter Gleichstand wie im Gleichnis von Buridans Esel, der zwischen zwei gleichartigen und gleich nahen Heuhaufen verhungert, praktisch ausgeschlossen ist. Denn zum einen dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet die zwei Zielvertreter mit dem höchsten Wert trotz unzähliger möglicher Feinabstufungen genau denselben Wert haben, ähnlich gering sein, wie dass eine in die Luft geworfene Karte auf einer genau waagerechten Ebene so auf einer ihrer Kanten landet, dass sie zu beiden Seiten einen Winkel von exakt 90 Grad aufweist. Hinzu kommen die feinen natürlichen und unwillentlichen Fluktuationen, denen unsere Wahrnehmung und unsere Bedürfnisse permanent ausgesetzt sind, die auf die Wertverhältnisse wie die Luftströme und Bewegungen der Luftmoleküle auf die Lage der gefallenen Karte wirken.

Nehmen wir dennoch einen Gleichstand wenigstens für eine kleine Zeitspanne an, ließe sich annehmen, dass zwischen den beiden in Konflikt stehenden Zielvertretern eine temporäre wechselseitige Wertneutralisierung zustande kommt, so dass die beiden zusammen betrachtet effektiv 0% Wert haben und jetzt ein zuvor wertmäßig unterlegener Zielvertreter ins Blickfeld rückt und anvisiert wird, und sei er noch so situationsfremd. Assoziationen zum von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen eingeführten, ethologischen Konzept der Übersprungsbewegung sind hier durchaus zulässig, wenn auch nicht zwingend. Doch spätestens diese Ablenkung wird auf irgendeinem Weg die beiden vorigen Zielvertreter aus dem wertmäßigen Gleichgewicht bringen.

Es allerdings fraglich, ob in solchen Situationen immer ein dritter Zielvertreter denkbar ist. Wenn beispielsweise jemand einerseits extreme Langeweile empfindet und andererseits in gleichem Maße träge ist, stehen zwei Zielvertreter (irgendetwas tun und nichts tun) in Konflikt, die von keinem dritten Zielvertreter ersetzt werden zu können scheinen. Besonders in Konfrontation mit einem begrenzten Zeitfenster kann sich eine solche Situation einstellen, wenn nur zwei Handlungen in der verbleibenden Zeit zu vollbringen vorstellbar ist und jede dritte Handlung den Zeitrahmen sprengen würde.

Hinzukommt, dass sich beim Menschen die Sache komplexer darstellt: Wegen seiner Fähigkeit, über die Konsequenzen seines Handelns zu räsonieren und antizipativ vorzugehen, bzw. wegen seiner Konditionierung, Zielvertreter auf Basis ihrer wahrscheinlichen Konsequenzen zu revaluieren und diese erst nach einem genügend klaren Ergebnis anzusteuern bzw. stets die Konsequenzen von etwas mit diesem zusammen als Zielvertreter im Blick zu haben, können sich viele sonst unterschiedlich wertvolle Optionen wegen gleicher Unklarheit der Konsequenzen ihm über einen längeren Zeitraum hinweg als gleichwertig darstellen. Der Effekt erinnert an die Reduzierung von Verwackelungen in Filmaufnahmen auf Basis von Fuzzy-Logic-Algorithmen.

Jedenfalls sollen sich an späterer Stelle gerade solche Pattsituationen gewissermaßen als potentielle Ventile des verantwortlichen Willens erweisen.

Neigungen als Produzenten von Imperativkorrelaten

[§19] Dass eine Neigung sich hinreichend durch ein Imperativkorrelat abbilden lässt, lässt sich genauso herleiten, wie dass sich Willensimpulse durch ein solches abbilden lassen (s. Eintrag §14). Es ist somit offensichtlich, dass sich einem isolierten Imperativkorrelat ohne Weiteres nicht ansehen lässt, ob es im Zuge einer Neigung gebildet wurde, oder ob es einen anderen Hintergrund hat.

Neigungen als Produzenten von Imperativkorrelaten anzusehen, schadet selbst dann nicht, wenn dieser Ansicht eine bloße Hypothese zugrunde liegt. Denn spätestens zur neigungsfremden bzw. intellektbasierten Verhinderung der realitären Manifestation einer Neigung wird die rationale Betrachtung eines dem der Neigung genau entgegengesetzten Imperativkorrelats relevant, so dass direkt oder indirekt das hypothetische Korrelat ohnehin im Raum steht. - Woran aber ist ein Imperativ der Neigung von einem neigungsunabhängigen Imperativ unterscheidbar? Zumindest theoretisch sollte jeder Imperativ, wenn er hauptsächlich dem Zustandekommen einer positiven oder der Abwehr bzw. Vermeidung einer negativen Empfindung - einer selbstheitlichen Passivität -, und somit dem Selbst als Letztziel und Fürgrund dient, als neigungsbestimmt klassifiziert werden. Die zeitliche Nähe eines vorhergehenden Aufkommens eines zum Imperativ passenden Bedürfnisses der Selbstheit ist hierbei zwar ein Anhaltspunkt für die Neigung als Quelle eines vorliegenden Imperativkorrelats. In der Praxis aber steht einem isolierten Imperativkorrelat nicht auf der Stirn geschrieben, welchem Fürgrund es dient, und das Passen des Bedürfnisses könnte ein Zufall sein - ganz zu schweigen von den unbewussten Bedürfnissen, die ein Mensch haben kann. Ethisch relevant ist daher weniger, wodurch kausal-empirisch ein Imperativkorrelat aufgebracht wurde, als weshalb man ihm bewusst zustimmt oder es bewusst verwirft.

Dass Neigungen gewissermaßen Imperativkorrelate produzieren, braucht man jedoch nicht als bloße Hypothese zu behandeln. Schließlich sind es Begriffe und Korrelate („Sätze“), mit denen der Intellekt arbeitet, und nicht Phänomene an sich. Um die Zulässigkeit des Anspruchs oder der Befolgung einer Neigung zu prüfen, benötigt der Verstand ein Korrelat. Selbstredend kommt etwas anderes als ein Imperativkorrelat nicht in Frage. Ob es wirklich die Neigung ist, was das Korrelat produziert, oder der Verstand, oder die Selbstheit, oder irgendein peripherer innerer Mechanismus, ist sekundär.

Aus selbstbeobachtender Erfahrung können wir wissen, dass aufkommende Neigungen sofort einen Aktionsprozess in Gang setzen, welcher häufig mit sehr subtilen Aktionselementen beginnt, und handele es sich bei einem solchen Element auch nur um die zusätzliche Sekunde des dem Planen dienenden Stehenbleibens oder des Blickens, das über das Reflexhafte hinausgeht, oder auch nur das erste innerliche, gedankliche Abwägen. Es ist reine Selbstkonditionierung, den Aktionsprozess erforderlichenfalls frühzeitig - genauer: immer frühzeitiger - abzubrechen, ob nun aus ethischen oder aus anderen Erwägungen heraus. Neigungen haben also eine der Suggestion analoge bzw. eine ähnliche Suggestionswirkung wie kommunikative Imperative, wenn die der letzteren nicht gar einfach darin besteht, mit ihrer speziellen sprachlichen „Kodierung“ Neigungen (bzw. Hoffnungen und Befürchtungen) semiverbal zu wecken und ihre Wirksamkeit auszunutzen. Darum lässt sich momentan kein besonders schwer wiegender Einwand dagegen erkennen, Neigungen Imperative zu nennen und als Lieferanten von Imperativkorrelaten anzusehen.

Die Geschwister der Neigungen

[§20] Es ist festzustellen, dass es im Menschen etwas zu den Neigungen Analoges gibt, dass weder sinnliche Wohlseligkeit zum äußersten Ziel hat noch als echter Wille zu klassifizieren wäre, zumal es manchmal auch fast geistesabwesend befolgt wird. Dessen lässt sich beispielsweise bewusst werden, wenn der Blick auf die Abbildung eines technischen Produkts auf einem Prospekt fällt - durchaus im ersten Moment womöglich nur neigungsbestimmt und durch eine sinnlich ansprechende Gestaltung des Produkts oder des Produkts eingefangen - und man in sich den Impuls feststellt, den Prospekt zu nehmen und sich das Angebot samt den darin aufgeführten Spezifikationen näher anzuschauen. Genau diesen Impuls wird man in einer Selbstreflexion nicht immer als Neigung zu klassifizieren vermögen, obgleich man schon erkennen mag, dass kein ethisch relevanter Wille im Spiel ist, zumal man sich nicht bewusst zwischen zwei Handlungsoptionen entschied, sondern eher auf die bevorstehende Handlung wie ein Blatt auf den Wellen eines Bächleins zutrieb. Durchaus aber wird man es in solchen Situationen oft passend finden, den Impuls ein Interesse zu nennen, wenn auch u.U. ohne zu wissen, wieso. Als angemessen erscheint die Frage: Sind Interessen keine Neigungen? Irgendwann sollte dann klar werden, dass sich in einer solchen Situation in der Tat keine typische Neigung gezeigt hat, zumal der Impuls nicht auf ein Genusserlebnis oder dergleichen hinaus „wollte“, sondern auf den Gewinn eines Nutzens.

Da ist nun wieder das, dessen Assoziation in diesem Artikel schon zuvor bei den Meditationen rund um das Konzept der Neigung merkwürdig gefehlt hat, nämlich das Nutzenprinzip, das Komplement zum Lustprinzip. - Jedenfalls ist nun ein Parallelbegriff zu den Neigungen gefunden und zugleich eine zweite Quelle oder Art potentiell willensfremder Imperative: Interessen. Die beiden Begriffe unterscheiden sich auf kontextueller Ebene, und zwar nur im Endziel, das bei der Neigung eine positive Empfindung oder die Freiheit von negativen Empfindungen ist, und beim Interesse der Gewinn eines Nutzens oder die Abwendung bzw. Reduzierung eines Schadens.

Entsprechend wird in der Wirtschaftspsychologie tatsächlich zwischen pragmatischen und hedonischen Qualitäten von Produkten sowie zwischen  utilitär bzw. pragmatisch und „hedonisch“ motivierten Konsumenten unterschieden. Sie stellt einen regelrechten Dualismus und in diesem Rahmen vielerorts fest, dass sich diese beiden Gruppen von Konsumenten signifikant unterschiedlich verhalten und in relevanter Weise verschieden auf bestimmte Umstände in der Konfrontation mit Werbung und beim Einkaufen reagieren.34

Zu den Begriffen der akuten Neigung und des akuten Interesses lässt sich ein sie zusammenfassender Oberbegriff „Konation“ prägen.

Das bisher zu den Neigungen Gesagte lässt sich komplett auf Interessen übertragen, mit dem einzigen Unterschied, dass bei Interessen der Zielvertreter keiner sinnlichen Wohlseligkeit, sondern einem Nutzen direkt vorgelagert ist.

Des Willens wahres Wesen

[§21] Es gibt wohl kaum eine metaethische These, die unter Laien und Theoretikern so konsensfähig und so evident ist wie diejenige bezüglich der Vitalität der Rolle, die der Wille in der Ethik spielt. Ohne Willen gibt es keine Schuld, denn  immerhin beansprucht die Aussage bezüglich einer negativen Situation, man habe diese nicht gewollt, eine Entschuldigung zu sein. Ohne Willen gibt es keinen Adressaten für ethisch-normative Sätze. Ohne Willen gibt es keine Ethik. Wille ist ethisch relevant. Was aber ist Wille überhaupt?

Erfährt eine Person aus den Medien, regelmäßiger Sport fördere geistige Fähigkeiten wie Intelligenz und Gedächtnis und bewahre sie vor dem Verfall, beginnt anlässlich dessen gemäß der Empfehlungen, wöchentlich drei Mal eine halbe Stunde zu joggen und gibt dies aber schon nach zwei Wochen auf oder rafft sich sogar trotz des festen Vorhabens schon am ersten Tag nicht auf, sondern verbringt ihre Freizeit wieder wie zuvor überwiegend mit dem Konsum von Videospielen, dann können für dieses Verhalten verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Z.B. ist sie sich möglicherweise nach einer zweiten Lektüre der Nachricht nicht mehr sicher genug, ob die in den Medien erwähnten Studien auch wirklich hieb- und stichfest sind. Oder sie ist im Nachhinein zu der Meinung gelangt, dass der Grad der gewonnenen oder bewahrten geistigen Kräfte zu gering und der Mühe nicht wert sei oder auch durch andere Methoden gewonnen oder bewahrt werden könnte. Kann man derweil solche und ähnliche Faktoren allesamt ausschließen, ist man zur Begründung gemeinhin zu einer typischen Aussage geneigt: „Ihr Wille war nicht stark genug.“

Kritik der Willenskraft

Näher betrachtet, könnte sich diese Aussage als reichlich merkwürdig erweisen. Was soll es bedeuten, der Wille sei nicht stark genug gewesen? Nun, die Person habe das regelmäßige Joggen halt nicht stark genug gewollt, wird man als Antwort hören. Oft hört man dies als Vorwurf: „Du hast es eben nicht stark genug gewollt!“ Oft aber auch als um Verständnis werbende Entschuldigung: „Mein Wille war einfach nicht stark genug.“ Vielleicht auch so: „Du hast gut reden. Ich habe halt nicht so einen starken Willen wie du.“ - Ist denn der Wille wie ein Muskel, der an seine physischen Grenzen stoßen kann? Wie kann ein solcher Wille ethisch relevant sein? Gibt es eine Willenskraft, die im Kleptomanen bei seinem spontanen Diebstahl oder im Lustmolch bei seiner Belästigung einfach mal wieder aufgebraucht war, so dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte? - Sicherlich gibt es innere, sogar trainierbare Widerstandskräfte gegenüber Versuchungen und ähnliche Kräfte - doch bei einem ethisch grundlegend relevanten Willen in diesem Sinne von einer „Willenskraft“ zu reden, mutet bei näherem Hinschauen wenn nicht absurd, so doch mindestens problematisch an. Das zwar, was der Mensch als Mittel benötigt, um seinen Willen zu realisieren, kann durchaus in Kraft und Potential nachlassen, seien es nun Gliedmaßen, der Organismus, Geld oder anderes. Kann aber ein Wille, der nur deswegen nicht vollständig realisiert wird, weil er selbst und in sich an Grenzen stößt oder gar von äußeren Faktoren bis zum Grad der Wirkungslosigkeit abgeschwächt wird, ethisch grundlegend relevant sein? Kann das ein wahrer Wille sein? Wäre dies nicht eine klare Einschränkung der Willensfreiheit und somit eine Infragestellung der ethischen Relevanz eines solchen Willens? Um eine ungefähre Analogie anzuführen: Wenn ein Gabelstapler eines Tages seine typischen Gewichte nicht mehr oder nicht mehr hoch genug hebt, so liegt dies in den seltensten Fällen daran, dass den Fahrer beim Umlegen des Hebels die Kraft in der Hand verlassen hat...

Den Willen betrachtet man gemeinhin als eine Art Ursache oder maßgeblichen Grund für ein bestimmtes willentliches Handeln. Wohl darum meint man „Willensschwäche“ als Begründung für das vorzeitige Aufgeben eines willentlichen Handelns anführen zu können. Überlegen wir aber mal, was der „willensschwache“ Jogger zu Beginn seiner regelmäßigen Aktivität wahrscheinlich geantwortet hätte, wenn man ihn gefragt hätte, warum er nun begonnen habe zu joggen. Etwa: „Weil ich es will“, vielleicht? Kaum jemand würde eine solche Antwort wirklich ernstnehmen und als informativ akzeptieren. Eine akzeptablere Antwort wäre: „Weil ich von der intellekterhaltenden Wirkung des regelmäßigen Sports erfahren habe.“ Allerdings ist diese Antwort nicht vollständig und verzichtet auf die Erwähnung des Ausschlaggebenden, denn reine Erfahrung ist nie die Ursache für irgendeine willentliche Handlung, nicht einmal für eine bloß neigungsbedingte Handlung. Vom Umfallen eines Sackes Reis in China aus gewissen Medien zu erfahren, ist denkbar, doch kaum einen von uns würde dies zu weitreichenden willentlichen Handlungen veranlassen. Die vernunftgerechte Vervollständigung der Antwort lautet freilich vielmehr: „... und (weil) meine geistigen Fähigkeiten für mich (zu) wertvoll sind (um sie verfallen zu lassen.)“35 Dass der Verzicht auf diese Ergänzung die leichte Denkbarkeit ihres Inhalts zum Hintergrund hat, dürfte klar sein. - Sicherlich wäre die folgende Antwort fürs Erste zwar nicht unakzeptabel erschienen: „... und ich meine geistigen Fähigkeiten nicht verfallen lassen will.“ Doch auch nach dem Grund dieses sogenannten (!) Wollens hätte man fragen können, und nach dem Grund eines weiteren als Begründung dieses Wollens angeführten Wollens ebenfalls usw. ... am Ende stünde stets die Angabe eines intelligiblen oder wenigstens eines sinnlichen oder emotionalen Wertes als Begründung. Es ist nicht ohne Signifikanz, dass sich problemlos nachvollziehbar sagen lässt: „Ich will X haben, weil X für mich einen großen Wert hat“, nicht aber besonders nachvollziehbar: „X hat für mich einen großen Wert, weil ich X haben will“, oder dies zumindest auf eine anmaßende Haltung hinwiese, denn laut der zweiten Aussage, wenn sie überhaupt einen Sinn haben soll, rechtfertigt der Sprecher den Wert von X implizit mit einem im Voraus angemaßten Wert seiner eigenen Person.

Jedenfalls haben wir hier nun die „Ursache“ und ahnen, was der menschliche Wille in seinem Ursprung ist: Ein Bewerten, bzw. eine Wertbeimessung. Und was zu gering gewesen ist, ist beim ethisch relevanten Willen nicht eine im Augenblick der Handlung aufgebrachte Naturkraft, sondern der Wert, welchen die Beispielperson mentalen Fähigkeiten beigemessen hatte (im Verhältnis zu Bequemlichkeit und Zerstreuung). Schon gar nicht handelte es sich um eine sich allmählich verringernde Kraft. Die Beimessung geschah nicht erst im Augenblick der Handlung, und mit hoher Sicherheit nicht einmal beim Erfahren der Studienergebnisse, sondern lange vorher. Das Maßgebliche, um wenigstens in einem entfernten Sinn von Ursächlichkeit und somit von Willen reden zu können, ist hier übrigens nicht die absolute Höhe des Wertes (die würde hinsichtlich der geistigen Kräfte fast jeder als für ihn sehr groß darstellen), sondern die Höhe, die mindestens nötig ist, um Motivationen zu erzeugen, welche die hemmenden bzw. ablenkenden Neigungen langfristig zu überwinden geeignet sind.

Wertbeimessungen - besonders (wenn nicht vielmehr nur) der unabgeleitete Teil unter ihnen - sind das eigentliche (am) Wollen, denn alle Impulse, die keine solchen Beimessungen sind, sind entweder eine natürliche Folge der Wertbeimessungen oder nichts anderes als Naturimpulse der Neigung und des Nutzeninteresses. Als die rein geistige, womöglich immateriell zu nennende Operation, die eine Wertbeimessung darstellt, braucht für sie selber keine Kraft aufgewendet werden. Sie muss als von physischen, chemischen und biologischen Voraussetzungen unabhängig oder zumindest in hinreichendem Maße unabhängig gedacht werden.

Der eigentliche Wille

Man kann aber, um der subjektiven Wahrnehmung der Allgemeinheit gerecht zu werden, von verschiedenen Ebenen, Manifestationen oder Manifestationsebenen des Willens reden. Die ursprünglichste Ebene ist nun die der Wertbeimessung. Das, was die Allgemeinheit der Menschen, scheinbar abweichend davon, gewöhnlich Willen nennt oder als solchen wahrnimmt, nämlich das, was sich - oft unmittelbar - vor und teils während einer neuen Handlung im Inneren des Menschen einstellt und häufig förmlich spürbar ist (insbesondere in der Brustgegend), ist - selbst wenn als im Ursprung neigungsfrei gedacht - nicht der eigentliche Wille. Der eigentliche Wille (bzw. das, was potentielle Autonomie und naturale Indeterminiertheit betreffend am ehesten so bezeichnet zu werden verdient hat) geht willensbestimmten Aktionen dafür viel zu früh voraus:

Gegeben sei das folgende Szenario: Pierre, ein arbeitender Familienvater von vier Kindern hat einen erwachsenen, alleinstehenden Bruder, Steven, dem seine Angelegenheiten über den Kopf gewachsen sind und wegen eigener Fehler das Leben zu einer Last geworden ist, unter welcher er zusammenzubrechen droht. Über zahlreiche Forderungen verschiedener Gläubiger hat er längst den Überblick verloren, und mehr oder weniger hat er schon resigniert, so dass er sich nicht mehr aufraffen kann, berechtigte von unberechtigten Forderungen zu trennen und den Dingen im Einzelnen nachzugehen. Durch seine geringbezahlte Arbeit ist er auch ziemlich ausgelastet. Sich stapelnden Briefen ist zu entnehmen, dass gleich mehrere Zwangsvollstreckungen zugunsten verschiedener Gläubiger drohen. Sogar mit Erzwingungshaft wird gedroht. Pierre bekommt dies alles mit und beschließt, Steven zu helfen. Das trifft sich gut, denn er hat gerade für einige Tage Urlaub, auch wenn er zu seiner dringend nötigen Erholung vorhatte, ihn mit möglichst wenig Anderem als eben Erholung zu verbringen. Den Gedanken, seinem Bruder Geld zu leihen, mit dem er die Forderungen begleichen und wenigstens der Zinsspirale entkommen könnte, lässt er schnell fallen, da sein Bruder ihm ohnehin noch einiges an Geld schuldet und er weitere Darlehen vor Frau und Familie unmöglich rechtfertigen kann. Doch vielleicht lassen sich wenigstens die Zwangsvollstreckungen und die Erzwingungshaft abwenden... Eine große Forderung vonseiten der Krankenversicherung ist nach seiner Einschätzung sogar um ein Vielfaches überhöht. Also ruft er bei der Versicherung an, doch der automatische Anrufbeantworter teilt ihm lediglich mit, alle Plätze seien momentan belegt, und er solle es zu einem späteren Zeitpunkt erneut versuchen. Den Rest des Tages kommt immer nur dieselbe Meldung am Telefon. Wahrscheinlich versuchen um diese Zeiten zu viele Menschen, die Versicherung zu erreichen. Darum ruft er am nächsten Morgen direkt nach dem Frühstück an, doch wieder dieselbe Meldung. Er muss wohl noch früher anrufen. Also versucht er es am nächsten Morgen schon vor dem Frühstück, ohne Erfolg. Er ahnt, dass er schon in den ersten wenigen Minuten zu Beginn der in der Korrespondenz angegebenen Sprechzeit anrufen muss. Dafür müsste er drei Stunden früher als im Urlaub gewohnt aufstehen. Dementsprechend stellt er den Wecker. Der weckt ihn im Morgengrauen. Doch diese Nacht hatte sein Schlaf eine recht geringe Qualität, effektiv hat er insgesamt vielleicht zwei Stunden geschlafen. So ringt er mit sich selbst, um sich aus dem Bett zu erheben.

Wenn er sich dann endlich auch rechtzeitig dazu aufrafft, mag er den Eindruck haben, den dazugehörigen Willen erst nach dem Klingeln des Weckers aufgebracht zu haben. Auch in der Ansicht der meisten Menschen hat er erst in diesem Moment wirklich gewollt, aufzustehen, und dieser in diesem Moment aufgebrachte Wille, weil er „stark genug“ gewesen sei, habe zum Erfolg geführt. In Wirklichkeit aber - zumindest solange er nicht in eine Entscheidungskrise fällt und die Vereinbarkeit der Höhe des Aufwands mit der Anordnung seiner Grundsätze oder diese Grundsätze selbst nochmal durch- bzw. überdenkt - ist das eigentlich zu dieser Aktion gehörige Wollen ihr viel früher vorausgegangen. Nicht nur war der ausschlaggebendere Entschluss, seinem Bruder aus seiner Situation herauszuhelfen, lange vorher gewesen, sondern noch früher hatte er auch dem ideellen Gegenstand (z.B. Familie, familiärer Zusammenhalt oder auch nur der Ruf der Familie), dessen tiefer Wertschätzung dieser Entschluss überhaupt entwuchs, einen so hohen Wert so fest zugeordnet, und den die Hilfe für seinen Bruder so alternativlos repräsentierte, dass ihm der Entschluss zu ihr so entwachsen konnte, dass er sich heute seines Bruders wegen trotz aller bleierner Müdigkeit früh morgens aus dem Bett rafft. Was auch immer der ideelle Gegenstand nun sei mag, das oben in den Klammern Angedachte oder etwas ganz Anderes - ohne seine Wertschätzung in einer gewissen Höhe wäre Pierres Sichaufraffen nicht zustande gekommen. Weil diese frühe Wertbeimessung offensichtlich so ausschlaggebend für das Zustandekommen der Aktion ist, ist ebenfalls deutlich, dass sie viel eher als Wille angesehen zu werden verdient hat. Das einschränkende „eher“ ist hier erforderlich, da das Beispiel nur eine Annäherung an das Verständnis des Prinzips darstellt, zumal der Hintergrund einer Wertbeimessung wiederum in einer anderen Wertbeimessung bestehen kann und nur das erste Element einer Wertbeimessungskette als autonom genug betrachtet werden kann, um die Bezeichnung als (freies) Wollen zu verdienen. Dementsprechend sei es vorerst auch offengelassen, ob Denkprozesse wirklich zu Wollen führen, oder ob echtes Wollen sogar allen Denkprozessen vorausgehen muss, wenn es nicht gar etwas gewissermaßen Präexistenzielles, Primordiales oder etwas der Essenz einer immateriellen Seele Entspringendes ist, jedenfalls so, dass alles andere Wollen nur ein scheinbares wäre, da es ganz natürlich (somit nicht frei) aus dem ursprünglichen Wollen und den empirischen Möglichkeiten der Realisierung des Willens resultierte.

Genauso mag ein Student, der - um beim für das Willensthema besonders passende Element der Überwindung beim Aufstehen zu bleiben - nach ungewohnt wenigen Stunden Schlaf am Morgen seines ersten Studientags von seinem Wecker aufgeweckt wird, mit sich selbst ringt, um sich aus dem Bett zu erheben, und sich dann endlich auch rechtzeitig dazu aufrafft, den Eindruck haben, den dazugehörigen Willen erst nach dem Klingeln des Weckers aufgebracht zu haben. Auch in der Ansicht der meisten Menschen hat er erst in diesem Moment wirklich gewollt, aufzustehen, und dieser in diesem Moment aufgebrachte Wille, weil er „stark genug“ gewesen sei, habe zum Erfolg geführt. Auch hier ist in Wirklichkeit das eigentlich zu dieser Aktion gehörige Wollen ihr viel früher vorausgegangen. Vor womöglich Monaten oder Jahren hatte er sich bereits zu seinem Lebensweg oder noch allgemeinere Gedanken gemacht, im Zuge derer er dem Studium oder einem aus irgendwelchen Gründen vom Studium am besten repräsentierten Prinzip (Bildung, Karriere, Geld o.a.) einen hohen Wert beimaß.

Was hingegen üblicherweise als Willen angesehen wird und sich unmittelbar vor der entsprechenden Handlung regt (in dem Beispiel: im Moment kurz vor dem endgültigen Aufstehen), ist eher eine Folge oder Manifestation des ursprünglichen Willens und spielt die Rolle einer introspektiven Begleiterscheinung - kurz: ist die Illusion eines Willens, oder allenfalls das Echo eines solchen. Darum sollte es niemanden verwundern, falls neurologische Experimente den Willen des Menschen als unfrei erscheinen lassen, solange sie lediglich jene folgeartigen Regungen als Willen im Blick haben. Der wahre Willen hingegen ist für die auf die Untersuchung des Materiellen und äußerlich Wahrnehmbaren spezialisierten Naturwissenschaften derzeit - wenn nicht auf ewig - ungreifbar, erst Recht, da sogar fraglich ist, ob er überhaupt introspektiv für die wollende Person selbst direkt wahrnehmbar ist.36

Die folgende willensdynamische Darstellung beansprucht keine umfassende Fundamentalität, sondern soll, vertraute Aspekte unserer aller Psychologie ausnutzend, eine erste Annäherung an das Prinzip bieten. Da diese Aspekte teilweise nur Nebenaspekte sind, sind für das fundamentale Prinzip die Ausführungen in Eintrag §48 heranzuziehen und zu gegebener Zeit die folgend erwähnten Elemente im Licht der dortigen Ausführungen zu deuten.

Der Mensch misst Verschiedenem Werte unterschiedlicher Höhe bei, so dass unweigerlich Vergleichbarkeiten und Relationen entstehen. Je höher der Wert war, dem unser Student dem abstrakten Fürgrund in „grauer Vorzeit“ beigemessen hatte, desto höher der Wert, den er dem Studium infolgedessen in jener Beimessung beimaß, die zu seinem Vorhaben führte, sich für das Studium einzuschreiben, und dementsprechend häufig, intensiv und inhaltlich geeignet führte er sich Motivationen vor Augen, dementsprechend stark oder schwach kultivierte er in sich Neigungsdispositionen, die der Aufnahme und Absolvierung des Studiums zuträglich, und Abneigungen, die der Zuwendung zu alternativen Optionen und dem Fallenlassen der Option des Studiums abträglich zu sein geeignet sind. Er flechtet solche Neigungsdispositionen sozusagen durch Kultivierung in seine eigene Natur ein. Dafür, dass diese Kultivierung zum Erfolg führt, sind nicht die absoluten Größen der Stärke oder Schwäche der infolgedessen entstehenden oder zumindest sich vergrößernden Neigungen von Belang, sondern lediglich ihre Größen im Verhältnis zu Neigungen und Abneigungen, welche ihn vom Weg abzubringen geeignet sind.

Übrigens ist hier davon auszugehen, dass sich ontologisch die Art oder zumindest die Wirkungsweise der infolge der autonomen Wertbeimessung kultivierten Neigungen nicht essentiell von derjenigen der anderen Neigungen unterscheidet. Jedenfalls: Je nachdem, wie hoch der Wert ist, den ein Mensch einer Sache bzw. dem hinter der Sache stehenden Wertträger beimisst, dementsprechend stark oder schwach etabliert und/oder kultiviert er in sich Neigungen und Abneigungen, die seine Aktivität für die Sache stützen. Was bei diesem Punkt im Einzelnen vor sich geht, ist vorerst womöglich von eher untergeordneter Relevanz, mehr dem Bereich der Psychologie zugehörig und bedarf einer gesonderten Untersuchung.37 Die teils unwillentlichen, teils aber auch wiederum willentlichen Maßnahmen, welche die Beispielsperson zur Kultivierung der Neigungen vornimmt, könnten darin bestehen, dass sie sich auf die Genussaspekte des Studiums konzentriert und diese innerlich vergrößert, oder sich den Ruhm oder das schillernde Selbstbild, diese mit dem Gedanken ans Studium verknüpfend, vorstellt, oder darin, Bildungsferne zu verachten, bzw. diese Verachtung zu intensivieren, sowie Befürchtungen, diese etablierend, in sich zu nähren, ohne das Studium die Eltern zu enttäuschen und einen gesellschaftlichen Absturz erleiden zu müssen, oder ein Scheitern im Studium mit einem negativen Selbstbild zu verknüpfen (der Studiumslose oder Studienabbrecher als heruntergekommener Landstreicher) etc. Diese oder andere Folgeneigungen und -Abneigungen entstehen und wachsen in dem Studenten, und er pflegt sie so, dass sie an dem Morgen, an dem er im Bett liegt und sich die natürliche Neigung zum Liegenbleiben „meldet“ und wirksam wird, ebenfalls „vor Ort“ sind und sich als kultivierte Neigungen mit den herkömmlichen Neigungen im Extremfall einen regelrechten Kampf liefern. Wie der Kampf ausgeht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Höhe des Wertes, den er „damals“ beimaß, hoch genug war, um eine Stärke kultivierter Neigungen nach sich zu ziehen, welche die Stärke der in der Gegenrichtung wirkenden natürlichen Neigungen so überragt, dass sich die kultivierten Neigungen gegen die ihnen entgegengesetzten durchsetzen, oder nicht. Diese kultivierten Neigungen (zu denen man auch die in ihrer Wirksamkeit über das naturdispositionale Maß hinaus verstärkten natürlichen Neigungen zählen kann) sind die „Inkarnation“ des ursprünglichen Willens, und sie sind immerhin nahe an dem, was die Menschen meistens „Willen“ nennen.

Andererseits ist keine besondere Begabtheit erforderlich, um zu erkennen, dass die „kultivierten Neigungen“ in der Struktur der Absicht mit der Motivationskomponente (s. Eintrag §11) aufs Engste im Zusammenhang stehen. Diese und das Vorhaben gehen mit der in der ersten der drei Komponenten wiederzufindenden Wertbeimessung so unweigerlich einher, dass nach den Regeln der Normalsprache nichts dagegen spricht, auch diese Willen zu nennen. Für die analytische Auseinandersetzung kann sich jedoch die Frage stellen, ob die Bezeichnung als Wollen entweder maximal auf die Wertbeimessung eingegrenzt werden, oder aber auf sie völlig verzichtet werden sollte.

Willenlos wollend

Ein sprachlich-begriffliches Problem sei hier nicht verschwiegen: Das Recht jener freien Urentscheidung, die hier als wahrer Willen identifiziert wurde, „Willen“ genannt zu werden, lässt sich durchaus in Frage stellen, denn sie hat nicht direkt den Gegenstand, den der Wille seinem Begriff nach haben muss. Dieser Gegenstand besteht in einer bestimmten Einzelhandlung (hier das Aufstehen) in einer speziellen Situation (hier das Aufstehen) und nicht in einer abstrakten Idee. Hiermit erlitte die Urentscheidung das gleiche Schicksal wie die unmittelbare Regung, welcher wiederum die Initialität fehlt, welche zum Begriff des Willens gehört. So gesehen besäße der Mensch - scheinbar paradoxerweise trotz Verantwortlichkeit - keinen Willen. Der zuvor natürlich scheinende, stereotype Begriff des Willens ist uns hiermit gewissermaßen in den analytischen Fingern zerbröselt und kann höchstens durch einen synthetisch-proprietären ersetzt werden.38

Die Konstruktion eines solchen ließe sich durchführen, indem man die als Nachwirkung der Urentscheidung auftretenden Regungen gemeinsam mit jener als Willen bezeichnet, so dass die beiden Bedingungen für das Vorliegen von Wollen im gewohnten Sinn, nämlich Freiheit und konkrete Handlungsbezogenheit durch eine Kombination wieder zusammengebracht werden. Immerhin bietet die normalsprachliche Tradition die Möglichkeit, eine Einzelkomponente nach seinem Gesamtkonstrukt zu benennen, so dass unter diesem Aspekt nicht einmal die Bezeichnung der Urentscheidung alleine, oder auch die unmittelbare Regung alleine, wie auch die Fassung des Vorhabens jeweils als Wille nicht wirklich zu beanstanden wäre.

Wie auch immer ist es letztlich an mancher Stelle wohl das beste, für analytische Zwecke auf die Verwendung des Ausdrucks „Wille“ bzw. „wollen“ zu verzichten und sich auf die Ausdrücke zu beschränken, auf deren Bedeutungen sich der Terminus in unterschiedlichen Kombinationen bezieht bzw. beziehen lässt: Wertbeimessung, Regung/Neigung, (Fassung des) Vorhaben(s). Nicht verzichtet werden muss auf die Verwendung des Lexems, wo es nicht verdunkelnd wirkt, sondern den gegenteiligen Effekt hat, nämlich den der nötigen Unterscheidung und Abgrenzung.

Der Wille bzw. das, was am ehesten für den vorliegenden abstraktiv-dialektischen Zweck so genannt zu werden angemessen ist, muss jedenfalls eine Wertbeimessung sein, denn, wie schon in Eintrag §11 erwähnt: Wo kein Wille ist, kann einem ethischen Satz nicht widersprochen werden. Wenn nun ein ethischer Satz eine Wertbeimessung ist, d.h. eine Würdigkeitszuordnung, muss, damit überhaupt ein Widerspruch denkbar ist, ein Wille im Wesentlichen ebenfalls  eine solche sein. - Für den Fall, dass es aus irgendeinem Grund abwegig wäre, Wertbeimessung oder etwas diese Enthaltendes als Wollen zu bezeichnen, würde Wollen schlicht seine Relevanz verlieren, und zwar zugunsten von Wertbeimessung, die sonstige Bezeichnung ist relativ unwichtig.

Freilich lässt sich der Wert, den jemand beimisst, oft als bloß subjektiver Wert interpretieren, der als sinnlicher Neigungswert in egoistischen Erwägungen wurzelt, bzw. auf den Wert zurückgeht, den sie ihrer Wohlseligkeit beimessen. Jenseits von intellektuellem bzw. ideologischem Hedonismus wäre dies tatsächlich nur der Wert, den ihr Akteursystem bzw. ihre sekundäre Selbstheit den Dingen zuordnet (wenn Akteursystem und Selbstheit überhaupt Werte zuordnen und wir hier nicht lediglich ein Prinzip des Intellekts auf eine empirische Realität, in der selber es sozusagen keine Werte gibt, projizieren und sie in seine Schablone pressen). Wenn es aber wahre Ethik gibt, so gibt es auch Wollen oder das Äquivalent davon, und dann ist es eine Wertbeimessung vonseiten der primären Selbstheit, und zwar im Sinne einer Zuordnung von Würdigkeit, aufgrund derer in der Auffassung des Akteurs die jeweilige Sache eine bestimmte Haltung oder Aktion verdient hat (und nicht aufgrund der Wohlseligkeit oder des Nutzens, die sie ihm evtl. einbringt). Einer partikularen scheinbaren Wertbeimessung als Teil einer Kette von Wertbeimessungen mag man ohne Weiteres nicht ansehen, ob sie in einer solchen Zuordnung wurzelt oder selbst eine solche ist. Dennoch würde sich an der Kette in ihrer Konsistenz und der Reihenfolge ihrer Elemente selbst nichts ändern:

Ein Führerschein mag ein an sich relativ wertloses Stück Kunststoff oder Papier sein, dennoch ist die Unternehmung zu seiner Erlangung sehr umfangreich und aufwendig. Der Anwärter opfert dafür einiges seiner Zeit, seines Vermögens, seiner Energie und seines Nervenfriedens. Diese umfangreiche Unternehmung würde er nicht angehen, würde er ihrer Angehung nicht irgendeinen Wert beimessen. Der Angehung würde er keinen Wert beimessen, würde er nicht der Unternehmung selber irgendeinen Wert beimessen - die Angehung erbt hier sozusagen ihren Wert von der Unternehmung. Die Unternehmung wiederum erbt ihren Wert von der Erlangung des Führerscheins, d.h. er würde der umfangreichen Unternehmung keinen Wert beimessen, würde er nicht der Erlangung irgendeinen Wert beimessen (da die Unternehmung ein Mittel zur Erlangung ist). Dieser Erlangung wiederum würde er keinen Wert beimessen, würde er nicht dem Führerschein selber einen Wert beimessen (der über den geringen Wert als Stück Papier oder Kunststoff hinausgeht). Dem Führerschein, der das Autofahren gewissermaßen erst ermöglicht, würde er keinen Wert beimessen, würde er der Möglichkeit bzw. Ermöglichung des Autofahrens keinen Wert beimessen. Und dieser Möglichkeit würde er keinen Wert beimessen, würde er dem Autofahren keinen Wert beimessen.

Zum einen sieht man in diesem Beispiel einer Wertbeimessungskette, dass sobald einem Element der Kette nicht der jeweilige Wert beigemessen würde, die betreffende Handlung (hier die umfangreiche Unternehmung) nicht zustande käme, ja noch nicht einmal angegangen würde. Somit ist Wertbeimessung für das Zustandekommen von Handlungen ausschlaggebend. Die Kette in dem Beispiel bliebe unverändert, unabhängig davon, weswegen der Anwärter dem Autofahren, auf dessen Wertschätzung die Kette vorerst zurückgeht, den Wert beimisst, den er ihm beimisst: Es mag das Bedürfnis des vielleicht noch sehr jungen Anwärters sein, in den Augen Anderer als erwachsen zu gelten (was bedeutet, dass er fest überzeugt ist, dass das Autofahren eine notwendige und/oder hinreichende Bedingung hierfür ist), es kann aber auch genauso sein, dass es sein Ziel ist, im Rahmen eines Ehrenamts als Sanitäter Rettungsfahrzeuge zu steuern, und dies daher kommt, dass er der Rettung von Leben Würdigkeit zuordnet, und dies wiederum daher, dass er dem Menschenleben (nicht nur seinem eigenen, sondern allgemein) Würdigkeit zuordnet, also der tiefen Überzeugung ist, dass Menschenleben gerettet zu werden verdient hat und darin einen höheren Rang hat als alles andere. Die Kette von der Bewertung des Autofahrens bis hin zur Bewertung des Angehens der aufwendigen Erwerbsunternehmung wäre in beiden Fällen dieselbe.

Daher sollte es nicht verwundern, dass alltagssprachlich auch eine akute Neigung ein „Wollen“ ist... Die Synonymität liegt um so näher, wenn „wahres“ Wollen sich zum Neigungswollen so verhält wie letzteres zu exogenen Imperativen. - So gut sich aber die Mechanismen des Neigungensystems anhand des Wertbegriffs in früher vorausgegangenen Ausführungen dieser Schrift nachzeichnen ließen und bereits hierdurch eine Analogie zwischen Neigung und Willen in Erscheinung trat, so sehr muss dennoch erneut betont werden: Wenn es wahren, ethisch relevanten Willen gibt, muss es neben den gemeinsamen Aspekten mindestens den ausschlaggebenden Unterschied geben, dass Wertzukommnisse dort ihre Ursache in der Natur bzw. den Genen bzw. der sekundären Selbstheit haben, wohingegen sie hier als von der primären Selbstheit ausgehend gedacht werden müssen. Mehr noch: Da Wert nicht geschmeckt, gerochen oder gespürt werden kann etc., erweist er sich dezidiert als Begriff des Intellekts (vgl. |Kraft| oder |Möglichkeit|), der in der Erfassung der Funktionsweise der Neigungen nur den Status eines Hilfsbegriffs besitzt.

Unter einem gewissen Aspekt lässt sich übrigens eine Versöhnung mit dem Ausdruck „Willenskraft“ denken, sofern man mit ihm der Tatsache Rechnung zu tragen intendiert, dass Wertbeimessungen sich in der Höhe des jeweils beigemessenen Wertes unterscheiden können und oft die Überschreitung einer gewissen Höhe nötig ist, um eine bestimmte Handlung zustandekommen zu lassen, analog zur Anwendung einer physischen Kraft, die eine gewisse Größe überschreiten muss, um einen bestimmten Effekt zu bewirken. Es ist aber nun mal keine Kraft, die direkt auf äußere Handlungszustände wirkt, sich akkumulativ speichern lässt, aufgebraucht oder deren Fehlen als Entschuldigung angeführt werden kann. Hinsichtlich des Letzteren ist eher das Gegenteil der Fall, es sei denn es ist lediglich der Neigungswillen gemeint, wenn auch nur bedingt. Gerade dass die Referenzierung der Willensstärke sowohl als Entschuldigung als auch als Vorwurf existiert, bestätigt die willensbegriffliche Dualität und legt nahe, dass wir zwei verschiedene Willensbegriffe haben und zwei grundverschiedene Arten von Willen kennen bzw. zwei grundverschiedene Konzepte jeweils als Willen bezeichnen. Dem Vorwurf „Du hast es nicht stark genug gewollt“ muss ein anderer Willensbegriff zugrunde liegen als der Entschuldigung „Ich habe keinen so starken Willen“, ersterem der Begriff der Beimessung von wahrem Wert, Letzterem die kultivierte Neigung, von der erwartet wird, dem wahren Willen zur manifestativen Durchsetzung zu verhelfen.39

Metaphysik der Freiheit

[§22] Allgemein wird die Aussage als richtig akzeptiert, dass es ohne Entscheidungsfreiheit keine Verantwortlichkeit, keine Schuld und keinen Verdienst geben könne. Mancher stellt sich nun die Frage, ob der Mensch die für Verantwortlichkeit nötige Freiheit überhaupt besitzt, oder ob er doch nur ein Spielball der Naturgesetze, seiner Instinkte und/oder psychischer Dränge ist. Könnten ausschließlich Neigungen der Grund menschlichen Handelns sein, wäre der Mensch in diesem Handeln stets unfrei - das wird im Allgemeinen akzeptiert. Ebenso ist die Ansicht allgemein vertraut, bzw. eine andere Form dieser Ansicht ist, dass wenn bei jemandem der Verstand abwesend ist, er jeglicher Freiheit entbehrt, weil der Verstand abwesend ist. Hier wird also die Anwesenheit des Verstandes zur Voraussetzung der Entscheidungsfreiheit des Menschen erklärt, und zwar Anwesenheit wenigstens in dem Sinne, dass das Individuum auf seinen Verstand zugreifen kann. Jemand ohne Möglichkeit des Zugriffs auf den Verstand wird als zweifellos unfrei und für seine Taten nicht verantwortlich eingestuft.

Nun ist das Handeln nach dem Verstand aber offensichtlich ein Handeln nach strengen Regeln, nach einer festen Ordnung, von welcher abzuweichen gar die Definition des Irrationalen konstituiert. Ist denn das Handeln nach Regeln nicht das Gegenteil von Freiheit? Handelt man nach Neigungen, befindet man sich in den Fesseln der Naturgesetze, handelt man nach dem Verstand, befindet man sich in den Fesseln der Verstandesregeln. In beiden Fällen scheint man gewissermaßen unfrei zu sein.

Doch das, wozwischen wir zu entscheiden und die Möglichkeit haben, uns dazwischen zu entscheiden, sind nicht irgendwelche zwei Optionen A und B. Der Verstand und somit das rein verstandesbestimmte Wesen ist in der Entscheidung zwischen diesen beiden Optionen natürlich nicht frei, sondern bevorzugt zwingend diejenige Option, für die nach rationalen Kriterien mehr spricht. Gleiches gilt für die Neigung und ihre Neigungskriterien. Viel ausschlaggebender ist, dass wir auch die Möglichkeit haben zu entscheiden, ob wir überhaupt unseren Verstand, oder ob wir unsere Neigungen für uns entscheiden lassen. Diese Entscheidung, die sozusagen eine Entscheidung für einen von zwei potentiellen Entscheidern ist, bzw. eine Entscheidung für eines von zwei völlig verschiedenen Entscheidungsverfahren, diese Meta-Entscheidung selber kann keinem Verfahren entspringen, zumindest keinem Neigungs- oder Verstandesverfahren, und bietet eine höhere Wahrscheinlichkeit, frei zu sein. Entspränge sie einem der beiden, läge keine grundsätzliche Entscheidung zwischen den beiden vor, sondern das gewählte Verfahren wäre bloß ein Bestandteil eines Verfahrens der eigenen Art oder ein Bestandteil des Verfahrens der anderen Art; die „Entscheidung“ stünde im Voraus fest und wäre nicht vom Individuum getroffen worden. Zudem geht es eher darum, für welche der beiden Verfahrensarten sich der Mensch prinzipiell, also nicht erst im Angesicht einer partikularen Situation, in welcher er sich für etwas zu entscheiden hat, entscheidet. Hier ist es noch deutlicher, dass sich eine solche Entscheidung weder aus dem Spiel der Neigungen, für welche diese Gegenstände – einschließlich ihrer selbst – zu abstrakt sind, noch aus einer intakten Verstandesaktivität, da natürlich der Verstand zwangsläufig den Verstand befürwortet und somit nie eine Entscheidung vorgelegen hätte, ergeben kann.

Da für das Postulat einer freien und somit von Naturgesetzen unabhängigen Entscheidung die Voraussetzung notwendig ist, dass diese Entscheidung auf einer prätemporalen Ebene getroffen wird bzw. wurde, ist anzunehmen, dass sie sich eigentlich auf etwas viel Elementareres als auf Verstand, Neigungen und ihre Verfahren bezieht, nämlich auf den elementaren Intellektbegriff des Würdigen auf der einen und den elementaren Bewusstseins- bzw. Erlebenszustand der Wohlseligkeit auf der anderen Seite. Es lässt sich denken, dass der Grad der prätemporalen Entschlossenheit für das eine oder das andere sich in der Realität im statistischen Verhältnis zwischen den Mengen intellektbasierter und neigungsbasierter Handlungen bzw. zwischen den Mengen solcher mit dem Würdigen und solchen mit der Wohlseligkeit oder der eigenen Selbstheit als Fürgrund niederschlägt.

Dass auf der Meta-Ebene auf kein Verstandesverfahren zurückgegriffen wird, lässt sich als eine Form der Abwesenheit des Verstandes deuten. Impliziert Abwesenheit des Verstandes aber nicht Unfreiheit? Doch, nur eben nicht auf der Meta-Ebene. Auf der unterhalb von ihr liegenden Ebene überlässt ein in die Abwesenheit tretender Verstand Neigungen und Naturgesetzen das Feld, die den Menschen umgehend in ihren festen Griff nehmen, und diese sind es, durch welche die Unfreiheit konstituiert wird. Da aber auf der Meta-Ebene auch diese fehlen, lässt sich eine solche Unfreiheit nicht feststellen. Übrigens wäre eine Person mit anwesendem Verstand ohne Neigungen eine Art Roboter und ebenfalls unfrei, da es keine echte Entscheidungsmöglichkeit gäbe, sondern nur Scheinentscheidungen, die auch ein Computer treffen könnte.

Dies ist freilich eine Idealisierung, da davon auszugehen ist, dass menschliche Verstandestätigkeit ohne ein Minimum an Neigungen als Triebfeder der Tätigkeit ebenso wenig existieren kann wie eine effiziente Verfolgung von Neigungen ohne ein Minimum an Verstand. Jedoch wird die Idealisierung repräsentiert von Situationen (besser: von der Situation) des Konflikts zwischen entgegengesetzten, gleich starken Neigungen bzw. Interessen, in welchen die einen (insbesondere hinsichtlich ihrer aktionalen Implikationen) typischer für die Entscheidung für das Würdige als die anderen sind. Das Vorwärtsschreiten in der Verstandestätigkeit ist Sache der Neigung, das „Abbiegen“ darin hingegen ist Sache des Willens.

Darum könnten die Situationen des Lebens, in denen es überhaupt ethisch relevante Entscheidungen geben kann und der Wille Gelegenheit zur Manifestation hat, vergleichsweise dünn gesät sein. Der weit überwiegende Teil unserer Aktionen (unter die auch Kratzen, sich aufrichten usw. fällt) ist vermutlich rein neigungsbestimmt und/oder ein einzelnes von unzähligen Elementen einer Gesamtaktion, für die wir uns entschieden haben.

Ist dann aber die anscheinend kriterienlose Meta-Entscheidung nicht eine blinde Entscheidung, deren Ergebnis nur als irrelevanter Zufall gewertet werden kann? - Antwort:  Zufall ist nur auf der darunter liegenden Ebene ein Problem, weil Zufall in dem Sinne, dass ein Zugrundeliegen rationaler Kriterien hinter einem Phänomen nicht erkennbar ist, in der gewöhnlichen Realität üblicherweise ein Indiz für das Zugrundeliegen naturaler Vorgänge ist und dort daher davon ausgegangen werden muss, dass Naturgesetze die Stelle des Intellekts eingenommen haben. Auf der Meta-Ebene hingegen ist eine solche Annahme obsolet.

Zudem geht es selbstverständlich um mehr als nur Freiheit im Sinne des Nichtvorhandenseins von Fesseln und Schranken. Diese Freiheit ist nur eine notwendige – keine hinreichende – Bedingung für die Möglichkeit dessen, worum es eigentlich geht, nämlich die Möglichkeit von Verantwortlichkeit. Und hier betreten wir das Feld eines Mysteriums. Auf dieser Ebene entscheidet sich der Mensch als pures atomares Subjekt für etwas, wobei seine Entscheidung entweder kein Akt ist, zumal ein Akt im gewöhnlichen Sinn selbst einer Entscheidung bedarf, oder es außer Entscheidungen keine wirklichen Akte geben kann. Was diese Entscheidung sonst sein müsste, ist nicht aussagbar, wenn nicht gar unaussprechlich. Möglich ist, dass hier das, was wir geneigt wären, als die Substanz der menschlichen Seele zu bezeichnen, und das, was wir als ihre Wahl zu bezeichnen geneigt sind, miteinander identisch ist und ihre Begriffe in einem ganz anderen Begriff zusammenfallend aufgehen, bzw. die Urwahl der menschlichen Selbstheit mehr Substanz als jede andere Wahl des Menschen und ihre Substanz mehr Wahl als jede andere uns bekannte Substanz ist bzw. ihre Wahl einem Substanzsein näher ist als jede sonstige Wahl, und ihre Substanz einem Wahlsein näher als jede andere uns bekannte Substanz. Die Essenz der Seele des Menschen wäre hier Wahl, und die Essenz seiner Wahl wäre Seele. Dies wäre das, was die Verantwortlichkeit des Menschen konstituiert, jedoch nicht so, als wurzele die Wahl in der Seele, wie eine Eigenschaft oder Neigung in den Genen des Menschen wurzelt, zumal Gene ein Teil der Natur sind; vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die Natur des menschlichen Ichs dergestalt ist, dass aus dieser verborgenen Natur Verantwortlichkeit resultiert. Dies aber lässt sich mit unseren faktizistischen Erkenntnisverfahren nicht mehr erschließen, sondern nur als gegebene Möglichkeit annehmen (oder im Rahmen einer ethischen Glaubenspflicht als Tatsache postulieren). Doch die Kenntnis des metaphysischen Hintergrunds ist für das ethisch gute Handeln ohnehin nicht unabdingbar.

Ist der Platz der Freiheit leer?

Ein Einwand könnte nun lauten: „Es ist schön, dass du für die Freiheit des Menschen eine Lücke gefunden hast, wo sie sich befinden könnte, und wir nun wohl wissen, dass es für seine Freiheit in der Realität Platz gibt. Beweise nun doch bitte, dass sich die Freiheit an jenem Platz auch wirklich befindet!“

Darauf könnten wir mit einer Gegenfrage entgegnen: „Warum möchtest du überhaupt, dass dir das bewiesen wird? Wozu benötigst du den Beweis?“ Wahrscheinlich wird die Antwort des Gegenübers lauten: „Dann würde ich vorsichtiger und ethisch bewusster handeln und hätte dadurch eine größere Chance, ein moralisch besserer Mensch zu sein! Solange ich aber kein genaues Wissen darüber habe, ob ich frei bin, bin ich zu schwach, um moralisch wirklich gut zu handeln, ich würde womöglich nur halb so gut handeln oder sogar überhaupt nicht gut.“

Darauf wiederum sei geantwortet: „Nun, wenn das so ist, dann wird dich das Wissen um deine Freiheit und ihre Tatsächlichkeit auch nicht weiter bringen und zu einem besseren Menschen machen: Denn offenbar bremst und schwächt dich ja das Nichtwissen darum, was zeigt, dass du nichts dafür kannst, falls du ohne das Wissen moralisch weniger gut handelst (solange du dies nicht bloß als leeren Vorwand missbrauchst, denn dann erübrigt sich die Frage). Mit dem Nichtwissen bist du daher nicht wirklich ein schlechterer Mensch, und folglich wirst du mit dem Hinzukommen des Wissens kein besserer Mensch werden.“ Ohnehin wirkt es in gewisser Hinsicht paradox, bewiesen bekommen zu wollen, dass man frei ist. Denn implizit fordert der Proponent, er möge doch bitte dazu gezwungen werden, anzuerkennen, dass er Freiheit besitze. Er fordert sozusagen, man raube ihm doch bitte die Freiheit, die Faktizität seiner Freiheit (nicht) anzuerkennen. Vielleicht lässt sich zu ihm sogar sagen: „Wenn du wirklich frei bist, werde ich dir ohnehin nicht mit den Mitteln des deskriptiven Urteilsvermögens vollkommen beweisen können, dass du frei bist. Denn – egal wie gut mein Beweis sein wird – wenn du wirklich frei bist, wirst du immer noch in der Lage sein, das Ergebnis meiner Beweisführung abzulehnen.“ Damit ist es recht suspekt, jemandem mit Verfahren des deskriptiven Urteilsvermögens seine Willensfreiheit beweisen zu wollen.

Dafür ist sie aber mit den Mitteln des ethischen Urteilsvermögens „beweisbar“, indem gezeigt wird, dass man die Pflicht hat zu glauben und sich selbst als Faktum zuzuführen, dass man jene Freiheit hat (oder zumindest sonstwie begründete Verantwortlichkeit, es geht ja nicht primär um Freiheit, sondern der zentrale Begriff ist Verantwortlichkeit, auch wenn es anthropotheistische Schwärmer gerne anders hätten). Diese Pflicht ließe sich darauf zurückführen, dass man auch verpflichtet ist, sich so gut wie möglich in die Lage zu versetzen, ethisch gut bzw. vorsichtig zu handeln, und wenn die Kenntnis der eigenen Natur beinhaltet, dass Gewissheit um die eigene Freiheit einen dazu besser in die Lage versetzen würde, man sich so gut wie möglich so einzustellen hat, als besitze man ein derartiges Wissen, bzw. sich diese Gewissheit anzueignen hat.

Dies, und nicht das, was dem Proponenten vorschwebte, würde einen zu einem moralisch besseren Menschen machen, denn hier hat man dann den Sachverhalt nicht von außen bewiesen bekommen, sondern man hat ihn sich von innen her im Rahmen einer von äußeren Einwirkungen freien Entscheidung, die aus der Entscheidung der Person fürs Ethische bzw. Würdige folgte, „bewiesen“ (ihn sich zum Wissen gemacht).

Freiheit - ein überschätztes Thema?

Warum denken wir überhaupt, dass Freiheit eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Schuld und Verantwortlichkeit ist? Die Beantwortung dieser Frage ist womöglich hilfreich bei der Beantwortung der Frage, welche Art von Freiheit, und ob Freiheit überhaupt für Verantwortlichkeit notwendig ist.

Wenn ein Beschuldigter bezüglich eines Ereignisses, in dessen Ursache-Wirkungskette er ein Teil war, überhaupt nicht frei war, erscheint er genauso wenig schuldig wie eine Tatwaffe, die zur Begehung eines Mordes benutzt wurde. Schuldig ist in der üblichen Auffassung immer nur der Erstverursacher, der eine Ursache-Wirkungskette in Gang gesetzt hat (wobei ein Mitverursacher, auch wenn er zeitlich später hinzutritt, um die Kette aufrechtzuerhalten oder zu verstärken, ebenfalls den Status eines Erstverursachers hat, solange er von außerhalb der Kette hinzutrat oder mit an ihrem Anfang stand). Die Unfreiheit eines Individuums ist aber unser Anhaltspunkt dafür, dass dieses Individuum kein Erstverursacher war, sondern jemand oder etwas anderes (z.B. eine Krankheit). Nun könnte man fragen, warum es für Schuld nicht ausreicht, einfach ein Glied in der Kette zu sein, wenn das immerhin auch eine Art Ursachenrolle ist? Ja, aber so sei man nicht der wahre Verursacher, wird man wohl zur Antwort bekommen.

Den Schuldigkeitsstatus auf diese Weise ausschließlich und überhaupt an den Ursächlichkeitsstatus zu knüpfen, mag sozialorganisatorisch oder präventionsstrategisch wichtig sein, zumal wenn ohne diese Verknüpfung es schwerer wird, Strafverfolgungen zu entgehen und Kriminelle sich hinter als Mittel missbrauchten Opfern verstecken können. Tiefenethisch hingegen ist auch jemand schuldig, der sich zum Bruch einer Pflicht entschließt, ohne dass er jemals dazu kommt, seinen Willen in die Tat umzusetzen - also ohne Erstverursacher zu sein. Ein einfaches Gedankenexperiment bestätigt dies: Jemand bekommt eine E-Mail, derzufolge ein staatlicher Auftraggeber Drohnenpiloten gegen Bezahlung sucht, die an Bildschirmarbeitsplätzen aus der Ferne oppositionelle Zivilisten eliminieren. Er bewirbt sich, wird angenommen und beginnt seine „Arbeit“. Am Ende des Tages hat er 50 Ziele getroffen. Jeder dürfte zustimmen, dass diese Person vielleicht nicht juristisch, wohl aber ethisch die Schuld an der Ermordung von 50 Menschen vollkommen auf sich geladen hat, und zwar auch dann, wenn sich herausstellt, dass - was er die ganze Zeit nicht wusste - am Bildschirm keine echten Menschen, sondern lediglich täuschend echt wirkende Grafikobjekte zu sehen waren, niemand zu Schaden gekommen war und von ihm somit gar keine Tötung von 50 Menschen verursacht wurde.

Bei der Schuld oder Unschuld einer Person lautet die Frage also nicht unbedingt, ob ihr Wille frei war oder nicht, sondern ob sie – genau diese Person – die betreffende Sache gewollt hat oder nicht. Recht bedacht dürfte, soweit es um „echten“ Willen geht, der Ausdruck „freier Wille“ ohnehin ein Pleonasmus sein und „unfreier Wille“ ein Oxymoron. Wenn die Frage nach seiner Freiheit und die Rede von ihr überhaupt einen Sinn haben, ist wahrer Wille entweder frei oder kein wahrer Wille. D.h. was am ehesten diese Bezeichnung verdient hat, ist entweder frei, oder sie hat diese Bezeichnung nicht im Geringsten verdient.

Das ethisch relevante metaphysische Thema sollte nicht Titel tragen „Ist der Mensch / der menschliche Wille frei?“ sondern vielmehr „Gibt es einen Willen?“ Diese Frage kann mit Ja beantwortet werden, sobald klar ist, dass es eine Wertbeimessung gibt, die dem mit keinem naturalen oder raumzeitlichen bzw. materiellen Objekt identischen Kern einer Person und sonst nichts Anderem entspringt. Damit ist, wie die Frage nach der Freiheit eigentlich eine Frage nach dem Willen ist, die Frage nach dem Willen zugleich eine Frage nach der Geistseele. Diese ist die Seele, die sich vor „gewöhnlichen“ (wie wohl z.B. den tierischen) Seelen dadurch auszeichnet, nicht nur erleben und empfinden, sondern auch wählen, und zwar als Seele wählen zu können bzw. die direkte Quelle einer realen Wertbeimessung sein zu können.

Haben wir eine solche Geistseele? Auch wenn von dieser Frage keine ethischen Grundwahrheiten abhängen und sie zudem ein typischer Kandidat für ein kantisches Antinomienproblem ist, lässt sich ihre Bejahung mit einem Ansatz wie dem folgenden zumindest rational plausibilisieren: Das Individuum erlebt, und es kann sich bewusst werden, dass es erlebt - es erlebt sein Erleben. Das rationale Individuum kategorisiert dieses von ihm erlebte Erleben rational als eine Passivität. Demnach bekommt und hat man Empfindungen, man nimmt wahr. Woher kommt es aber, dass wir dies so einfach einordnen können? Wie komme ich als rational reflektierendes Individuum auf die Klassifizierung als Passivität? Die einzige Antwort darauf ist womöglich: Ich stelle Erleben als Passivität fest, weil die Wahrnehmung und das Gefühl, dass meine Erlebnisse von mir, und zwar wirklich von mir als meinem Selbst (und nicht etwa von meiner physischen Peripherie) produziert werden, fehlen. Es fehlt das Gefühl, dass dasjenige, dessen Bewusstsein all diese Eindrücke enthält, zugleich ihre Quelle ist. Das wiederum bedeutet, dass das Individuum einen Begriff davon hat, selber Quelle für etwas zu sein. Und Wollen ist ja ein Quellsein des Subjekts, wenn es nicht gar sein einzig mögliches Quellsein ist. Woher aber hat das Individuum diesen Begriff, wenn sich ein solcher nicht direkt und ohne Weiteres erwerben lässt? Und hier liegt die Antwort nahe, dass wir uns selbst eben als Willenswesen wahrnehmen, wie wir uns auch als erlebende Wesen wahrnehmen, und die eine Wahrnehmung genauso wenig in Frage stellen können wie die andere, wenn auch die Wahrnehmung der Abgabe von Wertbeimessung aufgrund des Unterschiedes in der Permanenz und der Ferne von raumzeitlichen Kategorien flüchtiger ist als das Wahrnehmen des eigenen Erlebens. Anderfalls hätten wir überhaupt keinen Begriff von einem Aktivsubjekt, dessen transzendentaler „Akt“ weder ein bloßes inneres Aufkommnis ist noch auf einem solchen beruht.

Die singuläre Basis des Sollens

[§23] So viele Neigungen es geben mag - sie unterscheiden sich lediglich in der Methode, mit welcher die sinnliche Wohlseligkeit angestrebt wird. Somit lässt sich nicht bezweifeln, dass es eine General- oder Basisneigung des Menschen gibt, welche allen anderen Neigungen zugrunde liegt, nämlich allgemein die Neigung, eine Wohlseligkeit der Selbstheit zu erreichen, welche so...

... ist wie möglich. Hierin besteht der Basisimperativ der sinnlichen Neigung. Ebenso existiert ein Basisimperativ des Interesses, der allen Interessen zugrunde liegt, nämlich eine so große (1) und so lang andauernde (2) Handlungsfähigkeit (Leben, Gesundheit, Vermögen, Einfluss) wie möglich so bald wie möglich (3) für die Selbstheit zu erzielen. - Wenn dies nun die Basisimperative des nur scheinbaren und subjektiven Sollens sind, sollte es doch naheliegen, dass es auch einen Basisimperativ des wahren und objektiven Sollens gibt. Wir reden ja im Plural von Neigungen, während es nur eine Basisneigung gibt, und ebenfalls im Plural von Interessen, während es nur ein Basisinteresse gibt. Und wir sprechen im Plural vom Sollen, indem wir von „Pflichten“ reden - was läge angesichts dessen also näher als eine singuläre Basispflicht, die allen Pflichten zugrunde liegt?

Mehr noch: Etwas anderes als eine singuläre Basispflicht, von welcher sich alle anderen Pflichten ableiten, kommt für eine objektive Ethik gar nicht in Frage. Objektiv kann eine Ethik nur sein, wenn sie theoretisch von jedem willensfähigen Intellekt ungeachtet seiner Umstände und Vorerfahrungen erkannt werden kann. Somit muss die ethische Basis ein kleinster gemeinsamer Nenner aller existierenden und auch aller möglichen nicht-existierenden Willensintellekte sein, an dem sich theoretisch alle Sätze mit dem Anspruch ethischer Richtigkeit messen lassen. Unsere intuitive, oftmals lautstarke Verurteilung ethischen Messens mit zweierlei Maß kommt nicht von ungefähr. Selbst wenn es auch nur zwei Urpflichten gäbe, die sich nicht voneinander ableiten - zwischen ihnen zu priorisieren oder auch nur ihre Gleichwertigkeit festzustellen ist allein eine Aufgabe des ethischen Urteilsvermögens. Hierzu allerdings bräuchte es einen dritten, noch tiefer liegenden Satz. Leiten sich die beiden aber voneinander ab, ist in Wahrheit nur einer der beiden der Basissatz. Haben sie eine gemeinsame Wurzel, ist keiner der beiden der Basissatz. Also kann es nur einen Basissatz der Ethik geben.

Der geringste Konkretisierungsgrad geht mit dem Verlust der Tauglichkeit als ethischer Ursatz einher, da sich dann unvermeidbar die Frage stellt, was denn die ethische Rechtfertigung der Konkretisierung sei. Was z.B. rechtfertigt, den Begriff des Guten oder Würdigen z.B. auf den maximalen Nutzen für die maximale Anzahl von Menschen (oder Vernunftsubjekten) zu beschränken? Wäre es für die geplagte terrestrische Flora und Fauna nicht besser, wenn der Mensch von der Bildfläche verschwände?40 41 Oder: Was rechtfertigt, den Begriff des Guten oder Würdigen durch den des Wohlempfindens und dessen, was dieses steigert und vervielfacht, zu definieren? Ganz zu schweigen von dem Konflikt, in den Nutzen und Wohlempfinden häufig geraten, so dass sie sich gegenseitig als Kriterium in Frage stellen. Jede noch so geringe Konkretisierung benötigte also eine Rechtfertigung. Nun ist Pluralität stets konkreter als Singularität (oder zumindest numerische Unbestimmtheit). Wenn zwei vorgebliche Basispflichten nicht miteinander in Konflikt stehen und zu einer gemeinsamen Basispflicht zusammengefasst werden (z.B. „Du sollst Grünes lieben, und Violettes auch“), beinhaltet dieser eine pluralitätsbedingte Kontingenz, die ihn zur Basispflicht untauglich macht. Jede Essentialität von Kontingenz in einem vorgeblichen Basissatz zeigt, dass er irgendeine bestimmte Erfahrung oder Natur des Individuums zur Voraussetzung hat - wahrhaft objektive Ethik muss für die maximale Anwendbarkeit jedoch ja unabhängig von Erfahrungen und kontingenten Dispositionen des Individuums sein. Und stehen zwei Sätze miteinander in Konflikt, können sie erst recht keine Basispflichten darstellen.

Diese Monogenität der Ethik trägt zu einem bemerkenswerten Aspekt der Ästhetik des menschlichen Erkenntnisvermögens bei: Eine logische Untersuchung nennen wir den untersuchenden Vergleich eines deskriptiven Satzes mit (exakt)

Eine empirische Untersuchung nennen wir den untersuchenden Vergleich eines deskriptiven Satzes mit (bis zu)

Das Prinzip einer ethischen Untersuchung besteht im Vergleich eines normativen Satzes mit (exakt)

Damit erscheint Ethik wie die Synthese eines antithetischen Verhältnisses zwischen Logik und Empirik. Ihr sind noch weitere derartiger syntheseartiger Aspekte zueigen.42

Ethik und Ästhetik - untrennbar

[§24] Das Konzept des Wollens ist die Umkehrung zum Konzept des Erlebens (oder Empfindens, einer Subkategorie davon): Wille (im Idealfall) lässt sich als ein einem äußeren Ereignis vorausgehender Realität (S) der Selbstheit auffassen, Empfindung als eine einem äußeren Ereignis folgende Realität (S) der Selbstheit. Wille ist Aktivität, Empfindung ist Passivität. Oder, noch schärfer gegenübergestellt: Aus dem Willen beginnt Aktivität, in der Empfindung endet Passivität. Diese allgemeine Dichotomie setzt sich im Speziellen naturgemäß fort: Positiven und negativen Aktivitäten stehen positive und negative Passivitäten gegenüber.

Es sollte zu erwarten sein, dass dieses logisch-ontologische Verhältnis in der Ethik eine fundamentale Rolle spielt. Alltagssprachlich formuliert lautet es, dass guten und schlechten Handlungen gute und schlechte Empfindungen gegenüberstehen. Konkreter: Rechtschaffenem und frevelhaftem Wirken stehen angenehmes Wohl und peinvolles Leid gegenüber.

Das ist der Ansatz zur Einsicht in die Tatsache, dass Lohn und Strafe, wenn sie bloß zur Erziehung und Steuerung in die Richtung eines ethikkonformen oder sonstigen regelkonformen Verhaltens eingesetzt werden, damit lediglich einen nachträglich zugeordneten Zweck erfüllen, der nicht ihre ursprüngliche Rolle repräsentiert. Diese besteht nämlich darin, dem Akteur das zukommen zu lassen, was er verdient - unabhängig davon, ob es sein Verhalten fördert bzw. bessert oder nicht.

Intuitiv steht für die wohl allermeisten Menschen fest, dass die Begehung von Unrecht das Verdienen des Erleidens von Unbill, dessen Ausmaß der Größe des Unrechts entspricht, nach sich zieht. Woher aber kommt diese Gewissheit? Hat sie eine bloß animalische Basis (Wut, Rachedurst, Empörung), oder lässt sie sich rational, aber auch jenseits von bloßer Erziehung oder Abschreckung begründen?

Peinigung als notwendige Manifestation obligatorischer Ablehnung

Sich einer zu tun würdigen Tat willentlich zu enthalten oder etwas zu unterlassen Würdiges willentlich zu tun - beides ist des Unterlassens würdig. Es lässt sich auch sagen: Beides ist der Ablehnung würdig. Da das handelnde Subjekt willentlich handelte, hat es sich offensichtlich mindestens zu einem gewissen Grad mit der Handlung oder der dieser zugrundeliegenden falschen Ausrichtung mutwillig identifiziert. Eine Identifikation lässt sich auch insofern feststellen, als dass, so wie eine Handlung Ausdruck eines handelnden Willens ist, der Wille Ausdruck eines wollenden Subjekts ist (zur Annäherung als ontologisch in der Substanz der verantwortlichen Seele wurzelnd betrachtbar). Wie die Handlung einem Willen entspringt, entspringt der Wille dem Subjekt (wenn er nicht gar mit ihm identisch ist, siehe Eintrag §22). Durch diese Kette überträgt sich die Ablehnungswürdigkeit einer Handlung auf das handelnde Subjekt. In dem Maße also, wie die Handlung ablehnungswürdig ist, wird der so Handelnde ablehnungswürdiger oder verringert sich seine Achtungswürdigkeit.

Ablehnungswürdigkeit bedeutet, dass den Unrechttäter nicht abzulehnen unwürdig wäre - für wen, diese Fragestellung sei vorerst aufgeschoben (siehe Eintrag §27); vielmehr laute hier die Frage, wie im ethischen Sinne die „Ablehnung“ eines verantwortlichen Individuums überhaupt aussieht. Immerhin scheint seine Seele niemandem wie ein Geschenk oder dergleichen angeboten zu werden, was soll da abgelehnt werden? Die Ablehnung des Individuums als Teilnehmer an gesellschaftlichen Interaktionen kann zwar unter bestimmten Umständen eine gültige Form der Ablehnung sein, ist aber als Teil des Grundprinzips nicht allgemein und voraussetzungslos genug, da ein solches Grundprinzip dann abhängig vom Bestehen einer Gesellschaft wäre und annähme, dass jeder Willensträger Wert auf die besagte Teilnahme legt. Hierdurch wäre es nicht als Grundprinzip tauglich. Also bleibt nicht viel anderes übrig, als die Ablehnung des betreffenden Subjekts hinsichtlich seines dem bekannten Grundmodus entspringenden Strebens nach dem Zugang zur Wohlseligkeit bzw. dem erhofften Mehr an Wohlseligkeit sowie seine Ablehnung hinsichtlich seines Strebens nach Nutzen. Ablehnung im gewöhnlichen Sinn äußert sich in der alltäglichen Realität zwar überwiegend, wenn nicht ganz als diskret-binäres Konzept, das sich außer als innere Haltung des Ablehnenden nicht graduell steigern oder vermindern lässt - etwas wird entweder abgelehnt, oder eben nicht. Die in unserem Zusammenhang relevante Ablehnung jedoch muss sich graduell verschieden niederschlagen können, weil Würdigkeit prinzipiell gradualistisch ist und graduell unterschiedliche Ablehnungswürdigkeit die Möglichkeit graduell unterschiedlicher Ablehnung erfordert. Mitunter ist daher damit zu rechnen, dass die Schwere einer negativen Willentlichkeit u.U. ein Ausmaß erreicht, bei dem es nicht genügt, der betreffenden Seele den Zugang zu positiven Empfindungen bzw. Nutzen zu verwehren, sondern sie darüber hinaus die Überschreitung der Grenze zur Beibringung negativer Empfindung bzw. von Schaden verdient hat.

Reue

Die Menge der dispositionell verantwortlichen Beobachter eines Unrechts - zu dieser gehört auch der Unrechttäter selbst - würde sich im Falle von Untätigkeit und einer fehlenden spezifischen Herzenshaltung einer Ungerechtigkeit schuldig machen, da sie hierdurch Würdiges und Unwürdiges aktional gleichsetzen würde.43 Daraus folgt für den Täter und sonstige Beobachter die Pflicht, das betreffende Unrecht zu verurteilen und maximal aufrichtig abzulehnen. Der primär in Frage kommende Modus der maximal aufrichtigen Ablehnung von Unrecht sollte verständlicherweise sein, es ungeschehen zu machen. Was aber einmal Realität geworden ist, ist unmöglich ungeschehen zu machen. Entsprechend dem idealethisch essentiellen Approximationsprinzip44 besteht darum die Pflicht, etwas zu tun, was einer Ungeschehenmachung am allernächsten kommt. Als erstes mag einem hier in den Sinn kommen, dies durch einen Ausgleich der negativen Willentlichkeit durch die Vollbringung einer von ihr unabhängigen, beliebigen positiven Willentlichkeit zu bewerkstelligen, was jedoch keine Option ist, da keine Willentlichkeit so positiv ist, dass sie nicht ohnehin getan zu werden hätte (s.u., Eintrag §26). Vielmehr ist es die Verursachung von Pein im Subjekt des Täters, welcher diese Rolle zukommt, und die einer Rückgängigmachung am nächsten kommt. Denn die Pflicht wäre, das Subjekt dazu zu bringen, das Unrecht aus der Geschichte zu tilgen, was ontologisch unmöglich ist, oder wenigstens das Gegenteil des Begangenen zu wollen. Jemanden zu einem echten, ethisch relevanten Wollen zu zwingen, ist jedoch ebenfalls unmöglich. Zudem ist der Ur- bzw. Generalwille, dem der Partikularwille entsprang, bereits gefasst, und es steht in Zweifel, ob sich eine Urwertbeimessung nachträglich „updaten“ lässt.

So bleibt übrig, das Subjekt gemäß dem Approximationsprinzip wenigstens dazu zu bringen, zu wünschen, das Unrecht nicht getan zu haben (Reue). Damit ist die Pflicht zur Peinigung des Unrechttäters festgestellt, auch wenn offen ist, inwiefern diese ein Mittel der Verursachung des Wunsches zu sein hat, und inwiefern, falls sie als Mittel obsolet sein sollte, es lediglich bei der Pein als etwas einem solchen Wunsch notwendig und naturgemäß Anhaftendes bleibt; an der Pein als solcher geht für den Ungerechten ethisch kein Weg vorbei.

Von diesen Sachverhalten unberührt bleibt die Möglichkeit einer metaphysischen Grundlage für den Zusammenhang von Schuld und Pein. Überhaupt befreit einen die Unkenntnis eines wie auch immer gearteten Zusammenhangs nicht von irgendeiner Grundverantwortlichkeit.

Vereinfachung

Aber auch unabhängig davon tritt mit Unrecht ja ethische Negativität vom Subjekt ausgehend in die Realität ein. Was der unmöglichen Ausderweltschaffung der Tat, die nicht hätte geschehen dürfen, nicht hätte vom jeweiligen Subjekt ausgehen dürfen, am nächsten kommt, ist das Ausgehen sinnlicher Negativität, welche in das Subjekt eintritt, als „Simulation“ einer Rückkehr der ethischen Negativität an ihren Ursprungsort. Die Frage, was damit gewonnen wäre, d.h. wem damit genützt werde, ist obsolet, da es in der idealen Ethik nur in untergeordneter Weise um Nutzen geht und zudem das zu strafende Unrecht selber gar nicht in der Schädigung irgendeines Wesens bestanden haben muss.

Die einfachste Grundlegung beruht jedenfalls durchweg auf dem Approximationsprinzip und lässt sich dergestalt angeben,

  1. dass die unwürdige Fassung eines Vorhabens die Pflicht aller Beobachter einschließlich des Akteurs nach sich zieht, einen Ausgleich der in die Realität getretenen Unwürdigkeit herzustellen, weil ein angemessener Ausgleich der wenn auch ontologisch unmöglichen Ungeschehenmachung dennoch am nächsten kommt und ihm infolge der Alternativlosigkeit der Status einer Ungeschehenmachung in vollkommener Weise zukommt,
  2. der Ausgleich darin zu bestehen hat, im Akteur ein der Unwürdigkeit im Maß entsprechendes Leid zu induzieren, weil dies, falls es in seiner Essenz doch kein Ausgleich sein sollte, von allen denkbaren Dingen aufgrund der weiter oben festgestellten Aktiv-Passiv-Dichotomie am ehesten einem Ausgleich nahekommt und ihm infolge der Alternativlosigkeit der Status eines Ausgleichs in vollkommener Weise zukommt.

Der Ausgleich einer negativen Willentlichkeit anhand irgendeiner von ihr unabhängigen positiven Willentlichkeit bietet sich in einer korrekten apriorischen Ethik übrigens natürlich auch hier nicht als Alternative an, da keine Willentlichkeit so positiv ist, dass sie nicht ohnehin getan zu werden hätte (s. Eintrag §26).

Ethik, die einzig denkbare Selbstverteidigung

Ethik ist somit dasjenige, womit zumindest theoretisch jedem, der über den Begriff des Verdienens verfügt (was bei jedem gesunden Menschen anzunehmen ist, der den Begriff der Würdigkeit und einen Begriff der Subjektpassivität hat), unter Hinweis auf die Gesamtheit seiner Willentlichkeiten unwiderlegbar demonstriert werden kann, ob und wie sehr er Beglückung, Peinigung oder Verschonung verdient hat. Konform dazu lässt sich das ethische Erkenntnisvermögen als dasjenige und das einzige Instrument ansehen, mithilfe dessen der Mensch eine spätere Peinigung seiner selbst vernunftbasiert bzw. moralisch anfechten kann. Eine solche Peinigung wäre sozusagen eine spezielle Formulierung eines das bösartige Subjekt beunwertenden Urteils in Form einer beunwertenden Behandlung. Sie wäre aber keine künstlerische oder sonstwie einer gewissen Beliebigkeit entspringende Symbolisierung eines theoretischen Satzes im Sinne eines bloßen Alternativausdrucks, sondern die typische aktionale Folge einer (Un-)Wertbeimessung. (Besonders nachvollziehbar sollte das hier zugrunde liegende Prinzip im Zuge der Ausführungen im später folgenden Eintrag §39 sein.)

Behält man zu guter Letzt im Auge, dass die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung „Ästhetik“ (aísthēsis) ursprünglich „Empfindung“ bedeutete, und versteht unter Einheit im Folgenden lediglich „Untrennbarkeit“, kann man dem frühen Ludwig Wittgenstein in einer zuvor rätselhaft scheinenden Bemerkung in seinem Tractatus logico-philosophicus also durchaus zustimmen: Ethik und Ästhetik sind Eins.45

Negative Passivität als Hinweis auf negative Aktivität

[§25] Wenn negative Aktivität (Unrechttun) dem Individuum einbringt, negative Passivität zu verdienen, ließe sich daraus schließen: Sinnlich negative Passivität, die ein von ihr betroffenes Individuum nicht verdient hat, muss zur Bewertung der ursächlichen Aktivität des Akteur-Individuums als ethisch negativ führen, soweit diese willentlich und wohlwissend war. Könnte es negative Passivität auch ohne dieses geben, wäre das Gewicht dessen, was das Opfer als Unrechttäter wie in Eintrag §24 etabliert verdient hätte und jeder Unrechttäter verdient, und somit auch das Gewicht der negativen Aktivität des Unrechttäters relativierend in Frage gestellt. - Interessant ist, dass tatsächlich fast oder ganz jeder zustimmt, dass einem Wesen ohne jegliche Legitimation (z.B. aus bloßer Lust) willentlich Unbill zuzufügen böse ist. Mit dieser Erfüllung des zwar nicht hinreichenden, aber doch notwendigen Kriteriums der Intersubjektivität ist eine solche Aktivität ein Kandidat für objektiv als unethisch erkennbare Willentlichkeiten.

Die Aporie in Lohn und Schuld

[§26] Einerseits steht positiven Willentlichkeiten positives Erleben bzw. Lohn gegenüber, so dass man denken möchte, dass, wenn Unrecht Peinigung erfordere, Pflichterfüllung zu Belohnungswürdigkeit für das Subjekt führe. Andererseits ist eine Pflicht doch gewissermaßen nichts anderes als eine Schuld, die auf dem Subjekt lastet, und es ist nicht ersichtlich, warum eine Person für die bloße Begleichung einer Schuld Lohn verdienen sollte. Es ist nicht direkt evident, warum jemand für die bloße Unterlassung eines Unrechts Belohnung verdient haben sollte. Somit ist auch nicht evident, warum er diese für eine Pflichterfüllung, welche ja nichts als die Unterlassung der Unterlassung einer Pflicht und, zumal Pflichtunterlassungen Unrecht sind, somit nichts als die Unterlassung eines Unrechts ist, verdient haben sollte.

Ist Pflicht (im objektiv-ethischen Sinne) die Kategorie der Handlung, deren Unterlassung unwürdig ist, ist eine Pflicht zu erfüllen folglich nichts anderes als die kategorische Unterlassung einer Unwürdigkeit. Wenn dem so ist, so erscheint zwar weiterhin natürlich, dass die Begehung einer Unwürdigkeit mit Peinigungswürdigkeit einhergeht, nicht mehr jedoch, dass die Vollbringung einer Würdigkeit Belohnungswürdigkeit nach sich zieht, denn der Unterlassung einer Unwürdigkeit kann zunächst nur die Unterlassung der Peinigung gegenüberstehen und nicht (oder jedenfalls weniger) die Belohnung. Aus dieser Perspektive (a) gäbe es nie eine grundsätzliche Belohnungswürdigkeit.

Dann jedoch lässt sich sagen, dass die Begehung einer Unwürdigkeit nichts als die kategorische Unterlassung einer Würdigkeit bzw. äquivalent dazu ist - warum sollte die Vollbringung einer Würdigkeit nicht Belohnungswürdigkeit einbringen, während der Begehung der Unwürdigkeit als Unterlassung einer Würdigkeit die bloße Unterlassung der Belohnung gegenüberzustellen ist? Aus dieser Perspektive (b) gäbe es nie eine Bestrafungswürdigkeit.

Hierdurch sind wir mit einer Aporie konfrontiert. Die Aporie wird durch die Feststellung, dass es keine Zwischenstufe zwischen objektiver Pflicht und Neutralem gibt, verschärft (s. Eintrag §32). Gäbe es objektiv Handlungskategorien, die nur empfehlenswert sind, also etwas, das im positiven Bereich über die Erfüllung von Pflichten hinausgeht, Leistungen, die noch beachtlicher sind als bloße Pflichterfüllung, wäre der Verdienst positiver Passivitäten im Sinne eines Rechts auf solche in der a-Perspektive denkbar. So jedoch sind diese erst recht nicht denkbar.

Die Aporie dürfte so aufzulösen sein, dass der a-Perspektive der Vorzug gegeben wird, und zwar aus dem folgenden Grund: Die a-Perspektive ist objektiv, zumal sie für das abstrakte Würdige argumentiert, die b-Perspektive hingegen subjektiv, zumal sie für die konkrete Selbstheit argumentiert. Aus ihrer subjektiven Sicht erbringt sie bei der Vollbringung einer Würdigkeit eine Leistung, vergleichbar mit einer Abgabe oder einem Verlust, insbesondere, wenn ihr dadurch temporäre Wohlseligkeit entgeht, darum besteht sie mindestens auf einen Ausgleich. Bei der Begehung einer Unwürdigkeit hat sie aus ihrer Sicht lediglich nichts verloren, trauert also keinem damit entgangenen Vergnügen nach und fordert nicht mehr in der selben Stärke eine Kompensation. Dieser Perspektive liegt eine Bevorzugung der Selbstheit vor dem abstrakten Würdigen zugrunde, für die es in objektiver Ethik a priori keine Basis gibt. Demgegenüber ist in einer objektiven Ethik schon die Vollbringung einer Würdigkeit selbst etwas Wertvolles, dessen Wert sich von dem würdigen Fürgrund ableitet, so dass eine Akteur-Selbstheit schon mit der Möglichkeit der Vollbringung und dieser Vollbringung selbst einen ausreichenden „Lohn“ bekommen hat (der erstrebenswerte Akt ist erstrebt und erreicht worden). Andernfalls setzte man diese Vollbringung mit einer Peinigung und somit etwas Negativem gleich, was sich mit der Würdigkeit des würdigen Fürgrundes widerspräche.

Durch die Tatsache, dass jede Behauptung einer objektiven Belohnungswürdigkeit der Vollbringung von Würdigkeiten die Würdigkeit des Fürgrunds in Frage stellt, wird auch die Auseinandersetzung mit einer c-Perspektive, in welcher sowohl Belohnungs- als auch Bestrafungswürdigkeit ein Platz eingeräumt wird, weitgehend obsolet.

So enttäuschend es klingen mag: A priori können Subjekte folglich Peinigung oder - immerhin - Verschonung verdienen, nicht aber Wohltat oder Lohn.46

Ist aber wenigstens aufgrund von zur Pflichterfüllung nötiger, als negativ empfundener Mühsal, vielleicht auch durchlebtem Schmerz, ein Anspruch auf Ausgleich durch positive Passivitäten denkbar? In der Tat finden Meidungen von Unwürdigkeiten häufig im Widerstand gegen Neigungsdrücke statt und geschehen mit unterschiedlich hohen Aufwänden, und das unterschiedliche Ausmaß von Aufwänden erfordert unterschiedlich bemessene Behandlungen. Wenn eine gesunde Person ein zu rettendes Kind mit dem Auto bequem ins Krankenhaus fährt, müsste ihr dies anders entgolten werden, als wenn sie eine alte Person mit schmerzenden Knochen wäre, die das Kind, weil weder eine Kommunikations- noch eine Transportmöglichkeit zur Verfügung steht, es mit Schmerzen auf Händen tragend, zum Krankenhaus bringt. Jedoch...

Ebenso denkbar ist Belohnung als Motivation. Dies aber wäre eine Pflichterfüllung vonseiten eines Zweiten, um das Gute zu befördern oder zumindest zu würdigen. Es wäre nicht etwas, was der Motivierte verdient hätte.

Unerlässlichkeit der Bestraferrolle für wen?

[§27] Im Eintrag §24 hieß es: „Ablehnungswürdigkeit bedeutet, dass den Unrechttäter nicht abzulehnen unwürdig wäre“. Nun zur Frage, für wen dies unwürdig wäre. Mittlerweile wissen wir, dass sich näherungsweise genauso fragen lässt: Wer wäre zur Peinigung des unwürdigen Subjekts verpflichtet? Da es kein apriorisch-essentiell einschränkendes Kriterium gibt, lautet die Antwort: Zunächst (!) jeder Willensträger, einschließlich des Unrechttäters selbst, wenn der Willensträger...

Anders gesagt, wäre es nicht verfehlt, den Begriff der Bestrafungswürdigkeit darin definiert zu sehen, dass, wenn sich ein beliebiger Unrechttäter als unabhängiger, unbeeinflusster, beliebiger anderer Willensträger bei der Unrechtshandlung (bis ins Herz hinein) beobachtet hätte, er sich dafür hätte peinigen wollen. Man beachte hier übrigens die Involvierung des Willens („peinigen wollen“), und wie sie zur Tatsache der Voraussetzung der Möglichkeit von Willen für die Möglichkeit von Würdigkeit, bzw. wahrer Ethik allgemein, passt.47

In der Realität jedoch wird für die allermeisten Individuen diese Verpflichtung praktisch immer durch Gegenfaktoren aufgehoben, aufgeschoben oder sogar zu einer Unwürdigkeit, denn:

Völlig sicher in der Zuordnung des Rechts50 zur Bestrafung könnte man sich folglich nur bei einer allmächtigen, allwissenden Entität sein, die an allen Subjekten vollkommenes und alleiniges Eigentum besitzt. Die Intention dieses Eintrags ist jedoch ohnehin weder die, den Leser über ihm vielleicht zukommende Peinigungsbefugnisse zu informieren, noch einen ethischen Gottesbeweis auszubreiten (obwohl für wache Denker etwas in der Richtung eines solchen hier durchaus hervorblitzt), sondern zu unterstreichen, dass im Kern des Idealfalls jede ethisch urteilsfähige Entität die Ablehnungs- und Peinigungswürdigkeit des unwürdigen Subjekts erkennen würde und willentliche Unwürdigkeit sich somit objektiv (da für alle denkbaren Willensträger erkennbar) in Peinigungswürdigkeit niederschlägt.

Verbindlichkeit

[§28] Wenn die Rede von Pflichten ist, die sich aus objektiven Grundprinzipien ergeben, ohne die sofortige Annahme, dass sie von einer personalen Entität oder einer Institution gesetzt worden seien, und ohne sie sofort mit einer Aufzeigung realitärer negativer Konsequenzen zu bewehren, ist die Aufwerfung der Frage zu erwarten, wo eine solche ethisch erkannte Pflicht ihre Verbindlichkeit herbekommen solle. Insbesondere der Nihilist betrachtet jede Rede über objektive Ethik als Werkelei an Luftschlössern und schert sich nicht um die Kohärenz und Folgerichtigkeit ihrer Darlegung, so vollkommen diese auch sein mögen, weil er meint, es sei nirgends erkennbar, woher irgendeine aus rein abstrakten Prinzipien hergeleitete, angebliche Pflicht ihre Verbindlichkeit beziehen solle. Diese Frage wird für ihn wohl besonders in Hinsicht auf die Voraussetzungslosigkeit idealer Ethik berechtigt wirken.

Juristisch nennt man z.B. eine Zusage oder ein Befehl verbindlich, um auszudrücken, dass die betreffende Person nicht die Freiheit hat, sich der Erbringung des Zugesagten oder der Befolgung des Befehls zu enthalten. Im juristischen Kontext impliziert dies, dass ein positivrechtliches Gesetz existiert, das die behördliche Erzwingung der Erbringung der Leistung oder von etwas Gleichwertigem im Falle der Enthaltung regelt, so dass die Person in diesem Fall mit jener Erzwingung zu rechnen hat.

Voraussetzungslose Ethik argumentiert aber nicht mit evtl. tatsächlich drohender, behördlicher Verfolgung, denn sie setzt zunächst eben nicht die Existenz von irgendetwas voraus, was den Umgang mit Pflichten auch nur überwacht und zu entsprechenden Reaktionen bereit ist. Was also ist denn da im Sinne der Ethik an hergeleiteten Pflichten „bindend“?

In diesem Zusammenhang sollte auffallen, dass die Begriffe der Pflicht und der Verbindlichkeit (V), wenn sie nicht miteinander identisch sind, doch wenigstens einer den anderen enthält oder sie sich signifikant überschneiden. Bemerkbar wird dies im Angesicht der Tatsache, dass es beliebig austauschbar ist, über einen reinen Befehl zu sagen, er sei verbindlich oder nicht verbindlich, und zu sagen, es sei Pflicht oder keine Pflicht, ihm Folge zu leisten, oder über eine Zusage, sie sei verbindlich, und zu sagen, es sei Pflicht, sie einzuhalten. Gegenüber „verbindliche Zusage“ oder „verbindlicher Befehl“ weckt der Ausdruck „verbindliche Pflicht“ anscheinend nicht umsonst den starken Eindruck, ein Pleonasmus zu sein. Das sollte ahnen lassen, dass die Frage durch eine Analyse des Pflichtbegriffs, wie sie in Eintrag §33 erfolgt, zu beantworten ist. Eine solche Analyse eignet sich nämlich, bewusst zu machen, dass Pflicht thematisierende und ihren Namen verwendende Rede in der Ethik einen moralisch ideal oder zumindest genügend gut ausgerichteten und entwickelten Adressaten annimmt, der sich vorab so konditioniert hat, dass er kaum anders kann, als sich an eine als solche von ihm erkannte Pflicht zu halten, indem er sie erfüllt. Seine Freiheit ist also unter Mitwirkung naturaler, an eine Würdigkeitsbedingung geknüpfte Faktoren eingeschränkt, worin letztlich die Verbindlichkeit von Pflichten besteht. Soweit anzunehmen ist, dass sich in jeder gesunden, erwachsenen Person Ansätze oder Überreste jener Konditionierung befinden, müsste zudem die Verbindlichkeit jeder als solche erkannten Pflicht für sie zumindest als fühlbare Tendenz spürbar sein.

Plausible Alternativen oder Ergänzungen zu dieser Erklärung laufen mehr oder weniger auf das selbe hinaus, z.B. wenn die Verbindlichkeit einer Pflicht einfach als ihre Würdigkeit aufgefasst wird, erfüllt zu werden, oder als ihre Würdigkeit, sie dem Subjekt, dem sie obliegt, aufzuerlegen, d.h. ihre Würdigkeit, ihre Erfüllung  von ihm aktiv zu verlangen (das Subjekt an sie zu binden).

Die Aufzeigung der ethischen Verbindlichkeit von etwas erfolgt in jedem Fall allein schon durch die Demonstration, dass es eine Pflicht ist, und dies wiederum durch ihre korrekte Herleitung von einer gültigen ethischen Basis. Ist dies erfolgt, ist bereits alle relevante Verbindlichkeit aufgezeigt.

Im Übrigen ist in unserem Sprachgebrauch eine Norm oder Zusage dann verbindlich, wenn von ihr abzuweichen eine negative Folge für den Akteur hat. Ob diese Folge theoretischer oder praktischer Natur ist, ist zweitrangig. Sie kann auch einfach darin bestehen, dass er dann als unwürdig(er) einzustufen ist. Immerhin bedeutet im privaten Kontext die Bekundung der Selbstbindung an z.B. eine Zusage stets implizit das vorab gegebene Einverständnis oder die Inkaufnahme, dass im Falle der Abweichung der Akteur vonseiten der Anderen als unehrenhaft behandelt werden dürfe. Die Verbindlichkeit objektiv-ethisch gültiger Normen beruht in dieser Bedeutung auf der in Eintrag §24 erwähnten Gesetzmäßigkeit der Übertragung von Würdigkeit und Unwürdigkeit.

Tauchexpedition zum Ursatz der Ethik

[§29] Auf der Suche nach dem Ursatz der Ethik lässt sich ein Steckbrief zusammenstellen. Diese Eigenschaften muss er nämlich erfüllen:

Diese Bedingungen sind unverzichtbar, denn: 1) Ein Ursatz, der nicht empirisch voraussetzungslos ist, kann keinen eigenständigen Erkenntnisstamm begründen, und aus (faktualem) Sein lässt sich Sollen ohne Weiteres niemals einwandfrei ableiten. - 2) Ein nicht unabgeleiteter Satz, der also eines tieferen Satzes bedarf, ist offensichtlich kein Ursatz. - 3) Das Fehlen unmittelbarer objektiver Evidenz weckte bei einem Satz nicht nur den Verdacht, dass er einer Begründung bedarf und ihm somit ein tieferliegender Satz zugrunde liegt, so dass er kein Ursatz sein könnte, sondern er wäre zudem wahrscheinlich nicht geeignet, die Grundlage ethischen Erkennens und der dazugehörigen Praxis zu sein, zumal die Schwierigkeit der Ersichtlichkeit sich über die abgeleiteten Sätze hinweg fortpflanzte, wenn nicht sogar zunähme.  4) Falls er selbst direkt keinen Handlungsbegriff beinhaltet, sollte er wenigstens Handlungsnormen produzieren oder begründen können, ansonsten ist er für das, wofür überhaupt ethisch räsoniert wird, nämlich für die Praxis, unbrauchbar bzw. irrelevant. - 5) Ohne die Form „X ist [un-]würdig“ oder eine äquivalente Form lassen sich keine anderen ethischen Sätze mit ihm beurteilen bzw. von ihm ableiten. Dies wiederum ist darauf zurückzuführen, dass zwischen einem ethischen Urteil und einem Satz beliebiger anderer Art nie ein Widerspruch festgestellt werden kann (z.B. zwischen „Hilfsbereitschaft ist würdig“ und „Unser Bademeister hält viel/nichts von Hilfsbereitschaft.“), es sei denn allenfalls, dass der zweite Satz von Nahem oder Fernem ein ethisches Urteil impliziert (z.B. bei „Hilfsbereitschaft ist unwürdig“ und „Ohne Hilfsbereitschaft gingen alle Menschen zugrunde.“51), und selbst dann wäre es nicht der Satz selbst, mit dem der Abgleich vollzogen würde, sondern nur ein mit ihm in Verbindung stehender ethischer Satz - doch als Prüfsatz ist nur ein Satz geeignet, zu dem Widersprüche aufzustellen wenigstens denkbar ist. - 6) Ohne die Allgemeingültigkeit und Universalität des Satzes wäre das ethische Urteilsvermögen unvollständig, bzw. er würde zeigen, dass man doch noch einen zweiten oder mehr maßstäbliche Sätze benötigt, und dies wiederum, dass der ethische Ursatz noch nicht gefunden ist. Die Aussparung von Subjekten oder Objekten benötigte eine Begründung und wäre gleichbedeutend damit, dass etwas anderes der Ursatz wäre.

Sätze, die einem solchen Ursatz vermeintlich oder wirklich nahekommen und wohl von den meisten Menschen vorgeschlagen würden und womöglich von allen weitgehende Zustimmung erfahren können, sind ad hoc so einige formulierbar, die folgenden Beispiele sind allesamt als |... ist würdig|-Sätze darstellbar: Die sogenannte Goldene Regel |Behandele andere so, wie du selbst behandelt werden willst.|, das neutestamentarische |Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.|, Aquinas' |Das Gute soll man tun, das Böse soll man meiden.|, und weitere, wie |Man muss ein so wertvolles Leben wie möglich führen.|, |Man darf nie etwas Schlechtes begehen.|, |Man muss am Ende seines Lebens so viel Gutes getan und soviel Schlechtes vermieden haben, wie nur möglich|, |Rechte sind zu wahren und nie zu verletzen.|, usw. Durchaus lässt sich zugeben, dass vielleicht nicht alle vernünftigen Menschen ohne zu zögern z.B. dem Satz zustimmen werden, man müsse ein möglichst maximal wertvolles Leben führen, so dass man sagen könnte, dies sei aufgrund seines unmittelbaren intuitiven Einleuchtens das erste Prinzip der Ethik. Denn jemand könnte fragen, warum es nicht ausreiche, ein nur weitgehend statt möglichst maximal wertvolles Leben zu führen. Auch, seinen Nächsten wie sich selbst lieben zu sollen, bedarf der einen oder anderen Erklärung oder Präzisierung: Was, wenn mein Nächster eine engelhafte und ich eine teuflische Person bin, oder umgekehrt? Existiert überhaupt ein Mensch außer mir? Gehören Engel oder Tiere zu unseren Nächsten? Wenn nein, warum nicht? Was ist mit bereits Verstorbenen, haben wir ihnen gegenüber keine Pflichten? etc. - Indes aber können alle sofort zustimmen, dass man schlichtweg kein unwürdiger „Schweinehund“ sein dürfe. Für niemanden ist es wirklich denkbar, es sei nicht unwürdig, (absichtsvoll oder inkaufnehmend) ein unwürdiges Subjekt zu sein. Zu Beginn mag man nicht wissen, wie und wodurch im Einzelnen man überhaupt unwürdig oder würdig werden bzw. bleiben kann. Jedoch ist dies ein vom vorliegenden unabhängiger Untersuchungsgegenstand, auf dessen ersten Erhellungsansatz weiter unten eingegangen wird.

Damit hätten wir prima facie einen recht aussichtsreichen Kandidaten für den ethischen Ursatz: |Unwürdigsein ist unwürdig.| Doch so einleuchtend der erste Eindruck ist, den er weckt - schon die auf der sprachlichen Ebene zweimal vorkommende Verkehrungsnegation („un-“) macht ihn verdächtig, zu komplex für einen Ursatz zu sein. Berücksichtigend, dass wir es hier wiederum womöglich nur mit einer sprachlichen Interferenz zu tun haben, sollte dem Satz allerdings doch eine Chance gegeben werden, sich dennoch zu bewähren. - Nun ist dieser auch abgesehen davon weniger trivial, als er auf den ersten Blick aussieht. Es dürfte nämlich klar sein, dass z.B. Körperlichkeit nicht körperlich ist (Dinge, denen Körperlichkeit zukommt - Körper - sind körperlich), dass Anormalität nicht anormal, sondern in so manchem Kontext sogar als etwas eher Normales angesehen werden kann, dass die Instabilität von etwas sehr stabil sein kann, dass Neugier nicht neugierig ist usw., warum also sollte Unwürdigsein unwürdig sein? Wäre dies eine absolute Trivialität, müsste man von einer Identität der zweifellos nicht identischen Begriffe des Habens und des Seins ausgehen, wo doch z.B. reich zu sein zwar Reichtum zu haben ist, Reichtum zu haben aber nicht Reichtum zu sein, heiß zu sein zwar Hitze zu haben, Hitze zu haben aber nicht Hitze zu sein, geschwind zu sein zwar Geschwindigkeit zu haben, Geschwindigkeit zu haben aber nicht Geschwindigkeit zu sein usw. - Dass aber der Satz, wie es scheint, also keineswegs trivial ist, macht ihn wiederum verdächtig, eine Rechtfertigung zu benötigen und somit, auf einem tiefer liegenden Satz zu beruhen. Um ihn weiterhin auf [Nicht-]Elementarität hin zu prüfen, fragen wir doch einfach mal: Warum ist Unwürdigsein unwürdig? Analog: Warum ist Schlechtsein schlecht? Die einzige non-triviale, einleuchtende Begründung lautet: Schlechtsein ist schlecht, weil es erst mit Schlechtsein Schlechtes geben kann, und es ist ja schlecht, wenn es Schlechtes gibt. Warum aber ist dies schlecht, d.h. warum sollte es denn nichts Schlechtes geben? Hierauf lässt sich keine andere Antwort finden außer: Weil Schlechtes schlecht ist. Umformuliert: Wegen des Schlechtseins jegliches Schlechten. - Wegen des Schlechtseins also, das dem Schlechten zukommt, sollte es nichts Schlechtes geben, und weil es nichts Schlechtes geben sollte und die Gegebenheit von Schlechtem erst mit Schlechtsein möglich ist, ist Schlechtsein schlecht. Somit wurzelt das Schlechtsein des Schlechtseins im Schlechtsein des Schlechtseins. Anders gesagt: Unwürdigsein ist unwürdig, weil Unwürdigsein unwürdig ist. Ist damit jetzt gezeigt, dass es keinen elementareren ethischen Satz als diesen gibt und mit ihm der Ursatz gefunden ist?

Dies steht zu einem gewissen Grad in Zweifel, denn:

Während der Analyse kam jedoch ein Satz vor, der zur Begründung des vermeintlichen Ursatzes diente und nicht nur tiefer liegt, sondern auch unmittelbar evident ist: |Schlechtes ist schlecht.|, analytisch geeigneter formuliert: |Unwürdiges ist unwürdig.|. Wir können ihn getrost ersetzen mit: |Würdiges ist würdig.|. Zwar hätte eine analoge Ersetzung beim Satz |Unwürdigsein ist unwürdig.|, nämlich mit |Würdigsein ist würdig.|, nicht funktioniert, denn damit, dass ersteres äquivalent ist zu |Nicht-Unwürdigsein ist würdig.| kommt das Würdigsein von Würdigsein lediglich in Frage, ohne das Würdigsein von Neutralität auszuschließen - was zu wenig ist.52 Doch |Unwürdiges ist unwürdig.| können wir anscheinend schon eher mit |Würdiges ist würdig.| ersetzen, denn wenn |Unwürdiges ist unwürdig.| äquivalent ist zu dem Satz: |Das Nichtsein von Unwürdigem ist würdig.|,53 qualifiziert er das Nichtsein von Unwürdigem als etwas Würdiges. Gälte nicht |Würdiges ist würdig.|, wäre jenes als würdig Qualifizierte doch nicht würdig, d.h. das Nichtsein von Unwürdigem wäre nicht würdig, was ein Widerspruch wäre. Also gilt: |Würdiges ist würdig.|. Aus dem eben genannten Grund lässt er sich sogar als die tieferliegende Voraussetzung von  |Unwürdiges ist unwürdig.| betrachten. Der Satz  |Würdiges ist würdig.| erfüllt nun alle Kriterien: Er enthält keinen einzigen empirischen Begriff und ist empirisch voraussetzungslos, ansonsten ist er offensichtlich unabgeleitet, unmittelbar evident, besitzt die richtige Form und ist allgemeingültig und universal. Er ist sogar fundierungskräftig, wie sich gleich deutlicher zeigen soll.

Der Einwand, der Satz sei nichtssagend, ist ungültig, denn es ist nicht der Zweck des Satzes, jemandem eine neue Information mitzuteilen. Wir befinden uns hier nicht im Bereich deskriptiven Urteilens wie in Logik und Empirik, so will der Satz kein empirisch-außenwirkliches Faktum wiederspiegeln, sondern festlegen, was die Haltung des willensfähigen Subjekts zu Würdigem zu sein hat (z.B. je nach der Art oder Natur des jeweiligen Würdigen es anzustreben, es herbeizurufen54, ihm Aufmerksamkeit zu leihen etc.). (Etwas hiervon nicht allzu weit Entferntes liegt sicherlich auch der geläufigen Redewendung zugrunde: „Ehre, wem Ehre gebührt“.) Es tut nichts zur Sache, wenn er nichts das deskriptive Wissen potentiell Erweiterndes mitteilt, solange er formal wenigstens urteilt und als solches Urteil zur Prüfung anderer ethischer Urteile geeignet ist. In erster Linie ist er keine logisch oder sonstwie deskriptiv gemeinte Feststellung, sondern eine Bewertung. (So wie |Der Schrank ist aus Holz| eine deskriptive Feststellung und keine Bewertung ist, so ist |Diese Handlung ist würdig| im Wesentlichen eine Bewertung und keine deskriptive Feststellung.)  Dass er geeignet ist, anderen Sätzen zur Grundlage zu dienen, hat sich ja schon indirekt erwiesen: Warum sollte es möglichst wenig Schlechtes geben? Weil Schlechtes schlecht ist. Warum sollte es Gutes geben? Weil Gutes gut ist. Warum sollte es Würdiges geben? Weil Würdiges würdig ist. Dies lässt sich anknüpfend fortsetzen: Warum sollte man Würdiges tun? Weil es Würdiges geben sollte...  So wenig ergiebig dies noch wirken mag, es sollte weder übersehen noch unterschätzt werden, dass die hier vorliegenden begründeten Sätze sich begriffsinhaltlich von den Begründersätzen tatsächlich unterscheiden (durch Hinzukommen des Existenzbegriffs, durch Hinzukommen des Begriffs des Tuns...), so dass bereits jetzt eine Pluralität von ethischen Urteilen zur Verfügung steht: |Würdiges ist würdig.|, |Die Existenz von Würdigem ist würdig.|, |Würdiges zu tun ist würdig.|...

Es führt allerdings kaum ein Weg daran vorbei, sich mit einer anderen naheliegenden Kritik auseinanderzusetzen. Diese lautet: Zwar hören sich diese Sätze allesamt richtig an, doch wo liegt ihr Wert als vorgebliche Prüf- und Urteilssätze, wenn keiner von ihnen konkret angibt, wie sich Gutes und Schlechtes erkennen lässt, bzw. nach welchen Kriterien etwas gut oder schlecht ist? Allerdings sollte eine solche Kritik nicht übersehen, dass wir es hier nun mal mit dem ethischen Ursatz und ursatznahen Sätzen zu tun haben, und dass  der geringste Konkretisierungsgrad naturgemäß erst recht mit dem Verlust der Tauglichkeit als ethischer Ursatz einhergeht, wie bereits in Eintrag §23 dargelegt - jede noch so geringe Konkretisierung benötigte eine Rechtfertigung. Die Begriffe des Würdigen und Unwürdigen müssen also im ethischen Ursatz abstrakt und schlicht das bleiben, was jeden reinen, von Fremdeinflüssen (insbesondere von Neigungen) unberührten und hinreichend informierten Vernunftwillen heranziehen oder abweisen würde, was auch immer jenes sein mag. Das Würdige ist das zu Wollende oder zu Wertschätzende, und das Unwürdige ist das Abzulehnende.

Jeder gesunde Willensträger findet in sich somit früher oder später den Imperativ „Würdiges tue!“ bzw. „Unwürdiges lasse!“55, und dass dieser abstrakt und leer scheint, taugt als Ausrede nicht. Die Erkenntnis der Gültigkeit seiner normativen Form „Würdiges ist zu tun“ hat die Qualität einer unabweisbaren Notwendigkeit, wenn nicht gar a priori von ihr auszugehen ist. Erinnerungen an diese Gültigkeit begegnen einem im Leben oft genug, und ebenfalls einleuchtend ist, dass das Erfordernis von etwas, dessen Umsetzung nicht klar ist, untrennbar mit dem Erfordernis einhergeht, nach dem Weg zu seiner Umsetzung zu suchen. Wenn es erkennbar Pflicht ist, einen unbekannten Ort mit dem unbekannten Namen „Bekka“ zu besuchen, dann ist es unleugbar wenigstens auch Pflicht, zu beginnen, sich so zu informieren (Wo liegt Bekka? Wie verläuft der Weg dorthin? Wie erwerbe ich die Möglichkeit, dorthin zu gelangen?), dass man der Pflichterfüllung wenigstens näher kommt - im Extremfall selbst dann, wenn sich eine solche Erfüllung vorab als nach empirischen Maßstäben kaum vorstellbar darstellen sollte. So verhält es sich auch mit dem Ursatz: Es hängen an ihm weitere Sätze, nämlich z.B. Feststellungen der Würdigkeit des Nachdenkens über ihn und darüber, was das (am ehesten) Würdige sein könnte, usw.

Wir erleben hier mit einem solchen „Hinzutreten“ von ethischen Urteilen übrigens die Erscheinung eines wichtigen Charakteristikums der Ethik: Im Zusammentreffen des ethischen Satzes mit dem Sauerstoff der Realität und dem Öl der empirischen Möglichkeiten des Subjekts wird er zum Funken, der eine, zwei oder noch viel mehr Flammen weiterer ethischer Sätze gebiert, und scheinbare Leere oder Tautologien in dem jeweiligen Satz stehen dieser Fruchtbarkeit nicht unbedingt entgegen. Dem völlig unbestimmten Imperativ „Tu etwas!“ lässt sich zumindest anfangsweise schon Genüge tun, indem der Befehlsempfänger zurückfragt: „Was soll ich denn tun?“56.

Das ist der Erhellungsansatz, auf welchen oben angespielt wurde, nämlich dass jeder einsehen können dürfte, dass man...

Zu guter Letzt sollten wir uns vergegenwärtigen, wodurch eigentlich die Tautologie |Würdiges ist würdig.| erst dazu tauglich wird, der tragfähige Fundamentalsatz eines eigenständigen Erkenntnisstamms des menschlichen Urteilsvermögens zu sein: Da andere Tautologien wie „[Logisch] Notwendiges ist [logisch] notwendig“ oder „Tatsachen sind Tatsachen“ oder „Breites ist breit“ etc. trotz gleicher Struktur diesen „Effekt“ nicht haben, kann es nur der Begriff des Würdigen oder derjenige der Würdigkeit selbst sein, auf den hier zu verweisen ist. Es ist folglich wohl recht angemessen, zu sagen, dass sich erkenntnistheoretisch die Gültigkeit ethischer Urteile aus dem (im Kern undefinierbaren, weil elementaren) Begriff des Würdigen (oder: der Würdigkeit) selbst ableitet.

Ohne objektive Ethik kein Ich-kann-nichts-dafür

[§30] Spätestens mit Eintrag §29 ist jetzt die Silhouette der Begründbarkeit objektiver Ethik in Erscheinung getreten, und es liegt der Zipfel jenes Strangs zur Hand, der an seinem anderen Ende mit der Erkenntnis verbunden ist, dass es keineswegs so ist, dass Gutes immer nur Gutes für etwas oder jemanden sein kann, und Ethik etwas im Grunde nur Relatives und Subjektives. Als „gut“ lässt freilich auch das sich bezeichnen - doch nun haben wir außerdem einen Begriff des objektiv Guten und Würdigen. Objektiv würdig ist außer an sich Würdigem eine Willentlichkeit (S), die das an sich Würdige, und was seinetwegen würdig ist, wertschätzt (d.h. der Wertschätzung solcher Würdigkeiten (S) entspringt), die mithin in irgendeiner Weise die Idee des Würdigen57 respektiert, wertschätzt und würdigt, d.h. die Willentlichkeit, in der sich dies niederschlägt. Dabei ist es für die Ethik irrelevant, ob sich irgendetwas an sich Würdiges vorab als existent erwiesen hat oder nicht (was an anderer Stelle noch angesprochen werden soll). Die Wohltat am Nächsten ist also nicht unbedingt deshalb gut, weil dieser Nächste sie gut findet, sondern, weil sie eine bis zur Idee des Würdigen reichende Abhängigkeitskette respektiert. Als Beispiel diene hier die Rettung eines Lebensmüden: Subjektiv, d.h. aus der Sicht des zu Rettenden, ist seine Rettung etwas Negatives. Die Rettung aber ist unabhängig von derlei subjektiven Ansichten als objektiv positiv einzustufen, soweit sie aus Wertschätzung gegenüber dem Wert des Menschenlebens allgemein erfolgte, und diese Wertschätzung in einer Abhängigkeitskette steht, die in der Wertschätzung des Guten ihren Ursprung hat. Ein unstrittigeres, da nicht so sehr im Dunstkreis der Euthanasie-Kontroversen liegendes Beispiel wäre die Verabreichung einer notwendigen, bitteren Medizin bei einem an einem Infekt erkrankten (evtl. noch beschwerdefreien) Kind.

Die Ablehnung des Konzeptes objektiver Würdigkeit bedeutete derweil die Leugnung aller auf Gesinnung und Lebenswandel beruhenden Rangunterschiede, sei es zwischen Lebensrettern und Massenmördern, zwischen Wohltätern und Räubern, oder zwischen Engeln und Teufeln.  Gemäß der Implikation der Ablehnung jenes Konzeptes befänden sich diese Kategorien objektiv allesamt auf einer einzigen Stufe. Die Inakzeptabilität dieser Haltung ist evident und gilt erst recht, wenn schon jenseits von Gesinnung und Lebenswandel „eine Welt voll Menschen einer Welt voll Schweinen vorzuziehen ist“, wie G. E. Moore (1873-1958) gegen die Lustethik protestierend einwendet, „auch dann, wenn die Schweine vielleicht genausoviel oder mehr Lust empfinden als eine Welt von Menschen.“58

Eine solche Haltung ist gleichbedeutend mit einer Verharmlosung der größten denkbaren Verbrechen, diese Verharmlosung wiederum objektiv äquivalent zu einer weit unter die Grenze der Indifferenz hinabstoßenden Abwertung von Unschuld (wg. Gleichsetzung von Schuld und Unschuld), diese wiederum äquivalent zu einer Gutheißung von Schuldhaftigkeit, diese wiederum gleichbedeutend mit der eigenen, höchstpersönlichen Begehung schwerster Untaten, und sei es, ohne dafür auch nur einen Finger gerührt zu haben.59 Jeder, der das Konzept des objektiv Würdigen und Unwürdigen anzuerkennen ablehnt, der ignoriert, ja verneint natürlich jede Möglichkeit eines objektiven Rangunterschieds auch zwischen sich selbst und den schlimmsten Tyrannen und Verbrechern der Menschheitsgeschichte und noch Schlimmerem - unterschiedliche Ränge in diesem Sinne gibt es ohne objektive Würdigkeit immerhin nicht, und sie nach objektiven, d.h. wahrhaft ethischen Maßstäben kritisieren will er jene Subjekte ja nicht, allenfalls nach Kriterien des Nützlichen und dem Nutzen Entgegengerichteten oder in einer Art Pseudo-Kritik, die nicht mehr als der Ausdruck einer emotionalen Affiziertheit ist, nicht anders und nicht mehr wert, als wenn jemand seinem Ekel vor einem Reptil oder einer Spinne Ausdruck gibt. Objektiv betrachtet wäre er, so er konsequent ist, in seinem eigenen Urteil und seiner eigenen Inkaufnahme nicht besser als die schlimmste Ausgeburt des Bösen und Unmenschlichen, da seine Haltung die Ansicht impliziert, dass alle Akteure letztlich nichts für ihr Tun können und nichts objektiv Böses daran erkennen konnten. Verlangt er derweil, dass sie das nach seinem subjektiven Maßstab Böse hätten erkennen sollen, ist er mit der Hybris, die er hiermit bewiese, erst recht keinen Deut besser als sie. Zieht er sich auf einen kollektiv-subjektiven Maßstab seiner Gesellschaft oder einer sonstigen Menge von Individuen seiner biologischen oder ontologischen Art zurück, hat er lediglich andere für diese Hybris vereinnahmt. Jedenfalls beraubt sich der Verweigerer der Anerkennung objektiven Rechts selbst vor sich selbst des eigenen Rechts zur Rechtfertigung, und ihm zugunsten gibt es nie ein Ich-konnte-aber-nichts-dafür, da nach seinem eigenen Urteil - das sich hier als Selbstverurteilung auswirken muss - jeder für nichts etwas könne. In einer Welt, in der notwendig jeder für nichts etwas kann, hat das Ich-kann-nichts-dafür unmöglich einen Wert. Aufgrund der bereits aufgezeigten wesentlichen Verschränkung (Eintrag §21) zwischen den Begriffsspektren des Willens und der Wertbeimessung stellt seine Vorenthaltung der Wertschätzung der Idee eines objektiven Rechts zur Rechtfertigung einen notwendigen Verzicht auf die Inanspruchnahme dieses Rechts dar - mindestens vor sich selbst.

Andererseits äußert er implizit, durchaus einen Begriff objektiver Würdigkeit zu haben, automatisch sobald er sich - und sei es nur vor sich selbst - für irgendetwas Unwürdiges oder als solches Hingestelltes mit Inbrunst tatsächlich zu rechtfertigen anschickt. Denn die meisten Rechtfertigungen drehen sich um irgendeine Möglichkeit oder Fähigkeit, die einem zur Konstatierbarkeit von Schuld gefehlt habe. Eine solche Rechtfertigung ist nichts als eine Form der Beschwörung objektiver Ethik bzw. der Berufung auf sie. Und da praktisch jeder erwachsene Mensch irgendwann wegen irgendetwas mit Vorwürfen oder Selbstvorwürfen konfrontiert wird, dürfte jeder Mensch irgendwann in seinem Leben das Konzept des objektiv Würdigen unausweichlich anerkennen und in Anspruch nehmen.

Für den ethikbasierten Dialog allerdings können wir freilich kaum warten, bis eine solche Person in die Not gerät, jene Inbrunst an den Tag zu legen. Das in diesem Zusammenhang vorliegende Diskursproblem verschärft sich dadurch, dass Würdigkeit weder ein Begriff der Logik noch der Empirik ist, und dass es nicht sein kann, dass sich Ethik aus Logik oder Empirik ableitet, wenn sie als dritter Erkenntniszweig zu Logik und Empirik auf einer Ebene mindestens gleicher Höhe mit ihnen hinzukommen soll. Somit muss der Ursatz der Ethik als weder durch Logik noch durch Empirik erschließbar angesehen werden. Welchen Zugang soll man dem anderen zur Ethik dann verschaffen?

Eine sekundäre Methode wäre die Aufzählung von Argumenten, die nach heuristischen Herleitungen für die Etabliertheit des Begriffs in jedem Menschen sprechen, oder warum man ihn haben sollte, je nach dem, welcher Ethik der andere anhängt, so dass er sich z.B. auch aus Lust- oder Nutzenethik ableiten lässt. Hierbei wäre insbesondere, wie schon oben beim Problem der inneren Rechtfertigung subtil anklang, das Argument der psychischen Stabilität und Gesundheit zu nennen. Ein idealethisch gültiges Argument wäre letzteres selbstverständlich nicht, wohl aber u.U. gültig nach den Maßstäben des Dialogpartners, und somit eine Hilfestellung in Form einer Spielart der Wittgensteinschen Leiter, die nach der Benutzung wegzuwerfen wäre.

Wie dem auch sei: Das Ziel ethisch-abstraktiver Dialektik ist ohnehin nicht, dem Gegenüber am Ende sagen zu können: „Ich habe dir bewiesen, dass es objektiv Würdiges gibt, und jetzt habe ich dir daraus abgeleitet, dass du XY hegen/tun musst.“ Und auch nicht: „Falls es objektiv Würdiges gibt, ergibt sich daraus die Ableitung, dass du XY hegen/tun musst, und falls nicht, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.“ Sondern eher: „Du hast/kennst den Begriff des objektiven Würdigseins genauso wie ich, denn er macht nichts weniger als den Begriff des (ethischen) Müssens aus, und da du dich auf einen Diskurs eingelassen hast, in welchem es nur darum geht, ein objektives Müssen aufzuzeigen, gibst du dich als jemand zu erkennen, der jenen Begriff tatsächlich hat. Hast du den Begriff - dem Anschein zum Trotz - nicht, so wisse, dass sich aus ihm ergibt (wie sich zeigen lässt), dass derjenige, der ihn hat, denjenigen, der ihn nicht hat, als hinsichtlich der Würde defizitäre Entität einzustufen verpflichtet ist, und der Versuch, ihm sein objektives Müssen aufzuzeigen, nicht fruchtbarer zu sein verspricht als dies mit einem Zebra, einer Forelle oder einem Hausspatz zu versuchen. An diesem Diskurspart bist du genausowenig ein Teilnehmer und Ansprechpartner wie die Zimmerpflanze drüben auf der Fensterbank, und warum dies so ist, kann ich dir genausowenig erklären wie ihr. Falls du ihn nun hast: Aus dem Begriff selbst ergibt sich, dass du XY hegen/tun musst.“

Zugegebenermaßen mag dieser Entwurf hinsichtlich seines Stils im Einzelnen diskutabel sein oder an die Art der Situation und des Ansprechpartners angepasst werden müssen. Ganz frei von sekundärmethodischen Elementen ist er ebenfalls nicht. Man meine aber nicht, er sei lediglich ein Trick, sich aus der Affäre zu ziehen, denn es ist wirklich so, dass das Fehlen von Grundbegriffen egal welchen Erkenntniszweigs zum Ausscheiden des vom Mangel Betroffenen aus dem abstraktiv-dialektischen Diskurs führt. Z.B. in der Empirik: Fehlt jemandem der Begriff der Erfahrung (oder ein Begriff zu einem Teilaspekt der Erfahrung, z.B. |Farbe| bei von Geburt an Blinden, soweit er kein Analogon besitzt, hier z.B. |Geschmack|), kann man ihm diesen nicht auf diskursivem Wege beschaffen, und das Fehlen disqualifiziert hinsichtlich der Teilnahme an empirikbasierten Erörterungen (oder an manchen, je nach Art und Ausmaß des Defekts).

Letztlich aber muss man denjenigen, der im Diskurs den Begriff objektiver Würdigkeit zu haben stur leugnet, wenn schon nicht als außerhalb der Spezies der Menschheit stehend, so doch so behandeln wie einen, der jegliche Realität und jegliche Wahrnehmung abstreitet: Als diskursfeigen Schwindler oder diskursunfähigen Deliranten.

Die Unverzichtbarkeit des Würdigkeitsbegriffs und die Unumgänglichkeit seiner Anerkennung

[§31] Der Würdigkeitsbegriff erweist sich gleich auf mehreren Ebenen als unverzichtbar und seine Anerkennung als objektive Grundlage von Handlungsprinzipien als unumgehbar, und zwar auf der epistemologischen, der diskurspraktischen, der anthropologischen und der psychologischen Ebene.

Würdigkeitsbegriff als ultimativer Erkenntnishorizont

Es ist unmöglich, jemals hinter den Begriff des Würdigen zu treten: Egal um welche Angelegenheit es sich handelt und auf welcher sonstigen Basis man argumentiert (z.B. auf einer logischen oder empirischen), lässt sich jedem auf einer solchen anderen Basis erzielten Ergebnis mit der Frage nach der Würdigkeit der Anspruch auf Endgültigkeit entziehen („Ja, aber ist es denn auch würdig, es so zu halten?“ bzw. „Was rechtfertigt das?“). Selbst wenn jemand Würdigkeitsbetrachtungen zu bloßer Psychologie zu degradieren und auf sie zu reduzieren versucht, um den Lehrsatz geltend machen zu können, dass man auf psychologische Bedürfnisse keine objektive Erkenntnis gründen könne, muss er eben dies und all seine Grundlagen einschließlich des Lehrsatzes rechtfertigen, und zwar unter Einbezug des Würdigkeitsbegriffes, da Rechtfertigung ohne den Würdigkeitsbegriff allenfalls im metaphorischen Sinne eine solche ist. Ausnahmslos jedes Urteil, sei es ein logisches, empirisches oder mathematisches auf der Grundlage einer lückenlosen mathematischen Beweisführung ist eine Entscheidung und setzt somit für ihre Vollständigkeit und die Vollständigkeit ihrer Objektivität stets eine Würdigkeitsbetrachtung voraus. Nicht einmal eben diese Feststellung in diesem Eintrag lässt sich ohne den Würdigkeitsbegriff in Frage stellen. Bzw.: Sie mit Konsequenz zu kritisieren läuft unausweichlich auf ein Würdigkeitsargument als letztes Refugium hinaus (z.B.: „Es darf nicht sein, dass der Satz vom Widerspruch ignoriert wird, denn das ist die Methodik des Wahnsinns, und dem Wahnsinn dürfen wir uns nicht preisgeben!“). Jeder Protest dagegen, jede Empörung darüber und jede Kritik daran führt sich zwangsläufig selbst ad absurdum. Somit bildet der Begriff des Würdigen den Horizont der gesamten menschlichen Erkenntnis.

Der psychologische Aspekt

Der Leugner des objektiven Würdigkeitsbegriffs sei darauf hingewiesen, dass es mit seiner Leugnung aus seiner eigenen Sicht zwischen ihm und einem, der ihm (hypothetisch oder real) schlimmes Unrecht angetan hat, und den er deswegen aus tiefstem Herzen als „Schwein“ oder „Schweinehund“ klassifiziert, in keinerlei relevanter Hinsicht einen objektiven Rangunterschied gibt. Hierdurch stellt er sich selbst und diejenige Person, die er am meisten hasst, auf dieselbe Stufe, und zwar aus der eigenen Sicht (solange er objektiv zu denken bestrebt und es ihm nicht egal ist, ob sein Urteil wirklich korrekt ist oder nicht). Es gibt in diesem Fall - und das akzeptiert er mit seiner Leugnung - keine echte Grundlage, den anderen zu verurteilen. Somit akzeptiert er, dass seine Einstufung des Täters als „Schweinehund“ nur eine Laune ist und der Beliebigkeit und Zufälligkeit entspringt. Welch verheerende Folgen eine solche Haltung für die psychische Gesundheit eines Menschen zu haben geeignet ist, sollte sich jeder selbst ausmalen können. Dies gilt auch für den Fall, dass jemand keine direkt leugnende, sondern eine neutrale Haltung einnehmen möchte, zumal er dadurch ein fundamentales psychologisches Bedürfnis nichtsdestotrotz ignoriert.

Das psychologische Selbstwertgefühl und -bedürfnis hat in diesem Zusammenhang eine zwingende Wirkung. Kein psychisch gesunder, die Vernunft wertschätzender Mensch dürfte es für denkbar halten, geschweige denn ernsthaft behaupten, sein Selbstwert beruhe auf bloßer Konvention (z.B. nur von der Gesellschaft verliehen) und könne im Rahmen einer Änderung der Konvention oder gar von einer beliebigen Person jederzeit weggenommen werden. Von einem gott-/naturgegebenen oder leistungsbasierten Selbstwert mag er im Einklang mit einer gesunden Psyche ausgehen können. Doch generell auf die Idee objektiver Würdigkeit ist er nicht zu verzichten imstande, um nicht sagen oder auch nur vermuten zu müssen, seine Person habe keinen objektiven Wert und werde einen solchen auch nie haben. Gleichwohl stellt sich für ihn in dem Fall, dass er seiner Person einen objektiven Wert zuschreibt, den er auf seine Leistungen zurückführt, die Frage, warum ausgerechnet „Leistungen“ einen Wert der Person ergeben.

Gerade der Leugner objektiver Würdigkeit leugnet diese gewöhnlich wegen seiner persönlichen Neigungen und Interessen (bleibt denn etwas anderes Nachvollziehbares als Grund übrig?), folglich, weil er sich zu schade ist, um etwas Höheres anzuerkennen und sich einer damit einhergehenden objektiven Moral zu fügen. Er glaubt paradoxerweise also durchaus, dass es etwas Würdiges gibt (wenngleich er es mit sich selbst identifiziert), um dessentwillen er zu handeln (z.B. objektive Würdigkeit eben zu leugnen) habe. Doch mit der Behauptung, Würdigkeit sei ein praktisch leerer Ausdruck, widerspricht er sich und stellt sich darüber hinaus selbst in Frage.

Als Ausgangspunkt im ethischen Diskurs und darauf aufbauend lässt sich zu solchen Gesprächspartnern sagen: Ihr seid offensichtlich der Meinung, ihr  selber hättet einen Wert (oder eure Leistungen), wenngleich ihr dies noch nicht beweisen könnt. Was ihr aber unabhängig davon zugeben müsst, ist, dass Würdiges würdig ist, und dass wenn etwas wahrhaft würdig ist, es dann auch verdient hat, dass man etwas dafür tut, usw.

All dies zeigt, dass wir von Natur aus nicht nur einen Begriff objektiver Würdigkeit haben, sondern aufgrund unserer natürlichen Disposition auch nicht in der Lage sind, ihn unter Beibehaltung von Konsequenz und Konsistenz zu leugnen. Wer nicht zugibt, ihn zu haben, ist aus den Gründen seiner eigenen natürlichen Disposition womöglich gezwungen, dies früher oder später zu tun (und sei es auch nur implizit).

Der diskurspraktische Aspekt

Jeder Diskurs, in welchem die Teilnehmer keine gemeinsame Grundlage haben, erübrigt sich hierdurch, es sei denn höchstens, es handelt sich bei ihm um ein bloßes Spiel - in einem solchen einigen sich die Teilnehmer nämlich im Rahmen einer willkürlichen Setzung auf eine gemeinsame Grundlage - oder um eine vorübergehende, durch Natur- oder sonstige Realitätszwänge zustande gekommene Auseinandersetzung - in einer solchen ist die gemeinsame Grundlage nur oberflächlich eine solche (aus Gründen der Not oder Neigung werden die wahren Grundlagen und etwaige eklatante Differenzen darin ausgeblendet) und speist sich nicht aus den Tiefen des Intellekts, sondern aus zufälligen, realitären Gemeinsamkeiten („Wir wollen doch alle aus diesem steckengebliebenen Fahrstuhl wieder raus, oder?“). Die einzige Grundlage aber, die für alle denkbaren Diskurse gültig ist, und nur eine solche hat es verdient, eine wahre Grundlage genannt zu werden, ist die Kenntnis des Begriffs des objektiv Würdigen und die Anerkennung des Würdigen als würdig.

Jemand, der behauptet, er sei nicht fähig, sich objektiv Würdiges zu denken, oder direkt die Möglichkeit objektiver Würdigkeit in Frage stellt - was beides auf dasselbe hinausläuft -, scheidet aus jedem wahrhaft ethischen, oder zumindest diesem unseren und jedem darauf aufbauenden Diskurs aus, wenn nicht gar, soweit die Basis allen deskriptiven Urteilens letztlich immer nur präskriptiv ist, aus generell jedem Diskurs mit Vernunftwesen als Diskussionspartner. D.h. er wäre genausowenig in irgendeinem um ein Thema von höherem Wert kreisenden Diskurs ein angemessener Diskussionspartner wie ein beliebiges Tier.

Der anthropologische Aspekt

Damit wäre er nach der für solche Diskurse (und nicht etwa für physiomedizinische Belange) relevanten, über materiell-humanbiologische Aspekte hinausgehenden Definition, kein Mensch, zumal in diesem Kontext jeglicher relevante Unterschied zu anderen Gegenständen fehlt. In der relevanten Definition ist für den Menschbegriff  u.a. wesentlich, dass er diesen Würdigkeitsbegriff hat. Er dürfte gar in überhaupt keiner kontext-unabhängigen Definition ein Mensch sein, denn eine in maximaler Weise universale Definition legt nicht fest, unter welchen Bedingungen ein Gegenstand mit einem bestimmten Namen bezeichnet zu werden nützlich oder opportun ist, sondern unter welchen er der Bezeichnung würdig ist. Und unmöglich ist jemand der Bezeichnung als Mensch würdig, der sich von seinen vermeintlichen Artgenossen ausgerechnet darin unterscheidet, dass er nichts als würdig anerkennt. Eine mindestens hierauf fußende Definition dürfte eine bessere sein als die berühmte vom zôon logikon, wobei andererseits das griechische Logoslexem so vieldeutig ist, dass sich bei dieser Definition die Inbegriffenheit der Kenntnis des Würdigkeitsbegriffs nicht ausschließen lässt.

Bezeichnet jemand die in Bezug auf die Würdigkeit angeblich Begriffsblinden als „auf einer Stufe mit Kakerlaken stehend“, so können sie sich darum zwar darüber beschweren. Doch beanstanden können sie es nicht. D.h. es käme ihnen nicht zu, das intellektbasiert und mit einem auch nur entfernten Anspruch auf Objektivität zu kritisieren. Denn wie könnten sie beweisen, dass sie dieser Bezeichnung nicht würdig sind (d.h. sie so zu bezeichnen keine Würdigkeit besitzt, sondern Unwürdigkeit), wenn sie nicht wissen, was Würdigkeit ist, ja sogar, dies zu wissen, Voraussetzung dafür ist, sie oder irgendetwas um ihretwillen als würdig oder unwürdig einzustufen? Wie könnten sie beweisen, was sie zumindest ihrer Behauptung nach nicht zu erkennen imstande sind, nämlich dass ihnen ein höherer als der angedeutete Rang zukomme, wenn Rang hier allein ein Rang in der Würdigkeit sein kann?

Gutheit, Würdigkeit und das Fehlen von Zwischenstufen

[§32] In einer aposteriorischen, insbesondere einer autoritativen bzw. instruktiven Ethik mag eine Handlungskategorie den Status von etwas lediglich Empfehlenswertem, das noch keine Pflicht ist, oder des lieber zu Lassenden, das noch kein Unrecht ist, innehaben. In der apriorischen Idealethik aber ist dies ausgeschlossen. Sicherlich spielt Gradualität dort z.B. insofern eine Rolle, als es nach der Idealaethik höhere und niedrigere, gegeneinander abzuwägende Wichtigkeitsgrade und Prioritäten (positiver oder negativer Polarität) gibt, doch es ist nicht ersichtlich, wo dort die Kategorie des bloß Empfehlenswerten Platz haben soll. Auch wenn es in der Ethik, anders als in der Logik, verschiedene Grade der Notwendigkeit gibt, so ist es letztlich so, dass alles nicht unmögliche nicht Notwendige nun mal kontingent zu nennen und neutral ist, während Empfehlenswertes gemeinhin eben nicht als neutral, sondern als positiv betrachtet wird. Was nicht neutral ist, ist ethisch entweder notwendig oder unmöglich, und Notwendiges ist notwendig, und Unmögliches ist unmöglich. Es verhält sich ein wenig wie mit dem Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Temperatur: Subjektiv mögen wir zwischen dem Heißen und dem lediglich Warmen unterscheiden. Auf der physikalischen Ebene außerhalb des Körpers jedoch gibt es kein objektives Kriterium dafür, ab welcher Temperatur etwas heiß statt nur warm wird,  und unterhalb welcher es nur noch warm statt heiß ist, selbst wenn wir die menschliche Körpertemperatur als neutrale Nullgrenze annehmen, nach deren Überschreitung etwas zunächst einmal nur warm wird.

Es ließe sich fragen, wenn in der apriorischen Ethik keine Abstufungen zwischen würdig und indifferent bzw. zwischen unwürdig und indifferent existieren: Was spielt dann der Ausdruck „gut“ für eine Rolle, bzw. welchen Platz hat der Begriff des Guten dann in der Ethik, zumal er doch - wie an früherer Stelle besprochen - dem Anschein nach als eine Abschwächung des Begriffs des Würdigen daherkommt? Und immerhin muss bloß Empfehlenswertes doch zweifellos als gut bewertet werden.

Hierzu ist zu sagen: Der Begriff des Guten enthält bei genauerer Hinsicht durchaus ebenfalls eine gewisse Rigorosität, jedoch auf eingeschränktere Weise als der Begriff des Würdigen. Der Begriff des Guten ist derjenige des Liebenswürdigen, das nicht gehasst werden darf und bewertet Handlungskategorien noch nicht unbedingt/sofort (oder nicht so direkt wie der des Würdigen) als solche, deren reale Entsprechung herbeigeführt werden muss. Aus ihm folgt bezogen auf eine Handlungskategorie lediglich, dass sie wenigstens geliebt werden müsse. Die Richtigkeit dieser Explikation60 erweist sich (wenn man sich von der Multikonzeptionalität der Liebe- und Gutheit-Lexeme nicht verwirren lässt, s.u.) teils daran, dass es normalerweise niemandem möglich ist, zuzugeben, etwas sei wahrhaft gut, ohne es als wahrhaft liebenswürdig anzusehen, und nichts als wahrhaft liebenswürdig anzusehen, ohne es als wahrhaft gut zu bewerten. Wahrhaft und vollumfänglich Gutes darf unmöglich gehasst werden, und umgekehrt gilt, dass etwas, das gehasst werden darf, unmöglich wahrhaft und vollumfänglich gut ist. Vollends erweist sich ihre Richtigkeit dann aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Frage, warum eine Sache, die lieben zu sollen und nicht hassen zu dürfen bereits mit Gewissheit feststeht (!), gut sei, offensichtlich sinnlos und überflüssig ist - im Unterschied z.B. zu der Frage in Bezug auf eine Sache, von der bloß ihr Nutzen oder ihre Vergnüglichkeit feststeht. „In der Tat, ja, diese Sache hat geliebt zu werden und darf nicht gehasst werden, aber warum ist sie gut?“ erweist sich bei Berücksichtigung der so angesetzten Betonung als sinnlose Frage, es sei denn es ist gemeint: „In der Tat, ... aber warum muss sie geliebt und darf nicht gehasst werden?“ - was allerdings nahelegen würde, dass die Bestätigung „In der Tat“ keine Grundlage hatte. Vielleicht noch deutlicher unsinnig ist die Frage: „Ja, diese Sache sollte wirklich unbedingt jeder lieben und darf wirklich niemand hassen, aber ist sie wirklich gut?“ Anders hingegen die Frage: „Ja, die Tat ist sehr angenehm/nützlich, aber ist sie wirklich gut?“ Entsprechend ist der Begriff des Bösen derjenige des Hassenswürdigen, das nicht geliebt werden darf. Der Begriff des Guten an sich bestätigt zunächst (!) weder, noch verneint er, dass die durch ihn ausgezeichnete Handlung getan werden muss, sondern er befasst sich erst gar nicht damit, schweigt sich darüber sozusagen aus und bewertet lediglich sie zu lieben und nicht zu hassen als Pflicht. Es ist dieses hier enthaltene „Schweigen“ bzw. die im Sinne einer Fokussierung vorliegende Einschränkung des Inhalts, was den Begriff schwächer als den des Würdigen erscheinen lässt, zusätzlich zu der Tatsache, dass der Begriff des Guten zwar Würdigkeit zuordnet, jedoch nicht direkt seinem Gegenstand, sondern einer speziellen Haltung zu ihm. (Als ethische Bewertung von Gegenständen allgemein lässt er sich allerdings dennoch insofern als geeignet betrachten, als er wenigstens im zweiten Gedankenschritt auf eine - und sei es bedingte - Würdigkeit seines Gegenstands schließen zu lassen geeignet ist, zumal sich Liebenswürdigkeit stets von der allgemeinen Würdigkeit des zu Liebenden ableitet und mit ihr vollständig korreliert. Ethisch Gutes ist nie unwürdig, und umgekehrt, und ethisch Böses ist nie würdig, und umgekehrt. Insbesondere sind die beiden Begriffe dort austauschbar, wo es um Vergleiche ethisch definierter Ränge geht.) Als weitere Erklärung für die Schwäche ist vielleicht geeignet, dass mit dem Lexem des Guten oft der Begriff von etwas lediglich „Harmlosem“, das einfach nicht gehasst werden darf, d.h. ohne die Einbindung des Liebesbegriffs, verknüpft wird. Dies ist zwar das volle Gegenteil des Bösen im Sinne des Gegenteils von etwas, das gehasst werden muss, und nicht einmal nur die Negation eines solchen Müssens; doch würde dies auch eine emotional relativ neutrale Haltung zum Guten zulassen.

Linguistische Betrachtungen unterstützen die Explikation anhand des Begriffs des Liebenswürdigen: Das Gegenteil des hauptsächlichen arabischen Worts für das ethisch Gute, ħasan, ist neben sayyi° auch qabîħ, was eigentlich „hässlich“ bedeutet. In diesem deutschen Adjektiv wiederum ist offensichtlich das Verb „hassen“ enthalten, dessen Gegenteil bekanntlich „lieben“ ist. Nebenbei gesagt, läuft es auf das Gleiche wie das Bisherige hinaus, im Begriff des Guten den des Lobenswürdigen, das nicht geschmäht werden darf, zu sehen. Die Gleichwertigkeit dieser Explikation liegt in natürlicher Weise nahe und lässt sich durch etymologische Gesichtspunkte untermauern, zumal das englische love und das deutsche „loben“ wortgeschichtlich verwandt sind.61

Jetzt lässt sich ahnen, dass sich die in Eintrag §1 erwähnte merkwürdige Asymmetrie des Gut-Böse-Gegensatzpaars erklären lässt: Insbesondere ist es aus empirischen Gründen leichter denkbar, dass Geliebtes nicht getan wird, als dass Gehasstes getan wird, da die typischen Sachverhalte, welche dem Nichttun von Geliebtem zugrunde liegen (fehlende Gelegenheit, fehlende Kraft, fehlende direkte Betroffenheit etc.) stets auch beim Nichttun von Gehasstem gegeben sein können, zusätzlich aber beim Gehassten der Hass selbst immer als Grund für das Nichttun erscheint. Entsprechend ist es empirisch weniger selbstverständlich, dass Geliebtes tatsächlich immer getan wird, als dass Gehasstes unterlassen wird.

In dieser Perspektive präsentiert sich der Begriff der Gutheit als ein kontextueller und somit kombinativer Begriff,62 und es scheint, als sei die Ansicht G. E. Moores (1873-1958), der Begriff der Gutheit sei elementar und nicht analysierbar, widerlegt. In diesem Lichte ist er nämlich sehr wohl analysierbar, wenn man ihn nicht lediglich als einen Begriff auffasst, der als Kontextualbegriff konstruierbar ist und als mögliche Alternative zu einem entsprechungsgleichen ontischen Begriff existiert, sondern als einen Begriff, der nur als Kontextualbegriff denkbar ist. Demgegenüber ist der Begriff der Würdigkeit durchaus ontischer Natur (d.h. non-kontextuell). Definieren wir ihn mal probehalber; dass er ontisch ist, schließt ja ohnehin nicht aus, dass man zu ihm einen kontextuellen Hilfsbegriff der Würdigkeit vorhält. Ein recht plausibel erscheinender solcher kontextueller Hilfsbegriff ist der Begriff der Achtungswürdigkeit (derweil ist das Würdige in Wirklichkeit mehr als nur achtungswürdig). Sagen wir also zur Probe, dass nachdem das Gute das Liebenswürdige ist, das Würdige das Achtungswürdige sei. Wenn man nun beide kontextuelle Definitionen nebeneinander stellt, stellt man fest, dass sich |Gutes| ganz normal analysieren lässt: Die Definition „liebenswürdig“ greift auf zwei „fremde“ Begriffe zurück - die Begriffe der Liebe, des Würdigen und des Guten sind nicht miteinander identisch und enthalten sich gegenseitig nicht unbedingt in einer „definitionsschädlichen“ Weise.63 Hingegen können wir feststellen, dass wir den Begriff des Würdigen nur unter Zuhilfenahme des Begriffs selbst kontextuell wiedergegeben haben („achtungs-würdig“ oder „was geachtet werden muss“) und bei ausgiebiger Betrachtung auch nichts anderes ohne diese Zuhifenahme möglich ist („was XY verdient“). Der Begriff des Guten lässt sich unter Rückgriff auf die Bezeichnung des Würdigen definieren; versucht man es umgekehrt, nämlich den Begriff des Würdigen aus anderem als sich selbst, z.B. aus dem Begriff des Guten oder aus diesem und einem Weiteren zusammenzusetzen, funktioniert dies nicht, ohne den Begriff des Würdigen zu „beschädigen“. All dies bestätigt, dass 1.) der Begriff des Würdigen und der Begriff des Guten nicht miteinander identisch sind und 2.) der ideale Begriff des Würdigen elementar ist, während der ideale Begriff des Guten kontextuell und somit kombinativ ist.

Lag nun ausgerechnet der scharfsinnige und verhältnismäßig besonnene George Edward Moore, dem selbst seine beiden Freunde Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein mit intellektueller Ehrfurcht begegneten, wirklich falsch? Nicht unbedingt, denn eine aufmerksame Lektüre seines Werks Principia ethica lässt die Ansicht zu, dass der Begriff, den er mit dem Lexem des Guten verknüpft, identisch mit dem Begriff ist, den wir hier mit dem Lexem des Würdigen verknüpfen.64 Somit kann man ihm hier vorerst höchstens eine gewisse sprachliche Ungenauigkeit vorwerfen. Durchaus macht der Begriff der Gutheit, obwohl er kein Elementarbegriff ist, den Eindruck, als sei er ein solcher, so sehr, dass sich ein Denker wie Moore einfach seines Lexems zur Verknüpfung mit dem eigentlichen Elementarbegriff bedient. Dieser Eindruck lässt sich einfach erklären: Wenn der ethische Begriff der Gutheit auch nicht vollkommen einfach ist, so ist er doch relativ einfach strukturiert, denn hauptsächlich ist er aus einem (!) der Begriffe der Liebe und dem Begriff des Würdigen zusammengesetzt. Zudem bildet ja der Begriff der Würdigkeit in ethischen Kontexten sein wichtigstes Element, so dass er von ihm sozusagen die „Aura“ der Elementarität geerbt haben könnte.

Was zu „guter“ Letzt erwähnenswert wäre, ist die Multikonzeptionalität des Gut-Lexems. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit ihm keineswegs nur der ethische Quasi-Elementarbegriff verbunden, sondern auch andere Bedeutungen, die weder mit ihm noch untereinander identisch sind: |Anforderungen erfüllend|, |nützlich|, |sinnlich positiv| (|angenehm|), |stark| bzw. |leistungsfähig|, |zufriedenstellend|, |ausreichend bemessen|65, wie z.B. in „guter Motor“, „gutes Gefühl“, „gutes Essen“, „gutes Benehmen“, „guter Reiter“, „guter Mensch“, „Flasche bitte gut schütteln“. Auch lässt sich fragen, inwiefern das Gute als Gegenteil des Bösen mit dem Guten als Gegenteil des Schlechten vergleichbar ist. Während Böses für seine Bösartigkeit stets in irgendeiner Weise irgendeinen Willen voraussetzt, ist dies beim Schlechten für seine Schlechtigkeit nicht immer der Fall. Die Multikonzeptionalität schlägt sich u.a. darin nieder, dass in anderen Sprachen verschiedene, mit „gut“ übersetzbare Ausdrücke existieren, die nicht immer miteinander austauschbar sind, z.B. im Arabischen: ħasan, jayyid, Tayyib, khayr.66 Es ist dennoch die eine oder andere naheliegende Gemeinsamkeit als ursprünglicher Begriff für all diese Konzepte in Betracht zu ziehen. Doch in der Realität haben sich die anderen Begriffe längst an das Lexem geheftet, so dass eine echte Reduktion im Deutschen wahrscheinlich nicht mehr möglich ist.

Ist unser Begriff des Würdigen jetzt doch nicht das echte und volle Gegenteil des Bösen oder Schlechten, wenn der Würdigkeitsbegriff doch elementar und derjenige der Bösartigkeit kombinativ ist? Hinsichtlich des Intensionalen muss der Verdacht wohl bestätigt werden, was aber nicht weiter tragisch ist, da nicht nur durch die extensionale, äußerst weitgehende Diametralität der beiden Konzepte eine hinreichende Klarstellung des Begriffs der Würdigkeit gegeben ist, sondern auch durch die oben genannte Erfahrung mit der Wirkung von Hass.

Pflicht, Sollen und Würdigkeit: Differenzierungen und Identifizierungen

[§33]  Das Verhältnis der Begriffe der Pflicht, des Sollens und der Würdigkeit untereinander zu untersuchen, dürfte enorm zu den Grundlagen einer korrekten Metaethik beitragen.

Würdigkeit und Gesolltheit

In der Auseinandersetzung mit der Ethik lässt sich eine folgenträchtige Paradoxie feststellen: Einerseits gilt es als weithin akzeptiert, dass Sollen nur aus Sollen, nicht aber aus Sein folgen kann (z.B.: aus der bloßen Tatsache, dass eine Blume in Wanne-Eickel wächst, kann nicht ohne Weiteres folgen, dass ich sie pfleglicher zu behandeln habe als andere Dinge, und so auch weder aus irgendeiner beliebigen Rekombination dieser noch irgendeiner anderen bloßen Tatsache dieser Art), wobei mindestens der sprachliche Aspekt nahelegt, dass Sollen nur Handlungen bzw. Willentlichkeiten zum Objekt haben kann; andererseits landet man beim Durchlaufen von Begründungsketten für Sollen-Aussagen immer wieder bei Entitäten oder Konzepten, die keine Handlungen oder Willentlichkeiten darstellen (z.B.: „... weil Gesundheit etwas Wertvolles ist“; siehe Einträge §11 und §12), oder wenigstens ist es in vielen Beispielen möglich, aus einer bestimmten Sicht auf eine Nicht-Willentlichkeit für die menschliche Intuition zweifelsfrei ein aktionales Erfordernis herzuleiten (Unter der Annahme, dass Wanne-Eickel ein hochwürdiger Ort ist, ergäbe sich beispielsweise durchaus, dass die Blume nicht vollkommen wie Blumen anderer Orte zu behandeln oder wenigstens zu betrachten ist.) Die einzige Voraussetzung für das Zutreffen bzw. die Möglichkeit des Letzteren ist, dass der Entität oder sonstigen Nicht-Willentlichkeit in der (scheinbaren) Seinsaussage eine [Un-]Würdigkeit zugeordnet wird und die [Un-]Würdigkeit von Willentlichkeiten auf dieses Zukommnis der [Un-]Würdigkeit gegründet wird und nicht auf sonstige Prädikationen oder Feststellungen. Damit ist der erste von zwei nötigen Schritten zur Überwindung der berühmten Schranke getan. Der zweite Schritt wird in den Ausführungen des Eintrags §39 vollzogen.

In Anbetracht der genannten Voraussetzung stärkt die Paradoxie kraft ihrer Auflösung die Position, dass der das Imperativcharakteristikum auf der epistemisch-analytischen Ebene vertretende Begriff in seiner Bezugsreichweite gar nicht auf Handlungen und Willentlichkeiten beschränkt ist, sondern (in irgendeiner Weise) auch Sonstigem (wie z.B. Entitäten) zugeordnet werden kann, und die viel beschworene Schranke statt als Sein-Sollen-Schranke besser, weniger missverständlich, als Fakten-Wertungen-Schranke zu bezeichnen wäre, in dem Bewusstsein, dass Wertungen auch Entitäten und sonstige Nicht-Willentlichkeiten zum Gegenstand haben können. Der Begriff der Gesolltheit wäre somit, falls er mit dem der Würdigkeit nur im Kern statt kongruent identisch sein sollte, als bloße Subkategorie zum Würdigkeitsbegriff aufzufassen (jede direkte Gesolltheit (V) wäre Würdigkeit  (V), wenn auch nicht jede Würdigkeit (V) direkte Gesolltheit (V)). Dies würde zur Elementarität des Würdigkeitsbegriffs passen, da ein Begriff umso elementarer ist, je allgemeiner er ist.  Ebenfalls in Betracht gezogen werden könnte eine totale Identität, so dass die unterschiedliche Benennung ähnlich wenig etwas mit einer Unterschiedlichkeit der Begriffe zu tun hätte wie die Unterschiedlichkeit der Rede von „Trächtigkeit“ bei Tieren und „Schwangerschaft“ bei Menschen, oder vom „Essen“ und „Fressen“, oder vom „Sterben“ und „Verenden“. Jedenfalls kann nur so ein Imperativ oder normativer Satz stellvertretend für den Wert einer Nicht-Willentlichkeit stehen.

Diese Identifizierung der Begriffe der Würdigkeit und der ethischen Gesolltheit, sei sie nun teil- oder vollbegrifflich, dürfte für unsere Zwecke zumeist hinreichend sein. Im Diskurs wird ohnehin kein vernünftiger Dialogpartner darauf beharren, die „Gesolltheit“ einer Handlung aufgezeigt zu bekommen, deren höhere Würdigkeit gegenüber jeder alternativen Option (einschließlich derjenigen der Untätigkeit) bewiesen ist, zumal mit  der dezidierten Würdigkeit einer Handlung die Unwürdigkeit ihrer Unterlassung im Raum steht. Und dass man eine Handlung, deren Unterlassung unwürdig ist, tun soll, kann niemand vernünftigerweise bezweifeln. Somit liegt als hinreichendes Ziel ethischer Erörterungen nahe, hauptsächlich unaufgewogene Würdigkeiten zu sondieren, und nichts Anderes.

Damit erweist es sich auch als obsolet, den Würdigkeitsbegriff im Imperativkonzept als für dieses konstitutionellen Faktor nachzuweisen. Dies ist ohnehin ein für sich alleine genommen unverlässliches Unterfangen und der Versuch der Rückfahrt auf einer Einbahnstraße: Zwar stimmt es, dass

Jedoch ist diese Wichtigkeit nicht eindeutig genug, um begrifflich immer mit Würdigkeit identifiziert werden zu können,68 und Imperativsätze sind zu multifunktional, um ohne Weiteres geradewegs zum Begriff der Würdigkeit führen zu können. Gleichwohl kann ihr Adressat durchaus Würdigkeitszuordnungen (S) hinter ihnen sehen oder in ihm diese von ihnen veranlasst werden, was allerdings von individuellen Bedingungen abhängig ist. Insofern ist das Konzept immerhin eingeschränkt als Fundort des Würdigkeitsbegriffs heranziehbar. Auf dieses alleine angewiesen sind wir jedoch ohnehin nicht, da sich mehrere weitere Gegenstandsbereiche als Fundorte identifizieren lassen. Diese werden an späterer Stelle zusammengetragen.

Wer dennoch für sich persönlich den Wichtigkeitsbegriff in an ihn adressierten Imperativsätzen kraft des Imperativcharakteristikums (oder als dieses) transportiert sieht und das deutliche Gefühl hat, dass dieser oft genug frei von mit Neigungen und Interessen geteilten Bezügen und somit mit dem Würdigkeitsbegriff identifizierbar ist, mag sich in diesem Gefühl zudem angesichts eines Teils der folgenden Punkte bestärkt sehen, deren anderer Teil eine weitgehende analytische Äquivalenz, wenn nicht gar Identität von Gesolltheit und Würdigkeit nahelegt:

Falls das Imperativcharakteristikum nichts anderes als der Begriff der objektiven Wichtigkeit ist oder diesen zumindest grundsätzlich mit sich führt, würde es passen, dass wohl jeder die Begriffe der Würdigkeit und der objektiven Wichtigkeit auf Identität oder zumindest Austauschbarkeit überprüfen kann: Er werde sich bewusst, dass er es ohne Weiteres jederzeit vorzöge, dass eine von ihm hochgeschätzte Person beliebigen Handlungen, die einen Bezug auf ihn haben (z.B. Aufmerksamkeit, Kommunikation), eine höhere Wichtigkeit beimisst als Handlungen ohne Bezug auf ihn, und es wäre für ihn untrennbar damit verbunden, dass sie im Konfliktfall die auf ihn unbezogene zugunsten der auf ihn bezogenen Handlung zurückstellt; hiervon Abweichendes würde er nicht gerne erfahren wollen. So weit ist dies noch nichts Ungewöhnliches, denn wir haben es bis hierhin nur mit Handlungspräferenzen zu tun, und die Anwendung des Wichtigkeitsbegriffs auf zwei Gegenstände, die beide Handlungen sind, erscheint normal. Sodann würde er aber, wenn er es recht bedenkt, noch weniger gerne erfahren wollen, dass ihr die (wenngleich auf ihn bezogene) Handlung wichtiger ist als er selbst als Person (die ja keine Handlung ist, aber im Kern auch kein materieller und somit kein direkter Gegenstand sinnlicher Wertschätzung), ohne dass er während dieses die Hineinversetzung in die andere Person einschließenden Denkvorgangs einen anderen Wichtigkeitsbegriff hätte als den vorigen. Er würde sich als im Urteil der anderen Person als mehr oder weniger erniedrigt sehen. Dies schlägt sich in einer (und sei es auch nur subtilen) Enttäuschung nieder, welche eine deutlich andere, für die Konfrontation mit willensfähigen Vernunftwesen spezifische Qualität hat, als wenn es sich bei dem anderen Akteur z.B. nur um ein geliebtes Haustier handelte, ja sogar, als wenn er ein Mensch wäre, der das Objekt der eigenen sinnlichen Verliebtheit wäre und man bei ihm lediglich davon ausgehen müsste, dass er auf der sinnlichen Ebene schlicht nicht die gleichen Gefühle hegt. Die irritierte Person würde klar bejahen, ob es die Zuordnung eines gewissen Maßes an Würdigkeit sei, die sie vermisse.

Nach all dem sollte es also nicht verwundern, dass die Identifikation der Imperativqualität bzw. der Gesolltheit mit dem Begriff der Würdigkeit (wenn auch gemeinhin in das Gut-Lexem gehüllt) eine ausgesprochene Grundtendenz historischer Schwergewichte der metaethischen Moralphilosophie war.71

Doch auch unabhängig davon: Im menschlichen Denken ist jeder Akt als Entität behandelbar, was sich in der Sprache deutlich niederschlägt (über Infinitivnominalisierungen hinausgehende, individualisierende Substantivierung von Verben und Herstellung von Abzählbarkeit, wie in: „zwei schnelle Sprünge“, „kraftvolle Schläge“, „ein anmutiges Gleiten“ usw.). Hingegen kann man jedoch nicht in umgekehrter Weise jede Entität als Akt behandeln; somit lässt sich wenigstens die Würdigkeit, die man Entitäten zuordnet, grundsätzlich Akten zuordnen („würdige Sprünge“, „würdiges Gleiten“ usw.). Selbst unter der Annahme, ihr Begriff sei nicht mit dem Imperativcharakteristikum oder dem der Gesolltheit identisch, lässt sich wie zuvor auch in diesem Lichte der ethische Diskurs darauf beschränken, herauszufinden, was mit der Entitäten zuschreibbaren Würdigkeit ausgezeichnet zu werden verdient, und handele es sich bei ihm auch um einen Akt. Dies dürfte völlig ausreichen, um die nötigen Schlüsse und „Handlungsdirektiven“ (die nicht mehr als Auszeichnungen (S) bestimmter Handlungskategorien als würdig zu sein brauchen) daraus zu folgern, denn letztlich sollten sich Teilnehmer ethischer Diskurse nicht irgendetwas gegenseitig gebieterisch befehlen wollen, sondern sich einfach darauf beschränken auszuloten, inwieweit welchen Willentlichkeiten Würdigkeit oder Unwürdigkeit zukommt.

Der Pflichtbegriff

Im Verlauf des Eintrags §13 dürfte trotz allem klar geworden sein, dass zwischen den Begriffen des Pflichtseins und der Würdigkeit zu differenzieren ist. Gehen wir daher nun die Analyse des Pflichtbegriffs an. Zur Bestimmung seines genus proximum ist feststellbar, dass eine Pflicht stets die Kategorie einer Handlung (eine potentielle Willentlichkeit) ist; es ist evident, dass etwas, das keine Handlung ist, keine Pflicht sein kann, und zwar nicht, weil es nur nicht die Bedingungen der Anwendbarkeit des Begriffs der Pflicht erfüllte, sondern nicht einmal die Bedingungen der Bezeichnung von irgendetwas als Pflicht. Des weiteren kann aus demselben Grund etwas, was in keinerlei Hinsicht und keinerlei Sinn getan werden muss, keine Pflicht sein. Damit hätten wir zwei derjenigen Komponenten, aus denen der Pflichtbegriff zusammengesetzt ist, schon einmal beisammen, nämlich |Handlungskategorie| und |Notwendigkeit|. Offensichtlich fehlt noch eine dritte, wesentliche Komponente, denn ohne eine nähere Spezifikation der Notwendigkeit lässt sich der Pflichtbegriff nicht von Begriffen abgrenzen, die offenkundig nichts direkt mit ihm zu tun haben, wie beispielsweise dem der pathologischen Zwangs- oder dem der schicksalhaft bestimmten Handlung. Diejenige uns bekannte Notwendigkeit, deren Begriff den der Pflicht an dieser Stelle am wenigsten gefährden würde, ist die intellektspezifische Notwendigkeit, welche letztlich die Eigenschaft von etwas ist, dessen Negation seinen Widerspruch zu sich selbst oder zu etwas gültigem Anderem zur Folge hat, oder die Negation dieses anderen. Nun ist das einzige Wesentliche, das sonst noch für jede wahre Pflicht spezifisch ist, und zu dem eine Handlung im Widerspruch stehen kann, die Würdigkeit von irgendwem oder irgendetwas; in der Tat ist einzusehen, dass, wenn es überhaupt nichts auch nur im Geringsten Würdiges gäbe, weder im Raum der Realität noch im Raum der Denkbarkeiten, also wenn alles Materielle und Immaterielle gleichrangig und somit gleichgültig und ranglos wäre, bzw. nichts und niemand irgendetwas verdient hätte, es auch keine Pflicht gäbe. Es wäre absurd, über eine Handlung zu sagen, sie sei eine wahre Pflicht, und zugleich, weder die Handlung selbst noch irgendetwas Anderes (auch kein Prinzip oder Konzept) oder irgendwer sei ihrer in irgendeiner Weise würdig. Obendrein lässt sich gedankenexperimentell nachvollziehen: Ohne den Begriff des Würdigen kommt der Pflichtbegriff erst gar nicht zustande. Folglich ist eine Pflicht grundsätzlich die Kategorie einer Handlung, deren Unterlassung im Widerspruch zur Würdigkeit von irgendetwas oder irgendwem steht. Zwar ist diese Definition vielleicht noch etwas grob, sie umreißt aber das Wesentliche des Pflichtbegriffs in hinreichender Weise. Freilich ließe sich noch fragen, wo denn der Notwendigkeitsbegriff geblieben sei, zumal das besagte Widerspruchsverhältnis die Notwendigkeit zu begründen geeignet ist, aber Notwendigkeit gleich welcher Art direktbegrifflich doch das eine und Widerspruchsverhältnisse das andere sein dürften. Anscheinend aber nimmt der intellektuelle Begriff der Notwendigkeit lediglich einen (idealen) Intellektträger an, der so eingestellt ist, dass er sich von gewissen Widerspruchsverhältnissen leiten und sie in ihm eine Nötigung induzieren lässt, die ihn zu Widersprüche meidenden Anerkennungen veranlasst. Der naturale Charakter dieser Nötigung beeinträchtigt den Pflichtbegriff nicht weiter, denn dass sie in letzter Konsequenz weniger den intellektualen Sachverhalt bedingt als vielmehr durch ihn bedingt ist und nur eine übertragende Rolle spielt, ist inbegriffen.

Wer übrigens im Pflichtbegriff denjenigen des Willens vermisst, dem sei bestätigt, dass  ohne die Existenz eines willensfähigen Wesens in der Tat niemand eine Pflicht hätte. Zugleich sei er daran erinnert (siehe §21), dass ethisch relevantes Wollen in seiner Essenz lediglich eine Beimessung von Würdigkeit ist, die naturgesetzlich bedingt sich in der Praxis zu manifestieren geeignet ist. Und da eine solche Beimessung das anstelle des ihr entwachsenden bloßen Akts in der Ethik eigentlich Bewertete ist (siehe §12), finden wir im Pflichtbegriff den Willen am ehesten in seiner Handlungskomponente wieder, wo der Begriff eine leichte Unschärfe aufweist, die sich allerdings nicht allzu problematisch auswirken dürfte. In ihrem genus proximum ist eine Pflicht näher betrachtet nämlich entweder die Kategorie einer aktionalen Haltung, die aus einer Wertbeimessung erwächst, oder eine Beimessung von Wert zur Kategorie einer aktionalen Haltung. Andererseits: das Argument, dass ohne die Existenz eines willensfähigen Wesens in der Tat niemand eine Pflicht hätte, beweist nicht unbedingt, dass der Willensbegriff als Ganzes tatsächlich im Pflichtbegriff wiederzufinden ist. Es könnte nämlich auf einer rein externen (begriffstranszendenten) Implikation72 beruhen, da der Pflichtbegriff offenbar von einer Vernunft ausgeht, die Vergleiche hinsichtlich der Würdigkeit anstellen kann, folglich einen Begriff der Würdigkeit hat, und empirikbasiert davon auszugehen ist, dass wer diesen hat, sie auch beimessen kann, sprich: einen Willen hat.

Die Hauptkomponenten des Pflichtbegriffs sind in der Übersicht:

Eine Rekombination dieser Komponenten weist ein alternativer Pflichtbegriff auf, der anscheinend nicht weniger natürlich ist als der eben gefundene. Demnach ist eine Pflicht die Kategorie einer Handlung, die ein Individuum, das Unwürdigkeiten grundsätzlich zu vermeiden bestrebt ist, zu tun genötigt ist. Analytisch ergibt sich dieser Pflichtbegriff, wenn man seine interne Implikation der Notwendigkeit nicht als auf typisch intellektuale Notwendigkeit festgelegt betrachtet. Alsdann hängt ihm ein Schweif externer Implikationen an, nämlich dass a) die Unterlassung der Handlung unwürdig ist, dass b) das Individuum diese Unwürdigkeit zu erkennen fähig ist, und dass c) die Nötigung von einer solchen Erkenntnis im Zusammenspiel mit der Einstellung ursächlich ausginge.

Und welche Rolle spielt Autorität? Hängt der Begriff der Pflicht nicht auch oder gar anstelle von |Würdigkeit| von ihrem Begriff ab, zumal von Pflicht sehr häufig im Kontext von Autorität die Rede ist? Müsste vielleicht der Begriff der Würdigkeit (zumindest in der ersten der beiden Pflichtdefinitionen) mit dem der Autorität ersetzt werden, so dass Pflicht eine Handlung wäre, deren Unterlassung im Widerspruch zur Autorität von irgendetwas oder irgendwem steht? Nun, Autorität, die in informationelle und instruktionelle, sowie letztere in faktische (deskriptive) und deontische Autorität einzuteilen ist, ist weitestgehend ein Spiegelattribut73. Als solches sagt es weniger etwas über ihren Träger, als mehr über das Verhältnis von Anderem zu ihm aus (die Bedeutung des lat. Ursprungs ihrer üblichen Bezeichnung, auctoritas, „Ansehen“, lässt dies bereits ahnen). Informationelle Autorität hat jemand dadurch, dass man sich in auffallender Häufigkeit auf ihn beruft, um einer Meinung mehr Gewicht zu verleihen, weil viele ihm ein großes Maß an Kompetenz zuschreiben. Dass diese Art von Autorität im vorliegenden Kontext keine Rolle spielt, versteht sich gleichsam von selbst. Faktische instruktionelle Autorität hat jemand dadurch, dass ihm tatsächlich gehorcht wird, sei es nun im Zuge eines charismatischen Effekts oder aus Furcht vor Repressalien seinerseits oder aus einem anderen Grund. Aus dem bloßen Faktum, dass jemandem gehorcht wird, lässt sich keine Pflicht ableiten oder ein ethisch besonders relevanter Pflichtbegriff konstruieren, bzw. in diesem Fall wäre er der Begriff von einer fiktiven Pflicht. Deontische instruktionelle Autorität besitzt derweil jemand dadurch, dass jemand Anderes die Pflicht hat, ihm zu gehorchen, ob er dieser Pflicht nun nachkommt oder nicht. Diesen Autoritätsbegriff zur Definition von Pflicht herzunehmen, führt geradewegs in eine zirkuläre Definition, womit auch er sich für diesen Zweck als unbrauchbar erweist.

Allerdings ist mit dem Namen des Pflichtkonzepts in der Sprache eine zunächst merkwürdig anmutende Verwendungsweise verbunden, die einen Augenblick lang am Begriff der Handlungskategorie als genus proximum des Konzepts zweifeln lassen könnte: Man sagt nämlich, jemand habe eine Pflicht. Wie aber kann jemand eine Handlung (oder ihre Kategorie) haben, bzw. wer meint schon derartiges, wenn er vom Haben einer Pflicht redet? Ist das Pflichtlexem in dieser Verwendungsweise dann vielleicht doch mit einem ganz anderen Begriff verknüpft, der gar nicht am Begriff der Handlung ansetzt, sondern diesen höchstens an irgendeiner sekundären Stelle transportiert? Doch stellt sich heraus, dass die Suche nach einem weiteren oder alternativen Begriff nicht nötig ist - die Redeweise vom Pflichthaben redet ursprünglich wirklich von einem (wenn auch uneigentlichen und rein imaginären) Haben der Kategorie einer aktionalen Haltung. Am direktesten zeigt es sich darin, dass Pflichten und Pflichtähnliches im Deutschen und stärker noch im Englischen ausgedrückt werden können, indem das Habenverb direkt auf den Infinitiv des Verbs der betreffenden Handlung bezogen wird („Du hast die Tassen zu reinigen.“, „You have to clean the cups.“). Die beste Erklärung für dieses sprachliche Phänomen ist, dass mit dieser psychologisch wirksamen Redeweise das Gefühl gegeben werden will, dass die noch ungetane Handlung wie der plagende74 Geist eines noch nicht entstandenen Wesens (sozusagen die Umkehrung des Gespensts eines Verstorbenen) dem verantwortlichen Individuum anhaftet, bis es sich von ihr befreit, indem es sie in eine getane Handlung umwandelt; bzw. dass es die noch ungetane Handlung hat und überallhin mit sich trägt, bis es sie tut, wie eine werdende Mutter ein noch ungeborenes Kind in ihrem Inneren hat und unter allen Beschwerlichkeiten überallhin mit sich trägt, bis es dieses gebiert; bzw. dass sich das Individuum in einer Situation wie derjenigen eines Lasttiers befindet, das schweres Gepäck auf seinem Rücken hat, welches es nicht aus eigener Kraft abzuschütteln vermag, sondern nur an seinen Bestimmungsort führen kann, wo es ihm gewiss von seinem Rücken genommen wird.75 Das letztere Bild ist denn wohl das passendste, sagt man doch im Arabischen für „Dies ist deine Pflicht“: wajaba alayka hâđa (wrtl.: „Dies ist auf dir gefallen“, „Dies liegt auf dir“), und im Deutschen: „Dir obliegt dies[e Handlung]“ („ob“ = „auf“ => „Auf dir liegt diese Handlung“), und spricht man doch im Arabischen vom °adâ° („an seinen Ort Bringen“, „Aushändigung“) eines wâjib („Pflicht“, „Aufgabe“, wrtl. „Obliegendes“, „(auf jd.) Gefallenes/Fallendes“) und im Deutschen von der Ausführung einer Pflicht oder Aufgabe (als Kausativ von „fahren“ ist „führen“ etymologisch mit den Bedeutungen des Tragens und Hinüberbringens verknüpft76). Hierbei sei auch die Vorsilbe „Aus-“ beachtet, durch welche die Vollständigkeit der Umsetzung verlangt wird (vgl. „ausreizen“, „ausmalen“ usw.), wie dies auch im Wort „Erfüllung“ (der Pflicht) zum Ausdruck kommt. Dass das Haben einer Pflicht das Haben einer noch ungetanen Handlung ist, wie ein Tragender eine Last auf sich hat, erfährt zu guter Letzt seine Unterstreichung, wenn man einen Blick auf die Synonyme des Pflichtlexems wirft, die schon etymologisch bedingt eine Lastassoziation mit sich führen: sie werden syntaktisch auf genau dieselbe Weise und mit dem gleichen Wirkungszweck verwendet wie in dem Satz: „Du hast die Pflicht, X zu tun.“ Ohne eine Änderung der Satzstruktur sind hier anstelle von „die Pflicht“ synonym einsetzbar: „die Aufgabe“, „den Auftrag“, „die Bürde“ und „die Schuld“. Die bis in die wortgeschichtlichen Vorformen zurückreichende Ähnlichkeit von „Schuld“ und „Schulter“ trägt übrigens das Potential einer weiteren Bestätigung. Die ungetane Handlung wird in der diskutierten Redweise also als etwas den Pflichthabenden, solange er sie nicht vollständig tut, Belastendes und ihn darum - womit die zweite Pflichtdefinition wieder präsent ist - zum Tun der Handlung Nötigendes (gemäß der dritten externen Implikation infolge seiner Erkenntnis der Unterlassung der Handlung als unwürdig) dargestellt. In dieser Darstellung bleibt der Begriff der Kategorie einer Handlung als Ansatzpunkt des Pflichtbegriffs erhalten.77

Was die seit der Auffindung des zweiten Pflichtbegriffes im Raum stehende Frage betrifft, welcher der beiden Pflichtbegriffe denn nun vorzuziehen sei, so kann man die beiden angesichts der Tatsache, dass ihnen bei aller teilweisen Unterschiedlichkeit ihrer Intension doch ein und dieselbe Extension gemeinsam ist, allgemein als gleichwertig betrachten, so dass die Präferabilität des einen gegenüber dem anderen vom jeweiligen Zweck und Kontext abhängig gemacht werden kann. Allerdings besitzt der Pflichtbegriff eine besondere Eigenschaft, welche ermöglicht, beide seiner Varianten durch einen einfacheren, synthetischen Begriff zu ersetzen, der in der Regel einfacher zu handhaben sein dürfte. Diese Eigenschaft besteht darin, dass sich ein Teil seiner internen Implikationen durch externe ersetzen lässt, ohne dass sich seine Extension ändert. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, wie z.B. am Begriff der Quadratzahl zu sehen ist: |Parität| ist eine seiner lediglich externen Implikationen, zumal seine Intension durch das genus proximum des allgemeinen Zahlenbegriffs und der differentia specifica der Ganzzahligkeit der Wurzel bereits vollständig ist und bei seiner Konstruktion die Geradzahligkeit mit Sicherheit nicht primär im Sinn gewesen sein wird. Es wird nicht gelingen, ein Element seines Begriffs mit dem der Parität zu ersetzen, ohne dass sich seine Extension erheblich verändert. Anders hingegen verhält es sich mit dem Pflichtbegriff: Ersetzt man in ihm außer der Kategorie der Handlung alles durch die externe Implikation der Unwürdigkeit ihrer Unterlassung, ändert sich an seiner Extension nichts. In der Tat ist unbestreitbar jede Pflicht eine Handlung, deren Unterlassung unwürdig ist, und umgekehrt ist eine jede solche eine Pflicht. Dafür ist der Begriff auf diese Weise nun deutlich einfacher strukturiert, ja er lässt sich (bei Zugrundelegung des polar statt nur skalar78 charakterisierten Begriffs der Würdigkeit) noch einfacher darstellen, nämlich einfach als die Kategorie einer Handlung, die zu tun würdig ist (d.h. einer Handlung, deren Vollzug etwas ist, dem Würdigkeit zukommt). Alle ersetzten und sonstigen Implikationen gehen derweil nicht verloren, sondern lassen sich nach der Bildung des Begriffs in seinem externen Schweif wiederfinden. Es ist dieser synthetische Pflichtbegriff, welchem im vorliegenden Kontemplarium weitestgehend der Vorzug gegeben wird. Hierbei ist allerdings die Feinheit zu beachten, dass es in ihm nicht um die Würdigkeit der Handlung als Kategorie geht, sondern um die Würdigkeit ihres Vollzugs. Denn erstens ist das, was der Unterlassung einer Handlung gegenübersteht, nicht die Handlung selbst, sondern eben ihr Vollzug (ihre Durchführung), und zweitens würde der Begriff sonst kaum auflösbare Paradoxien verursachen (mehr dazu in Eintrag §46).

Jedenfalls ist der Begriff des Würdigen allgemeiner als derjenige der Pflicht und kann außer Kategorien von Handlungen bzw. deren Vollzug auch Entitäten, Essenzen und Idealitäten repräsentieren, während der Begriff der Pflicht ausschließlich Aktionalitäten repräsentiert. Eine wahre Pflicht ist wiederum immer Würdiges, während Würdiges auch etwas ganz anderes Hochwürdiges außer einer Handlungskategorie sein kann. Sogar in seiner einfachsten, synthetischen Variante ist der Pflichtbegriff offensichtlich komplex statt elementar.

Wenigstens extensional ist unser Begriff der Pflicht mit dem des Gesollten, und der des Pflichtseins mit dem des Seinsollens vollkommen identisch. Dabei ist zwischen apriorischem und aposteriorischem Sollen zu unterscheiden; diese sind sowohl in intensionaler als auch in extensionaler Hinsicht verschieden. Aposteriorisches Sollen ist entweder hypothetisch, d.h. bezieht sich auf das, was jemand angesichts empirischer Erkenntnisse an Schritten zu unternehmen hätte, wenn er ein beliebiges Ziel erreichen wollte, sein Ziel wird sozusagen als eine Würdigkeit (S) hypothetisch angenommen. Oder es ist autoritativ, d.h. autoritativ Gesolltes ist nichts anderes als etwas vonseiten einer real existierenden Entität konkret Gewolltes oder Verlangtes, unabhängig davon, ob der Entität objektiv eine legitime Autorität zukommt oder nicht. Dieses Sollen ist einfach ein instruktives, kommunikativ mitgeteiltes Wollen, bzw. das entsprechende Spiegelattribut. Demgegenüber hat apriorisches mit aposteriorischem Sollen und somit mit konkretem Wollen wohl allenfalls (oder immerhin) die kontextuelle Gemeinsamkeit, dass der Sollende sich zu dem jeweiligen Sollen psychologisch analog zu seinem Verhältnis zum anderen Sollen verhält;79 mit dieser Gemeinsamkeit lässt sich die vorliegende Homonymität erklären. Für eine Erklärung der Homonymität ist ebenfalls zu überlegen, ob die Gemeinsamkeit nicht auch darin besteht, dass apriorisch Gesolltes im Idealfall von jedem korrekt urteilenden Subjekt unausweichlich gewollt würde, bzw. dass apriorisches Sollen nichts als ein theoretisches Wollen ist.

Die beiden Begriffe des apriorisch-analytischen und des aposteriorisch-autoritativen bzw. -instruktiven Sollens sind so verschieden, dass keines der beiden gemessen am jeweils anderen ein wahres Sollen ist. Auch terminologisch kann sich dies bemerkbar machen, z.B. steht dem autoritativen Terminus des „Erlaubten“ oder „Legalen“ der apriorisch-ethische Terminus des „Legitimen“ gegenüber (wenn auch leider weder jeder Laie noch jeder Jurist sich an diese Differenzierung hält):

Apriorisch-analytisch:

Aposteriorisch-instruktiv bzw. -autoritativ:

Nichtsdestotrotz ist nicht ausgeschlossen, dass einer Entität objektiv-ethisch erkennbar Autorität zukommt - in diesem Fall wird ihr Gewolltes in einem gewissen Sinn zu (auch) apriorisch, wenn auch sekundär-apriorisch80 Gesolltem.

Guten Morgen, Richie

[§34] (Die Sonne scheint ins Zimmer. Richie richtet sich langsam etwas auf.)

Weibliche Stimme: Guten Morgen, Richie.

Richie: Du schon wieder, was willst du?

Stimme: Wie hast du geschlafen?

Richie: Warst du das mit diesen verfluchten Träumen diese Nacht? Warum tust du das?

Stimme: Als Sprecherin deines ethischen Erkenntnisvermögens spreche ich verschiedene Sprachen. Die jeweilige Sprache hat hauptsächlich angemessen zu sein, darüber hinaus erfüllt sie verschiedene Funktionen. In deinen Schriften und sonstigen öffentlichen Beiträgen, ganz zu schweigen von deinen inneren Haltungen, hast du fundamentale ethische Prinzipien verletzt, sowie auch unnötig die Gefühle Abertausender Menschen. Was davon zu halten ist, hast du in den letzten Träumen gesehen.

Richie: Gefühle verletzt, Unsinn. Ich kläre die Menschheit auf und bringe ihr Nutzen. Zählt das gar nichts mehr?

Stimme: Nun, die Gesamtmenge der Menschheit enthält deine eigene Person als Element. Angesichts dessen...

(Richie läuft aufbrausend in die Küche zum Kühlschrank.)

Richie: Lass mich in Ruhe, du sülzt mich ja eh nur wieder voll!

Stimme: Soviel also zu deiner Wertschätzung von Aufklärung.

Richie: Ja ja...(plötzlich winselnd:) Oh nein, verdammt!

(Richie knallt die Kühlschranktür zu, stürmt in Richtung Wohnzimmer.)

Stimme: Es scheint, als ob du mich heute doch nicht wieder so schnell loswirst. Deine Weinflasche ist ja leer.

Richie (sich die Ohren zuhaltend): Halt den Mund, halt den Mund! LALALALALAAA...

Stimme: Richie, ich bin eine innere Stimme, wie du zu vergessen scheinst.

(Richie lässt sich auf das Sofa fallen)

Richie (seufzend): Was willst du von mir, du elendes [PIEPTON]stück?

Stimme: Willen und Entscheidungen besitze ich nicht wirklich. Es sind deine Entscheidungen, die ich lediglich kommentiere.

Richie: Was bitteschön ist falsch an meinen Entscheidungen?!

Stimme: Nun, es ist beispielsweise nicht allzu häufig eine richtige Entscheidung, zu versuchen, etwas wie mich im Rausch zu ertränken.

Richie: Wer sagt das? Wer bestimmt, was richtig und was falsch ist? Was gut und böse? Das ist doch nur Psychologie, evolutionär und kulturell etablierte Vorstellungen, sonst nichts! Kinder des Zufalls!

Stimme: Mach dir keine Mühe, Richie. Diese Erklärungsversuche sind nicht von Belang.

Richie: Ich bin zu nichts verpflichtet, lass mich in Ruhe.

Stimme: Das ist nicht ganz korrekt.

Richie: Wie, „nicht ganz korrekt“? Was meinst du damit?

Stimme: Du wirst zustimmen müssen, dass du immerhin die Pflicht hast, das Konzept von Recht und Pflicht innerlich wertzuschätzen.

Richie: Gar nichts muss ich, wo soll denn so eine Pflicht herkommen? Wer erlegt sie mir auf?

Stimme: Was ich mit Pflicht meine, ist nicht unbedingt ein Befehl, den eine Person ausspricht.

Richie: Was meinst du sonst?

Stimme: Wenn die Kategorie einer Handlung soviel Würdigkeit besitzt, dass du dich, wenn du ihr nicht die angemessene Würdigung zollst, als unwürdige Person erweist, dann genügt das, um sie eine Pflicht zu nennen.

Richie: Unwürdig? Wer bitte soll mich denn als unwürdig abstempeln, und mit welchem Recht?

Stimme: Abgesehen davon, dass deine Frage nach dem Recht dir deinen eigenen innerlichen Widerspruch vor Augen führt: Es braucht dich dazu niemand nachträglich offiziell als unwürdig abzustempeln, Richie. Deine Entscheidung, dein Wille, wäre schon an sich unwürdig. Da dieser Wille von deinem Selbst nicht trennbar ist, hättest du, dein Selbst, an Würdigkeit ab- und an Unwürdigkeit zugenommen, und zwar in dem Maße, wie deine Entscheidung unwürdig war.

Richie: Meine Willensentscheidung wäre unwürdig? Was machte sie unwürdig?

Stimme: Unrecht tun ist etwas Unwürdiges, und wer bewusst und absichtlich Unrecht tut, dessen Tat entspringt einem unwürdigen Willen.

Richie: Woher kommt diese Verknüpfung? Die ist doch völlig willkürlich.

Stimme: Keineswegs, denn Unrecht tun ist ohne Willen nicht denkbar. Der Kronleuchter über dir mag sich von der Decke lösen und dich erschlagen, doch aufgrund seines fehlenden Willens wäre dem Kronleuchter selbst dann kein Unrecht nachweisbar, wenn du ein Engel wärst. Da Unrechttun also ohne Willen nicht denkbar ist, muss es der Willen sein, durch dessen Involviertheit das Unrechttun zu jener Unwürdigkeit des Unrechttuns wird. Das Unwürdige am Unrechttun ist somit der Anteil, den der Willen einnimmt.

Richie: Na und?

Stimme: Wenn die Definition von Pflicht die der hochwürdigen Handlungskategorie ist, und du dich der Würdigung des Konzeptes der Pflicht rundweg enthältst, bedeutet das, dass für dich Würdigkeit allgemein keinen Wert hat.

Richie: Wieso?

Stimme: Weil zwar das, dem du kategorisch und in jeder Hinsicht seine Würdigung vorenthieltest, zunächst scheinbar nur Handlungen und ihre Kategorien sind, du aber, da sich ethische Würdigkeit ohnehin nur in willentlichen Handlungen oder zumindest dem dazugehörigen Willen niederschlagen kann, dem gesamten Konzept der Würdigkeit Unrecht getan hättest, was wiederum in deine eigene Unwürdigkeit mündet.

(Richie überlegt eine Weile, schwitzt.)

Richie (laut): Willen, Willen, Willen! Dann hab’ ich halt keinen Willen. – Hahhahha, genau wie du, HAAAAHHAHAHAHAAA, das ist es! Ich habe überhaupt keinen Willen, HIIIHIHIHIHHHIEEE...!

Stimme: Richie...

Richie: Was denn?! Ich bin Naturwissenschaftler, es gibt keine empirischen Beweise für so etwas wie einen Willen, das sind alles nur biochemische Vorgänge, deren Nebeneffekt die Illusion des Willens ist!

Stimme: Spüre mein Kopfschütteln, Richie.

Richie: Wo ist das Problem? Ich habe es doch gelöst, und jetzt verschwinde.

Stimme: Eines vorweg: Wer meint, es gebe keinen freien Willen, oder weder Würdiges noch Unwürdiges kennt, leugnet damit jede Möglichkeit objektiver Moral. Folglich kann er sich auf nichts überzeugend berufen, um gegen die einzige Art von „ethischen“ Argumenten zu protestieren, die dann noch bleibt, nämlich psychologisch wirksame, bis hin zur Hervorrufung tiefster Ängste. Über deine nächtlichen Schweißträume brauchst du dich also nicht zu wundern.

Richie: Billiger Stoff, nix sonst.

Stimme: Wie dem auch sei, ob du persönlich manchmal glaubst, keinen Willen zu haben, berührt die Sache nicht im Geringsten oder macht sie sogar noch schlimmer.

Richie: Wie? Verstehe ich nicht.

Stimme: Wenn du wirklich willenlos bist, dann gilt für dich tatsächlich keinerlei Pflicht. Zugleich kommt dir dann aber auch nicht die Würde des willensfähigen Vernunftwesens zu, und was auch immer jemand mit dir anstellt, es würde hinsichtlich der Schwere nie ganz die Stufe eines Verbrechens wie eines an einem willensfähigen Vernunftwesen erreichen.81 Du aber kannst dich von Natur aus nicht von dem Anspruch auf Menschenwürde trennen, hast darum subjektiv einen Willen, von dessen Vorhandensein du wie von derjenigen der Empfindungen auch in anderen Menschen ausgehst, so dass nach deinem eigenen Urteilsvermögen jemand, der nichts und niemanden würdigt, unwürdig ist.
Mehr noch: Gehst du nicht in jedem Moment, in welchem du eine ethisch relevante Entscheidung triffst – und dem Eintreten von Entscheidungssituationen entrinnt ja kein Vernunftwesen in seinem Leben –, durch das Treffen der Entscheidung von dem Vorhandensein deiner Entscheidungsfähigkeit – deines Willens – implizit aus? Erkennst du damit nicht jedes Mal automatisch die Gültigkeit und alle Begriffe der Ethik, besonders die der Würdigkeit und der Pflicht, implizit an? Ist diese Anerkennung nicht deine Zustimmung, für deinen Umgang mit den Grundsätzen der Ethik zur Verantwortung gezogen zu werden?
Zu guter Letzt: Die in jedem Vernunftwesen anfängliche Anerkennung der Existenz des eigenen Willens nachträglich zurückzuziehen ist ein Willensakt, der als solcher den Willen zugleich bestätigt und aberkennt, und somit unmöglich. Vielleicht nicht rhetorisch oder argumentativ, aber doch faktisch bestätigt jeder Willensleugner unablässig die Existenz des eigenen Willens.

Richie: Das wäre dann aber nur subjektive Unwürdigkeit, weil ich ja nur subjektiv gezwungen bin, meinen Willen anzuerkennen!

Stimme: Nur, wenn du objektiv willen- und würdelos bist. Nur dann wärst du bloß subjektiv unwürdig. Objektiv unwürdig wärst du dann tatsächlich nicht. Nur relativ würdelos.
Mach dir aber keine Illusionen, Richie. Falls du nämlich doch einen Willen hast – wovon ich ausgehe – bewahrt dich dein eventuelles Unwissen um ihn ohnehin nicht vor der Unwürdigkeit. Denn das Kriterium ist, einen Willen zu haben, nicht, dass man weiß, dass man einen Willen hat.

Richie (grimmig nuschelnd): Dann bin ich eben unwürdig, wen interessiert’s, solange es mir nicht schadet?

Stimme: Was ich dir aufzuzeigen hatte, habe ich dir aufgezeigt. Ob es wirklich niemanden oder gar nicht einmal dich interessiert, und ob und inwiefern es dir schadet, sind andere Fragen, die in dieser Form nicht zu meinem Aufgabengebiet gehören.

Richie: Du spinnst doch. Du bist wahnsinnig, total durchgedreht. Hast nicht mehr alle Tassen im Schrank, du [PIEPTON] [PIEPTON]! Ich will nichts mehr von diesem ganzen Quatsch hören, hast du...

(Das Telefon klingelt.)

Richie (erleichtert): Uff, ein Anruf, Gott sei Dank! (nimmt ab) Hallo? ... Sammy, du bist es, schön, dass du anrufst. Was? Ach so, natürlich, prima geht’s mir, erst recht an einem so schönen Sonntagmorgen wie diesem, was dachtest du denn?

Existenz und Ethik

[§35] In bloßer Logik und Empirik, also auf der rein faktualintellektuellen Ebene, verringert sich die Rationalität jedes positiven Handlungsbezugs auf einen Gegenstand mit der abnehmenden Wahrscheinlichkeit der Existenz des Gegenstands. Angelt also jemand in einem See, dessen Ökosystem derart kollabiert ist, dass die Wahrscheinlichkeit der Existenz lebender Fische unter der Seeoberfläche stark gesunken ist, ist seinem Angeln eine entsprechende geringere Rationalität zueigen, als wenn es sich um einen sich gesunder Verhältnisse erfreuenden See handelte. In entsprechender Weise verringert sich die faktualepistemische Wertigkeit positiver Annahmen faktualepistemischer Art über den Gegenstand, z.B.: „Heute Abend wird sich meine Familie über frischen Lachs aus diesem See freuen.“ Solange der Angler keinen empiriebasierten Grund hat, dem Vorgang des Angelns selbst oder der Etablierung jener Annahme eine außergewöhnliche Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von lebenden Fischen in dem See zuzuschreiben u.ä., ist dies leicht einzusehen.

Die Ethik aber unterscheidet sich hierin vom faktualen Urteilsvermögen nicht unerheblich. Zwar kann auch in der Ethik das Absinken der Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Gegenstands zur Verringerung der (in der Ethik normalerweise als Pflichthaftigkeit daherkommenden) Rationalität einer Handlung sowie zur Verringerung der ethischen Wertigkeit positiver Annahmen ethischer Art über den Gegenstand führen: Hat z.B. eine Person einem Freund versprochen, einem beliebigen armen Bettler noch vor Sonnenuntergang ein ihr von dem Freund anvertrautes Silberstück zu spenden, und kennt sie in der Nähe nur zwei Gegenden, die von Menschen bevölkert sind, und unterscheiden sich diese Gegenden (auch in Bezug auf die Person) in nichts außer, dass die reiche, große südliche Stadt ein Sozialhilfesystem hat und Bettelei unter Strafe stellt, die ebenso reiche und große nördliche hingegen nicht, ist in beiden Städten die Wahrscheinlichkeit der Existenz von Bettlern sehr gering, jedoch in der südlichen geringer als in der nördlichen, so dass die Ansteuerung der südlichen Stadt einen geringeren ethischen Wert und eine geringere Rationalität hätte als die Ansteuerung der nördlichen.

Doch in der Ethik kann eine derartige Korrelation ausschließlich unter mindestens zwei Bedingungen Bestand haben:

  1. Die Untätigkeit des Pflichtträgers wäre in die Verringerung der Wahrscheinlichkeit der Existenz des Gegenstands nicht kausal involviert.
  2. Die Existenz anderer ethisch wertvoller Gegenstände, denen neben dem vorliegenden Gegenstand gleichzeitig gerecht zu werden eingeschränkt oder ausgeschlossen ist, ist wahrscheinlich.

Dies lässt sich folgendermaßen exemplifizieren: Ist ein am Ufer eines Gewässers spielendes Kleinkind darin abgetaucht und seit einer halben Minute ungewöhnlicherweise nicht mehr aufgetaucht, schwindet mit jeder weiteren Sekunde die Wahrscheinlichkeit der Existenz kindlichen Lebens unterhalb der Gewässeroberfläche, und dennoch bleibt zugleich für den schwimmfähigen Beobachter, sofern er nach wie vor der einzige verantwortungsfähige Akteur weit und breit ist, der ethische Wert, nach dem Kind im Wasser zu suchen und es gegebenenfalls zu retten, konstant oder steigt wegen der stetigen Zunahme der Bedrohung des Kindes sogar, da er sonst durch seine bewusste und freiwillige Untätigkeit sozusagen zum passiven Mörder würde. Nach einer gewissen Zeit der erfolglosen Suche strebt in dem Gewässer die Wahrscheinlichkeit der Existenz kindlichen Lebens gegen Null, und hier beginnen das Leben des Schwimmers als ethischer Wert und andere Werte  relevant zu werden: Er ist irgendwann erschöpft und ausgekühlt und muss sein eigenes Leben schützen (das ja nicht weniger wert als das des Kindes ist, nur weil es sein eigenes ist), indem er sich wärmt und Nahrung zu sich nimmt, abgesehen von weiteren, evtl. familiären oder anderen Pflichten, die auf ihn warten. Hier ist offensichtlich aufgrund eines oder mehr „hinzugetretener“ ethischer Werte (S) die Rationalität einer Handlung mit der abnehmenden Wahrscheinlichkeit der Existenz von etwas gesunken. - Gäbe es jedoch in der Welt des Gedankenexperiments im Wesentlichen nur zwei mögliche Sachverhalte, denen Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit zugeschrieben werden könnte, nämlich den der Existenz und den der Nicht-Existenz kindlichen Lebens in dem See (also auch keinen möglichen Sachverhalt der Erschöpfung des Schwimmers etc.), und im Wesentlichen nur zwei mögliche Handlungsoptionen, nämlich den Rettungsversuch zu unternehmen oder ihn nicht (mehr) zu unternehmen, und als ethischen Wert nur das Leben des Kindes und was sich davon an Werten ableitet, dann gäbe es nichts, was den Abbruch der Suche rechtfertigen könnte. Denn die Existenzwahrscheinlichkeit mag immer weiter abnehmen und noch so gegen Null streben, genau Null ist sie nach rein faktualtheoretischen objektiven Maßstäben nie, und ein objektives Kriterium, unterhalb welcher eine wie auch immer geringe Wahrscheinlichkeit als Nullwahrscheinlichkeit behandelt werden kann, gibt es nicht - zumindest nicht in der Welt dieser Abwandlung des Gedankenexperiments. Die ethische Rationalität der Suche würde hier entgegen der Abnahme der Wahrscheinlichkeit der Existenz also niemals abnehmen und die Handlungsoption der unaufhörlichen Weitersuche mit konstanter Intensität wäre der Option des Abbruchs zu allen Zeiten und für immer überlegen, so dass der Taucher, falls der Erfolg ewig ausbleibt, ewig weitersuchen müsste.82 Sogar immer, wenn er meint, alles abgesucht zu haben, müsste er diese Auffassung in Zweifel ziehen, seinem Gedächtnis misstrauen oder Veränderungen der Position des Kindskörpers als Grund der bisherigen Unauffindbarkeit vermuten und weitersuchen. Zudem wäre es die ganze Zeit über seine Pflicht, eine nach wie vor bestehende Existenz des kindlichen Lebens anzunehmen, sofern dies für die Aufrechterhaltung seiner Motivation zum Weitersuchen nötig ist.

Es zeigt sich also: Ohne die Erfülltheit der beiden besonderen Bedingungen ändern Existenz(un)wahrscheinlichkeiten nicht das Geringste an dem ethischen Gewicht eines Wertes (S) mit fraglicher Existenz oder des Handelns um seinetwillen; in der Ethik hängen Urteile weniger vom faktischen Feststehen der Existenz oder der realen Gegebenheit eines Gegenstands ab als in Logik und Empirik. Wie wenig das ethische Urteilsvermögen auf das Feststehen der Existenz von etwas angewiesen ist, kündigt sich gewissermaßen schon darin an, dass die Sätze, die sein Gegenstand sind, unrealisierte Imperative sind bzw. sein dürfen. Ob z.B. Gerechtigkeit in Fülle existiert oder momentan eine Idee ohne Entsprechung in der Realität ist, ändert nichts an ihrer Liebenswürdigkeit. Darum darf |Würdiges ist würdig.| nicht übersetzt werden mit: „Falls Würdiges existiert, ist es würdig“.  Würdiges ist würdig, ob es existiert oder nicht, und ob wir von seiner eventuellen Existenz Wissen haben oder nicht.

Auch ohne die logische oder empirische Feststellung der Existenz ihres Inhaltes wertvoll kann eine Idee «B» außerdem sein, wenn ihre Wertschätzung notwendigerweise stellvertretend für die Wertschätzung von etwas anderem erwiesenermaßen Wertvollem «A» ist (so dass sich die Wertschätzung von «A» in der Wertschätzung von «B» vollzieht). Diese „Gesetzmäßigkeit“ findet sich im Zusammenhang mit subjektiv Wertvollem wieder, wie das Beispiel einer Mutter, welche die Nachricht vom Tod (¬B) ihres Sohnes (A) nicht wahrhaben will, zu zeigen geeignet ist.

Übrigens dürfte zweifelsfrei klar sein, dass den oben erwähnten Schwimmer seine niederen bzw. naturalen Neigungen von Beginn an gerade wegen der - wiewohl anfänglich nur geringen - Unwahrscheinlichkeit der Existenz eines noch lebenden Kindes im See tendentiell davon abhalten würden, in das kalte Wasser zu springen. Mit der Bedachtheit auf seine persönliche sinnliche Wohlseligkeit ginge einher, sich eher die Nichtexistenz einzureden. Sein Gewissen hingegen würde, wie gesehen, genau das Gegenteil fordern, nämlich die Existenz uneingeschränkt anzunehmen. Das damit verbundene Faktum sollte man sich gut merken: Der Mensch im Modus der niederen Selbstheit verlangt als Bedingung für die Beimessung eines Werts einen Beweis für Existenz. Im Modus des ethischen Intellekts hingegen verlangt er allenfalls als Bedingung für eine Zuschreibung von Existenz einen Beweis für das Zukommnis eines Wertes.

Im Reich der Korrelate

[§36] Mit Eintrag §14 wurde in der Offenlegung der epistemischen Struktur ethischer Sätze bereits ein wichtiger Schritt vollzogen. Ein intensiverer Vergleich mit empirischen Urteilen und Korrelaten gibt weiteren Aufschluss zu ihrer Natur.

In den folgenden Abschnitten dieses Eintrags werden Teile des Lichtwort-Artikels „Urteil und Erkenntnis“ sowie der Lichtwort-Artikel „Wissen um Wissen“ vorausgesetzt!

Urteil versus Korrelat

Bei empirikbasiertem Urteilen geht es stets darum, ob ein Korrelatrumpf mit einer Tatsachenauszeichnung (Faktualcharakteristikum, Instanz des Archetyps der Faktizität) versehen werden kann. Anders gesagt, es geht dabei immer darum, zu entscheiden, ob eine hypothetische Realität (S) eine tatsächliche Realität (S) als Entsprechung hat oder nicht. Auf konzeptueller Ebene liegt in dem jeweiligen Fall ein Begriff von einer hypothetischen Realität (von einem gedachten Vorgang, Zustand, o.a.) vor, sodass es nun beim empirikbasierten Urteilen darum geht, ob diesem Begriff, der nichts anderes als ein Kandidat ist, der Korrelatrumpf eines etablierten Korrelats zu werden, eine Instanz des Tatsachenbegriffs zugeordnet werden sollte. Es wäre zwar noch zu analysieren, wie diese Instanz mit diesem Begriff bzw. Korrelatrumpf verknüpft wird – dass es da eine Verknüpfung, Umschließung oder irgendeine Zusammenfügung zwischen Faktizitätsinstanz gibt und diesem relativ komplexen Begriff, den wir Korrelatrumpf nennen, ist allerdings unzweifelhaft. Es ist das Ziel empirikbasierten Räsonierens.

Man kann es sich im Übrigen so vorstellen, dass es zu empirikbasiertem Räsonieren kommt, wenn sich ein solcher (i.d.R. komplexer) Begriff sozusagen vor dem inneren Auge darbietet, und es dann irgendeinen Anlass oder Imperativ gibt, ihn daraufhin zu untersuchen, ob er es nun würdig ist, mit einer Faktizitätsinstanz versehen zu werden oder nicht. Es geht offenbar kein Weg daran vorbei, so etwas wie einen Impuls (oder: eine ethische Notwendigkeit!) hierfür anzunehmen. Infolgedessen wird der potentielle Korrelatrumpf mit dem „Pool“ abgeglichen, so dass man dann empirikbasiert zu einem Urteil kommt.

Für die epistemologische Betrachtung ist hierbei wichtig, dieses Urteil selber und das Endergebniskorrelat strikt auseinanderzuhalten. Es kann nämlich sein, dass das Urteil lediglich lautet, dass dieser Begriff (z.B. eines Zustands) mit einer Wahrscheinlichkeit/Sicherheit von weniger als 100 % eine echte Realität (S) zum Gegenstand hat, und es trotzdem, weil man vielleicht sonst nicht fortfahren kann (mit seinem Leben, mit seiner Arbeit, o.a.), sich mit z.B. 95 % begnügt, um den betreffenden Rumpf mit einer Faktizitätsauszeichnung zu einem vollständigen Korrelat zusammenzufügen, so dass es sich als ein solches etabliert, obwohl es nicht zu 100 % sicher ist, dass der Korrelatrumpf einer echten Realität entspricht, sondern hier eben nur zu 95 %. Das wiederum schließt freilich nicht aus, dass - zusätzlich - auch von dem Urteil selber ein Korrelat entsteht und abgespeichert wird; immerhin hat das Urteil selber tatsächlich stattgefunden, und solches nimmt das Subjekt introspektiv wahr (wenn auch, angesichts der Existenz unbewusster mentaler Vorgänge, offenbar nicht immer). Sprachlich repräsentieren ließe sich ein solches zusätzliches Korrelat in etwa so: „Dass es hochwahrscheinlich ist, dass X Faktizität besitzt, besitzt Faktizität.“ Jedoch ist dies in der Regel nicht das Erstziel empirikbasierten Urteilens, und darum ist so ein auf das Urteil selber sich beziehendes Korrelat wahrscheinlich eher als eines wie das davor benannte, welches sich im Endergebnis etabliert, der Bedrohung ausgesetzt, in der Versenkung zu verschwinden.

Wenn das auf das Urteil bezogene Korrelat durchaus gebildet wird, aber dennoch erheblich eher in der Versenkung als das Korrelat des Endergebnisses verschwindet, ist dies sicher auch eine Erklärung dafür, dass wir viele Gewissheiten haben, von denen wir nicht mehr wissen, wie wir auf sie kamen. Wir sind uns bei manchen Gewissheiten ganz sicher: Da war mal etwas, wir haben geurteilt – aber wir wissen nicht mehr im Einzelnen, wie wir da geurteilt haben, oder was die Grundlagen unseres Urteils waren. Dennoch sind diese Dinge bei uns nun als Tatsachen etabliert.

Ein weiterer Unterschied, der sich noch erwähnen ließe, ist der den Freiheitsgrad betreffende Unterschied zwischen der Konstruktion eines Urteils und der Konstruktion des aus ihm resultierenden Korrelats. Beim empirikbasierten Urteilen ist das Individuum in seinem Urteil kaum frei. Das Urteil selbst ist ja immer nur das mit den Wahrscheinlichkeitszuordnungen (z.B.  95 % bzw. „hochwahrscheinlich“). Zu diesem Urteil, sieht man einmal von der begrenzten Freiheit hinsichtlich des Grades der Ausnutzung der Konzentrationsfähigkeit und der schieren Aufrechterhaltung von Denkprozessen ab, kommt der Mensch mehr oder weniger gezwungenermaßen, ob er will oder nicht – selbst wenn das Urteil fehlerhaft ist. Im Fall eines fehlerhaften Urteils hat eben eine Störung oder ein Mangel an Voraussetzungen vorgelegen (Ablenkung, physischer Defekt, mangelhafte bisherige Konditionierung zu denkerischer Disziplin, zu kleiner Pool, verfälschter Pool o.a.). Das empirikbasierte Urteil selber jedoch wird erstens nicht frei gewählt, und ist zweitens – wie festgestellt – nicht mit dem Korrelat, was hinterher zustande kommt, identisch. Letzteres hingegen ist sehr wohl das Produkt einer einigermaßen von Freiheit geprägten Zusammenfügung, nämlich zwischen einer Faktizitätsinstanz mit einem Korrelatrumpf, d.h. mit dem Begriff von einem Zustand oder einer sonstigen zunächst gedachten Realität. Wir können beispielsweise eigene, mehr oder weniger frei oder neigungsbedingt gewählte Maßstäbe haben, d.h. falls die Zusammenfügung weit entfernt von Freiheit ist, so wird doch zumindest irgendein Faktor oder Mechanismus zugrunde liegen, der jenseits des empirikbasierten Räsonierens als solches liegt. Dass das direkte Ergebnis der Empirik nicht mit dem Korrelat identisch ist, lässt sich in dieser Hinsicht untermauern. Ein Urteil ist das eine, und ein Faktualkorrelat ist das andere. Dessen sollten wir uns bewusst sein, auch wenn noch eingehender darüber nachzudenken sein sollte, wie das Urteil (S) bzw. ein Empirikurteil, wenn es ja nicht mit dem Faktualkorrelat identisch ist, denn genau zusammengesetzt ist.

Unheimliche Sicherheit

Dies wirft natürlich die Frage auf, wie man überhaupt langfristig zu richtigen Ergebnissen bzw. Urteilen kommen soll, wenn sich auch Korrelate etablieren können, die nach den Maßstäben der Empirik nicht völlig sicher, oder gar extrem unsicher sind. Bezeichnet man nicht erst dann etwas als Faktum, wenn man sich hinsichtlich seiner Faktizität hundertprozentig sicher ist, so dass hinter einem solchen Korrelat eine hundertprozentige Sicherheit des empirischen Urteils stehen sollte? Wie aber soll man langfristig „richtig denken“, wenn es doch wichtig ist, hierfür einen Pool zu haben, dessen Urteile sich nach Wahrscheinlichkeit, also nach einer Art Gewicht unterscheiden, während sich hier aber anscheinend ein Pool bildet, in welchem diese Unterschiedlichkeit nicht auftaucht? Die Kontraproduktivität eines Verfahrens, alles, was man in einem solch unvollkommenen Modus als Tatsachen akzeptiert hat, für z.B. neue Erwägungen zu ganz anderen Themen immer als hundertprozentig sicher zu behandeln, ist jedenfalls offensichtlich. Für eine bestimmte Sache mag es in dem einen oder anderen besonderen Fall nötig scheinen, von einer hundertprozentig feststehenden Tatsache auszugehen, während dies einen aber bei einem ganz anderen Thema irreführt. Doch wenn alles, was sich etabliert hat, als hundertprozentig gilt, obwohl die Urteile die 100 % gar nicht konstatierten, dann kann es durchaus sein, dass es mir auf dem einen Feld nützlich ist, dass ich eine Sache als hundertprozentig feststehend behandelt habe, während ich auf einem anderen Feld durch solches irregeführt werde. Das, was man z.B. im Alltag als Tatsache annimmt, analog der Annahme in früheren Kulturen, die Kreiszahl Pi sei 3 oder 3,125 bei den Babyloniern oder 3,1605 im Alten Ägypten, kann sich für manche Belange meist als völlig ausreichend bewähren, während sich für andere Belange darauf zu verlassen, z.B. auf die besagten Pi-Werte beim Entwurf komplizierter und fein abgestimmter Maschinen, desaströs auswirken kann. Kann es denn nun überhaupt sein, dass die Korrelate „einfach so“ abgespeichert werden, obwohl das Faktizitätscharakteristikum naturgemäß ohne Gradualität einhergeht?

Die bejahende Antwort darauf ist, dass eben u.a. hierin sich die Güte bzw. Reife des empirischen Intellekts eines Individuums erweist und u.a. gerade hierin die Menschen sich hinsichtlich ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit unterscheiden. Das eine Individuum kommt zu einem Korrelat, das eigentlich allenfalls vorläufig sein dürfte, denn das Urteil legte z.B. nur 80 % nahe, begnügt sich aber damit, um ein Korrelat zu bilden. Ein intelligenteres oder gewissenhafteres (!) Individuum kommt bei seinem empirikbasierten Urteilen vielleicht auf genau denselben Wert und bildet womöglich sogar das entsprechende Korrelat (gute Gründe, u.U. zeitl. Ressourcen betreffend, kann es dafür ja geben), merkt sich diesen verhältnismäßig geringen Wert und seine Insuffizienz aber (Natürlich merkt es sich den Wert meist nicht als Zahl, sondern als Gefühl). So kommt es nicht nur, dass sich in dieser Hinsicht das Modell als unumgänglich erweist, demzufolge das Korrelat, das mehr oder weniger automatisch entsteht, auch vom Urteil entsteht (als Zweitkorrelat), sondern auch, dass das Zweitkorrelat prozedural zwar ein Nebenprodukt sein mag, effektiv aber nichtsdestotrotz eine essentielle Rolle für das gesamte empirikbasierte Denken spielt. Dieses Zweitkorrelat ist das Individuum mit dem effektiveren Intellekt stärker bemüht, es an der Oberfläche zu halten und es sich zu merken, so dass das Faktualkorrelat bei ihm möglichst eng von dem Urteilsfaktualkorrelat begleitet ist, und das Individuum dann bereit ist, das Ganze irgendwann u.U. zu revidieren. Dies kommt zur Selbstkonditionierung des höher entwickelten Intellekts, möglichst angemessen oft möglichst angemessen viel von allem für Wissen Gehaltenen von Neuem zu überprüfen und u.U. neue, genauere Urteile zu bilden, zusätzlich hinzu.

Abgesehen davon entstammen in der Praxis beim gesunden, erwachsenen Individuum die allerwenigsten Empirikkorrelate 100-%-Urteilen. Die am ehesten schon an sich zu Zweifelsfreiheit führenden Urteile dürften allermeistens mit etwas urteilen, was höher als 99 %, aber eben doch unterhalb der 100-%-Marke liegt. Es ist schon aus Gründen der denkerischen Effizienz und zur Vereinfachung, wenn nicht gar zur schieren Ermöglichung eines funktionierenden Lebenswandels unabdingbar, nicht für jede Etablierung eines Faktualkorrelats ein 100-%-Urteil zu verlangen.

Das allerdings bringt die Frage mit sich: Wie kann es sein, dass das Individuum einerseits ein Faktualkorrelat gebildet hat, von dessen Zutreffen es irgendwo doch fest ausgeht, sich aber zugleich merkt, dass es sich nur eines Urteilswerts von 80 % erfreut – muss nicht das nur 80-prozentige Urteil irgendwie vergessen werden, um hier „in Ruhe“ von einer Tatsache auszugehen? Dies dürfte richtig sein; zumindest ist dieses Argument nicht einfach von der Hand zu weisen. Doch es gibt genügend Möglichkeiten, z.B.

Je höher jedenfalls die Güte des Intellekts, desto mehr Urteile merkt er sich. Sein Pool besteht nicht nur aus Tatsachenkorrelaten, sondern auch aus diese Faktualkorrelate begleitenden Korrelaten zu den Urteilen über sie. Dies zeichnet den Intellekt umso mehr aus, je leistungsfähiger er ist. Sich auf das Meer von Faktualkorrelaten, diesem für Wissen Gehaltenen, zu verlassen und es zu weiteren empirikbasierten Urteilen alleine heranzuziehen, würde kaum weit führen. Dies sollte nicht allzu sehr verwundern, zumal wir ohnehin zwischen Wissen und Verstand prinzipiell unterscheiden müssen. Empirikbasiertes Urteilen soll zu Wissen (S) führen. Wissen (S) besteht nun aus Faktualkorrelaten binärer, non-gradueller Natur. Doch das jeweilige Urteil, das zu einem Faktualkorrelat gehört, ist nicht in erster Linie Teil des Wissens, sondern Teil des Verstandes. Daraus besteht der empirische Verstand (S). Darum sollte man erwarten, dass während des erfolgreichen empirikbasierten Räsonierens stets paralleles Wachstum erzielt wird, und zwar Wachstum des empirischen Verstandes auf der einen Seite, und Wachstum des Wissens (bzw. des für Wissen Gehaltenen) auf der anderen Seite.

Den besonders leistungsfähigen Verstand zeichnet aus, dass er sich immer weiter optimiert, indem nicht nur die epistemischen Früchte der Urteile – die Faktualkorrelate – gespeichert werden, sondern auch die Urteile selbst, die zu ihnen geführt haben, und er diese mit der Zeit immer weiter im Rahmen permanenter Modifikation perfektioniert. Damit sind es zwei Pools, die mit dem Empirikverstand im Zusammenhang stehen. Und auch dürfte nun klar sein, dass das Meer an Faktualkorrelaten nicht so sehr zum Verstand gehört, wie vielmehr zum für Wissen Gehaltenen (nur im Idealfall zum Wissen), zum Verstand derweil höchstens in schwacher oder indirekter Weise. Dieser selber hingegen, wenn er überhaupt als aus etwas bestehend charakterisiert werden soll, besteht aus den Urteilen  (S), die bis dato zustandegekommen sind. Je größer dieser Pool an Urteilen, und je stärker optimiert und in Richtung des Optimums revidiert, desto höher die Güte des Intellekts in empirischer Hinsicht.

Sätze werden verglichen - oder doch nicht?

Unser bekannter84 Grundatz lautet: Beim bzw. zum rationalen Urteilen sind Sätze miteinander zu vergleichen. Soweit mit den Sätzen epistemische Korrelate gemeint sind, stellt uns dies vor ein (Schein-)Problem, das besonders im Zusammenhang mit dem empirischen Urteilsvermögen auftritt. Wenn man nämlich sagt, empirikbasiertes Urteilen vergleiche Korrelate miteinander, d.h. ein vorliegendes, zur Beurteilung stehendes Korrelat werde anhand seines Pools überprüft, wobei ein Korrelat ja bereits aus Rumpf und Faktualqualifikation besteht, dann drängt sich die Implikation auf, dass dann das zu überprüfende Korrelat noch im Moment der Überprüfung schon als Faktualkorrelat vorläge, also das Individuum seinen Gegenstand schon glaubte und als Realität ansähe, also quasi noch vor der endgültigen Beurteilung die Zuordnung des Korrelatrumpfs feststeht. Die Inakzeptabilität dieses Szenarios führt zu dem Schluss, dass eben nicht unbedingt direkt schon bestehende Korrelate geprüft werden, höchstens vielleicht (evtl. unter Aufbrechung des Korrelats zu diesem Zweck) revidiert, doch der Regelfall dürfte dergestalt sein, dass nur der Korrelatrumpf herangezogen wird, ja sogar zunächst nur dieser Rumpf vorliegt (ohne die Faktualauszeichnung). D.h. verglichen wird der Rumpf.

Eine solche Problematik kann im Zuge der Überlegung aufkommen (oder gelöst werden), wie überhaupt die Empirik (bzw. der Mensch mit seinem empirischen Urteilsvermögen) dazu kommt, Vergleiche anzustellen. Wo kommt ein Korrelatrumpf überhaupt her? Die Antwort wird schlicht sein, dass es in der Regel irgendeinen Anlass gibt, irgendein Eingeworfenwerden eines solchen Begriffskomplexes, von einem Imperativ begleitet, diesen Begriffskomplex jetzt mit dem Ziel seiner Auszeichnung oder derjenigen seiner Negation als Tatsache im Rahmen von Empirik zu nutzen. Anders gesagt: Es ist davon auszugehen, dass häufig oder immer ein Korrelatrumpf auf- bzw. eingeworfen wird, zusammen mit einem Imperativ (vorerst gleich, ob aus der Ethik oder den Neigungen), diesen Truncus zu untersuchen (d.h. sich um seine korrekte Einordnung zu bemühen) bzw. empirikbasiert zu vergleichen, mit dem Ziel, ihn oder seine Negation als Tatsache auszuzeichnen. Dies bedeutet, dass der Rumpf nicht schon von Anfang an als auf eine Tatsache bezogen ausgezeichnet vorliegt, zumal diese Auszeichnung eine Verknüpfung ist, die erst vom Subjekt durchzuführen ist. Die Gefahr der diesbezüglichen Täuschung steckt eben in der Aussage, dass in der Empirik oder überhaupt zum rationalen Urteilen Sätze miteinander verglichen werden, was den Eindruck bewirkt, zum Urteilen müsste das zu Untersuchende stets als komplettes, typisches Korrelat vorliegen. Die Idee schien zu sein: Wir haben hier ein Korrelat mit Faktualauszeichnung, das mit anderen Korrelaten, nämlich denen des Pools, die ebenso Faktualauszeichnungen aufweisen, verglichen wird. In diesem strengen Sinne sollte das jedoch nicht verstanden werden, weil sich ja schlicht auch sagen lässt, dass ein hypothetisches Faktualkorrelat verglichen wird, oder einfach Korrelatrümpfe stellvertretend für die vollständigen Korrelate verglichen werden, womit es ein potentielles Faktualkorrelat zu nennen wäre. Jedenfalls sollte jene Bezugnahme auf „Sätze“ nicht allzu streng genommen werden. Es ist nichts an der Vorstellung auszusetzen, dass man am Ende eines Denkprozesses das zu prüfende Korrelat in hypothetisierter Form mit wiederum einer hypothetisierten Form der feststehenden Prüfstein-Korrelate vergleicht. Auch lässt sich die Maßgabe, Sätze seien miteinander zu vergleichen, damit übersetzen, dass ihre Propositionen miteinander zu vergleichen seien, mit dem Ziel, Sätze aus ihnen zu machen.

Desweiteren: Es ist ja auch unproblematisch, wenn man sagt, es würden Korrelatrümpfe miteinander verglichen, oder Propositionen. Die Hauptsache ist, dass man nicht sagt, Einzelbegriffe – wie Begriffe von konkreten Gegenständen – würden alleine miteinander verglichen. Es müssen schon typische Korrelatrümpfe sein (Akteur-Aktion-Verknüpfungen, Zuordnungen, Assertionen o.ä.). Es läge kein relevanter Widerspruch vor, einfach da man auch sagen kann, die Sätze würden verglichen, indem man das Wichtigste und Kernhafte von ihnen, nämlich ihre Korrelatrümpfe, miteinander vergleicht. Die Sätze werden eben nicht als Ganzes miteinander verglichen, sondern selbstverständlich nur das Wichtigste von ihnen. Und damit, indem man das Relevante dieser Sätze verglichen hat, ist es so, als ob man die Sätze selbst verglichen hätte, d.h. Korrelatrümpfe werden – wie man vielleicht sagen könnte – stellvertretend für die ganzen Sätze gegeneinander abgeglichen.

Wenn sich davon ausgehen lässt, dass Korrelatrümpfe das sind, was man gemeinhin Propositionen nennt, also es sich erst ohne jene Faktualauszeichnung oder die Wertungsauszeichnung (in der Ethik) um eine reine Proposition handelt, dann kann man die Aussage, der Verstand vergleiche Sätze miteinander, präzisieren, indem man sagt, er vergleiche weder jede Art von Sätzen miteinander, noch den Satz oder das Korrelat als Ganzes, sondern nur die Propositionen.

Eine weitere Lösungsmöglichkeit oder eine Präzisierung der Lösungsmöglichkeiten für das Problem, dass Faktualkorrelate untersucht werden können müssen, ohne dass man gleich an ihr Feststehen und Zutreffen glaubt, obwohl das Vorliegen eines Faktualkorrelats eigentlich bedeuten müsste, dass ihr Zutreffen für einen sehr wohl feststeht, wäre: Wenn die Sätze miteinander verglichen werden, sind sie nochmal mit Urteilsbegriffen „umhüllt“. Wenn ein Faktualkorrelat mit der Instanz eines Urteilsbegriffs umhüllt wird, ist es nicht mehr (oder noch nicht) ein etabliertes Faktualkorrelat im Sinne von Wissen oder für Wissen Gehaltenes, sondern es ist ein neuer/anderer Begriff. Also vergleiche ich nicht die sogenannte Tatsache mit einer Tatsache aus meinem Pool, sondern untersuche den Begriff von einer Beurteilung dieser hypothetischen Tatsache als hundertprozentig feststehend mit einem in meinem Pool befindlichen Begriff von der Beurteilung von etwas. Es wäre hier auch wichtig, anzumerken, dass während das Faktualkorrelat von dieser Instanz des Urteilsbegriffs umhüllt ist, diese Instanz selber ebenfalls (noch) nicht von einer Instanz einer neuen Tatsachenauszeichnung umhüllt ist, sondern das Ganze wirklich hypothetisch bleibt. Der Vorteil dieses Lösungsansatzes ist, dass hier tatsächlich ein (unversprachlichter) Satz enthalten ist. Der Satz steckt „drin“, auch wenn der Urteilsbegriff des zu prüfenden Satzes (im Rahmen einer Hypothese) hinzukommt; der Satz ist da, es gibt einen neuen Begriff, dieser ist kein Faktualkorrelat, sondern die hypothetische Beurteilung zu einem  Faktualkorrelat. In einem gewissen Sinne hätte das Individuum somit Sätze verglichen, und in einem anderen Sinne wiederum nicht. Somit ist zum einen der Forderung entsprochen, dass der Intellekt immer Sätze vergleicht, und zum anderen der Forderung, dass es nicht sein kann, dass immer bei jedem Mal ein zu prüfender Satz vorab für Wissen gehalten wird. Die Plausibilität dieser Lösungsmöglichkeit beruht u.a. auf der konzeptologischen Tatsache, dass Begriffe, anders als Gegenstände der materiellen Realität, schon durch die geringste Änderung, Verringerung oder Erweiterung immer als etwas total Neues und Anderes behandelt werden müssen.

Jedenfalls lässt sich weiterhin festhalten, dass auf Handlungen und Vorgänge bezogene ethische Urteile zu Korrelaten führen, welche ebenso aufgebaut sind wie Faktualkorrelate, mit dem einzigen Unterschied, dass anstelle des Faktualcharakteristikums ein Würdigkeitscharakteristikum eingesetzt wird. Dieses weist allerdings einen äußerst wichtigen Unterschied zum Faktualcharakteristikum auf:  Es ist gradueller Natur. Anders das Faktualcharakteristikum, obwohl Faktualurteilen durchaus Gradualität innewohnt. Dasjenige, worin empirikbasiertes Urteilen münden soll, nämlich Faktualkorrelate, ist nicht graduellen Charakters: Ein Faktum ist ein Faktum, ein jedes nicht mehr oder nicht weniger als jedes andere Faktum. Dies ist ein grundlegender Unterschied zu den ethischen Korrelaten.

Ethische Korrelate

Ist in der Ethik von einer zur Empirik analogen Dichotomie der Urteile und Korrelate auszugehen? Muss man auf der einen Seite von „ethischen Korrelaten“, und auf der anderen Seite von damit nicht identischen „Imperativen“ oder „Imperativkorrelaten“ reden, weil ethische Korrelate von graduell variablen Würdigkeiten ausgehen, während demgegenüber etwas mit der Bezeichnung „Imperativkorrelat“ o.ä. auf Nongradualität beruht, zumal ein Befehl ein Befehl, wie auch ein Faktum ein Faktum ist? Muss man sich auch hier parallel zu etablierten Korrelaten die dazugehörigen Einstufungssätze merken? Oder ist die Gradualität in den Imperativkorrelaten stets schon enthalten? In letzterem Fall läuft die mit Imperativen typischerweise einhergehende Suggestion (s. Eintrag §14) schlicht darauf hinaus, Höchstwichtigkeit zu kommunizieren, und nicht irgendeinen Wichtigkeitsgrad zwischen Höchst- und Nullstand.

Offenbar ist es so, dass ethische Korrelate immer zugleich Urteile sind („... ist würdig.“). Dies ist bei den Faktualkorrelaten nicht so offensichtlich - wenn überhaupt - der Fall. Bezeichnen lassen sich faktualkorrelative, also Sätze der Form „... ist eine Tatsache.“ zwar durchaus als Urteile, wenn man hierin dem üblichen Sprachgebrauch folgt. Aber es sind keine Urteile nach der für die Empirik essentiellen und primären, modalen Art und Weise des Urteilens. Wären sie Urteile im Sinne der modalen Empirik, lautete die Urteilskomponente „ist völlig sicher“, „ist sehr sicher“ oder „ist abwegig“ etc. Ein bloßes „ist eine Tatsache“ steht hingegen für ein binäres Konzept. Davon unterscheidet sich das Ethische offenbar doch erheblich. Da nämlich lautet das Korrelatmuster „X ist (un-)würdig“. Das Charakteristikum ethischer Korrelate ist offenbar ein Urteilsbegriff, bzw. identisch mit einem der drei Urteilsbegriffe. Ein ethisches Korrelat ist stets ein Urteil und beinhaltet stets einen Urteilsbegriff. Ein empirisches Korrelat hingegen beinhaltet anscheinend keinen Urteilsbegriff. Es sollte nicht überraschen, wenn sich dies auch auf die Art und Weise auswirkt, wie in der Ethik Korrelate zur Prüfung miteinander verglichen werden, im Unterschied zur Empirik.

Erwähnterweise lässt sich bezüglich der Empirik ja ein Modell aufstellen, demzufolge ein Urteilsbegriffskomplex mit einem anderen verglichen wird, ein zur Beurteilung stehender mit einem aus dem Pool (Schema „[Rumpf + Auszeichnung]+Urteilsbegriff“), wobei zu beachten ist, dass ein faktualer Urteilsbegriffskomplex kein Faktualkorrelat mehr ist (oder noch nicht), da sonst die Umhüllung aus einer Faktualauszeichnung und nicht aus einem Urteilsbegriff bestünde. Prüfgegenstand und Prüfstein haben nach diesem Modell die gleiche Struktur. In der Ethik jedoch tritt zu einem Korrelatrumpf eine Auszeichnungshülle hinzu, um das so entstehende Gebilde der Verbindung mit dem Rumpf als Ethikkorrelat einordnen zu können – außer dieser Hülle und jenem Rumpf ist da erst einmal nichts.

Wir halten fest: Die beiden Zweige des deskriptiven (evtl. besser: des faktizistischen) Urteilsvermögens setzen sich mit deskriptiven Sätzen auseinander, und diskursiv stellt sich das in der stereotypen Form so dar, dass ein von modalen Urteilsbegriffen freier Satz (die in ihm womöglich enthaltene Faktualisierung ist kein modalbegriffliches Urteil) so überprüft wird, dass am Ende über sein angebliches Zutreffen geurteilt wird. Sätze hingegen, mit denen sich das ethische Urteilsvermögen auseinandersetzt, beinhalten von vorneherein bereits einen Urteilsbegriff. Das lässt sich gut fassbar machen, indem man sich vor Augen führt, wie sinnvoll es ist zu sagen: „Dass X Fakt ist, ist unmöglich/gewiss“ etc., und wie sinnlos es gegenüber dem einfachen „X ist [un-]würdig“ wirkt, zu sagen: „Dass X [un-]würdig ist, ist unwürdig“ oder „Dass X [nicht] getan werden darf, ist unwürdig“. 85 Folglich bedeutet die Aussage, dass sich das ethische Urteilsvermögen mit ethischen Sätzen auseinandersetzt, nicht in erster Linie, dass es wie Logik und Empirik ganze Sätze bzw. Korrelate einzuordnen bestrebt ist, sondern vielmehr in solchen Sätzen bereits als Korrelatrümpfe und Urteilsgegenstände vorkommende, für sich nicht unbedingt schon Sätze bildenden Begriffe, wobei im ethischen Diskurs Begriffe von Willentlichkeiten (d.h. willentlichen Akten und Haltungen) im Fokus stehen.

Ethikurteile als Tatsachen?

Wie es aussieht, werden nach einer ethischen Betrachtung, bzw. nach ethischem Sinnieren, naturgemäß Ethikkorrelate abgelegt bzw. produziert. Das Besondere daran ist nun nicht einfach nur, dass zur Qualifizierung als solches Korrelat das Würdigkeits- bzw. Wichtigkeitscharakteristikum an diejenige Stelle tritt, welche in der Empirik die eines Faktualcharakteristikums wäre, sondern auch, dass diese Korrelate als Urteile (Bewertungen) abgelegt werden; und zwar als Urteile, so wie sie beim ethischen Sinnieren zustande kommen und gefällt werden. Das ist ein erheblicher Unterschied zur Empirik. Denn der Zweck (profaner dargestellt: die typische, zu ihrer Verwertbarkeit führende Verfahrensweise) der Empirik ist es, ein Faktualkorrelat abzulegen, das nicht die Urteilsstruktur und –natur hat, wie sie einem typischen empirischen (geschweige denn einem ethischen) Urteil zueigen ist. Das ist ja der Grund, warum Faktualkorrelat und Empirikurteil nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Währenddessen ist aber in der Ethik offenbar das Ethikkorrelat, das abgelegt wird, eins zu eins auch das entsprechende Ethikurteil. Dies ist ein relativ interessanter Befund, auch weil dies zu erklären geeignet ist, warum über Ethik zu reden so schwierig ist: Wir versuchen nämlich über ethische Sätze, die Urteile sind, so zu sprechen, als hätten sie die Natur von Tatsachenkorrelaten, die nun mal keine Urteile im engeren Sinne sind.

Die ethischen Korrelaten innewohnende Verknüpfung zwischen Korrelatrumpf und Würdigkeitsauszeichnung lässt sich auch als Tatsache ansehen, wenn auch nicht ohne Weiteres. Es lässt sich nämlich ein Korrelat herstellen, dessen Truncus aus dem ethischen Urteil besteht (das als solches das Imperativcharakteristikum enthält), während das hinzukommende Charakteristikum ein Faktualcharakteristikum ist. Allerdings ist dies nicht der primäre Zweck des individuellen ethischen Räsonierens. Warum es überhaupt gemacht werden sollte, wäre eine interessante Frage, die sich wohl hauptsächlich mit der Geeignetheit dieser Vorgehensweise zu dialektischen bzw. Diskurszwecken beantworten lässt.

Völlig sinnlos wäre es jedenfalls nicht, wenn man z.B. sagte: „Es ist eine Tatsache, dass Gerechtigkeit etwas Wertvolles ist.“ Denn man kann immer noch darunter verstehen: Jede denkbare intakte natürliche Vernunft (existierend oder nicht) würde Gerechtigkeit als etwas Wertvolles einstufen. Dass sie dies täte, lässt sich als Tatsache ansehen, und dies wäre dann ein Sinnfundament für jene Beispiellaussage.  - Dies, falls jemand einwendet, dass solch ein Faktualkorrelat ja in der Realität keine Entsprechung haben könnte, weil es in der Realität – in der „Außenwelt“ bzw. in Raum und Zeit – „keinen Wert“ gebe, wie der Wittgenstein des Tractatus (in dieser Hinsicht ganz zutreffend) formuliert hat. Wert ist nichts Anfassbares. Dennoch kann man solches als Tatsachenaussagen aufstellen, wie man auch mancherlei Aussagen der Mathematik, auch wenn sie bar einer Entsprechung in der Außenwirklichkeit sind und auch keine haben können, als Tatsachen auffasst.

Die präskriptive Basis deskriptiver Urteile

Für die letzte Betrachtung in diesem Abschnitt sollten die Urteilsbegriffe „empirisch notwendig“, „empirisch unmöglich“ und „empirisch kontingent“, sprachlich repräsentierbar durch „wahrscheinlich“, „unwahrscheinlich“, „fraglich“ etc., bekannt sein und vergegenwärtigt werden.86 Denkt man nun an das Korrelatprinzip sowie an das Konzept des Begriffs, liegt es nahe, das Urteil „empirisch notwendig“ bedeute, wir seien sozusagen gezwungen, dieses Korrelat mit einem Faktualcharakteristikum auszuzeichnen bzw. mit einem solchen zusammenzufügen. Wird statt dieser Bezeichnung aber nun das Wort „wahrscheinlich“ eingesetzt, wirkt dieses etwas merkwürdig. Denn es hört sich nicht passend an (und ist es nicht), zu sagen, es sei wahrscheinlich, das eine mit dem anderen zusammenzufügen. Man würde eher sagen müssen, es sei wahrscheinlich (oder unwahrscheinlich etc.), dass der Korrelatrumpf eine Entsprechung in der Realität habe. Die empirische Notwendigkeit ist die Notwendigkeit, etwas als wahr anzuerkennen. Es ist die Notwendigkeit der Anerkennung eines komplexen Begriffs, nämlich des Korrelatrumpfs, und zwar als zutreffend (mit etwas Realem übereinstimmend).  Da Anerkennung nun ein Akt ist, und darüber hinaus eine typische Form von Würdigung, sollte angesichts des Vorangegangenen gefragt werden, ob empirische Notwendigkeit nicht eine Form ethischer Notwendigkeit ist: Ein Begriff wird für würdig erachtet, mit einer Faktualauszeichnung zusammengefügt zu werden, bzw. die Zusammenfügung besitzt ethische Würdigkeit. Man denke auch daran, dass der Begriff der Notwendigkeit schon vor seiner Spezifizierung als logisch oder empirisch von Natur aus eher zum Ethischen und Normativen als zum rein Ontologischen und Deskriptiven passt, zumal er den Begriff der Freiheit voraussetzt, dieser wiederum den Begriff des Willens, und dieser wiederum den Begriff der Würdigkeit.87

„Zu soundsoviel Prozent ist das Verknüpfungskonstrukt als Repräsentation einer Tatsache ausgezeichnet zu werden würdig.“ Diese ethische Formulierung eines empirischen Urteils ist offensichtlich sinnvoller, als zu sagen: „XY ist zu 50 % eine Tatsache“, denn etwas ist entweder eine Tatsache oder nicht, es kann keine „halben“ Tatsachen geben. Hier bietet sich ein starker Anhaltspunkt, alle Urteilsaktivität als eine ethische zu klassifizieren, und logisches und empirisches Urteilen als Subkategorie ethischen Urteilens anzusehen. Der Grad einer Wahrscheinlichkeit ist dann der Grad der Würdigkeit eines gedachten Sachverhalts, als wahr angesehen zu werden, d.h. der Grad der Würdigkeit einer Begriffszuordnung, eine Faktizitätsauszeichnung zu erhalten, oder der Grad der Würdigkeit des Aktes dieser Auszeichnung.

Hinzu kommt: Das ausreifende, objektive empirische Urteilsvermögen kennt für bloß empirische (!) Zusammenhänge irgendwann, ab einem gewissen Punkt seiner Entwicklung, keine hundertprozentigen Urteile mehr. Was soll dann das rein empirikbasierte Kriterium der Bildung von Faktualkorrelaten sein? Bloß dass die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens einer Hypothese höher ist als ihre Alternativen, kann nicht der Grundsatz sein; es bedarf keiner tieferen Erläuterung dafür, dass kein vernünftiger Mensch, solange ihn nichts zur Bildung eines Faktualkorrelats drängt bzw. ihm die Zeit ausgeht, sich immer und grundsätzlich auf ein 70-30-Urteil verlässt und deswegen von einem Faktum ausgeht, um weitere Betrachtungen darauf aufzubauen. Wenn man nun für 99% als die Grenze plädiert, ab welcher Faktualkorrelate gebildet werden sollen, findet sich keine objektive, rein empirikbasierte Antwort auf die Frage, warum nicht schon bei 98% oder erst bei 99,9% eine solche Grenze gezogen wird. Freilich mag es geeignet scheinen, die Grenze so zu wählen, dass mit den sonstigen, insbesondere das Überleben und den Nutzenerwerb des Individuums betreffenden empirikbasierten Erwägungen eine möglichst vollkommene Konsistenz gewahrt bleibt und Willkür und Beliebigkeit ausgeschlossen sind, sowie, dass sie im Lichte der bisherigen Erfahrung hoch genug ist, um die Fehlerquote zukünftiger Korrelatbildungen gering zu halten, und niedrig genug, um die fortdauernde faktualkorrelative Produktivität der Empirik zu gewährleisten. Solche Grenzziehungen sind aber eben nicht rein empirikbasiert, sondern beruhen primär auf praktischer Notwendigkeit als Kriterium, wie sich beinahe schon bei flüchtiger Betrachtung erweist:

Alle theoretische Notwendigkeit ist praktische Notwendigkeit, wenn auch nicht alle praktische Notwendigkeit theoretische Notwendigkeit. Praktische Notwendigkeit kann subjektiv oder eine spezielle Art der Naturnotwendigkeit und somit für den Diskurs weitgehend irrelevant sein sein (subjektive Erfahrung epistemischen Zwangs). Hier aber kann nur objektive Notwendigkeit relevant sein. Objektive praktische Notwendigkeit nennen wir ethische Notwendigkeit.

Ist aber theoretische Notwendigkeit wirklich nicht vielmehr der Zwang für die innere Automatik, anlässlich eines Notwendigkeitsurteils ein bestimmtes Korrelat zu bilden? Immerhin funktioniert empirisches Urteilen auch bei Kleinkindern und in Grenzen auch bei so einigen Tieren und führt bei ihnen vermutlich zur Bildung von Faktualkorrelaten, und wir selbst bilden täglich große Mengen an Korrelaten, ohne jedes Mal bewusst vor einer Entscheidung zu stehen, wiewohl das Konzept der Entscheidung für alles Ethische unabdingbar ist. Zu diesem möglichen Einwand ist zu sagen, dass sich solches in der Tat als theoretische Notwendigkeit bezeichnen lässt bzw. sich diese Bezeichnung so verstehen lässt. Ihr Zustandekommen hat nicht einmal andere Voraussetzungen als die Notwendigkeit, mit welcher wir es hier zu tun haben. Sie ist jedoch lediglich diejenige Notwendigkeit, die sich der sekundären Selbstheit des Individuums darbietet. Diese kann sich nicht immer dagegen wehren, aufgrund eines Notwendigkeitsurteils ein entsprechendes Faktualkorrelat zu bilden. Die primäre Selbstheit hat hingegen die Wahl, aus einem Urteil hinsichtlich der Bildung von Korrelaten, ja u.U. sogar hinsichtlich der Auflösung naturnotwendig zustandegekommener Korrelate, die diesem Urteil entsprechenden oder aber andere Konsequenzen zu ziehen.88 Eine denkbare Situation, in welcher die primäre Selbstheit vor eine solche Wahl gestellt wird, ist, dass die Automatik zu einem Ergebnis kommt, welches in seinen Implikationen oder zu erwartenden Konsequenzen den Neigungen der sekundären Selbstheit zuwiderläuft (Konflikt zwischen Theorie- und Praxis-Automatik) und sich beide gegenseitig in der Etablierung oder Auflösung eines Korrelates behindern, so dass der primären Selbstheit die Rolle eines Schiedsrichters zukommt. Ebenfalls denkbar ist eine prinzipielle Erzogenheit des Individuums (insbesondere infolge von Selbsterziehung), so häufig wie möglich und angemessen der primären Selbstheit kurz vor der Bildung eines Faktualkorrelats das letzte Wort haben zu lassen. In Bezug auf die primäre Selbstheit ist die zuvor rein prozedurale Notwendigkeit nun eine ethische Würdigkeit. Und im abstraktiv-dialektischen Diskurs sprechen sich ja die Teilnehmer idealerweise gegenseitig als verantwortliche Personen an und nicht als Automaten oder rein instinktgesteuerte Tiere, so dass ausnahmslos jeder (gleich ob berechtigte oder unberechtigte) Appell an das deskriptive Urteilsvermögen des Gegenübers zugleich einen Appell an seine ethische Vernunft darstellt.

Ethik und die eigentlichen Objekte des Geistes

[§37] Es lässt sich feststellen89, dass sich Wertschätzung und alle übrigen inneren Haltungen mit scheinbar außenwirklichem Objekt ontologisch immer auf einen bloßen Begriff beziehen, egal, ob ein außenwirkliches Objekt existiert oder nicht.

Wenn wir also sagen, eine reale Person B sei das Objekt der Wertschätzung einer Person A, dann übersehen wir entweder den zwischengeschalteten Begriff, oder wir begeben uns bewusst oder unbewusst in die intentionsbestimmte Perspektive, oder die Aussage ist lediglich eine Abkürzung von: Ein Individualbegriff, dem eine reale Person B entspricht, ist das Objekt der Wertschätzung einer Person A.

In der Ethik ist die intentionsbestimmte Perspektive relevant, d.h. als Wertschätzung der realen Person kann diese nur gewertet werden, wenn sie sich aus dem Satz |Person X ist würdig| ergibt und nicht bloß aus dem Satz |Der Begriff zu Person X ist würdig|. Dennoch ist auch in der Ethik die andere Perspektive im Sinn zu behalten, zumal sich nicht ausschließen lässt, dass sie da irgendwo doch noch eine Rolle spielen wird.

Charakteristika des Würdigkeitsbegriffs

[§38] Der Würdigkeitsbegriff bildet die Drehachse aller möglichen objektiven Ethik. Darum sei dies die geeignete Stelle, sich einen Überblick auf ihn und seine Implikationen und Charakteristika verschaffen, oder zumindest, seine Transzendentalität (Intellektualität), Apriorizität, Ontizität und Elementarität sicherzustellen oder wenigstens in Erinnerung zu rufen.

Abgrenzung von sinnlichem Wert

Wie sehr Würdigkeit von sinnlichem Wert abzugrenzen ist, kündigt sich schon in der Unterschiedlichkeit des Bezugs des Subjekts auf die (sich) durch sie aus(zu)zeichnenden Gegenstände an, was sich auch in der Redeweise niederschlägt: Die sinnliche Instanz empfindet etwas als schön (sinnlich „würdig“), doch die intellektuelle Instanz befindet (beurteilt) etwas als „schön“ (transzendental würdig).90 Einen Grundsatz wie, dass wenn X als Subkategorie begrifflich Y angehört und Y „schön“ ist, dann notwendigerweise auch X „schön“ ist, gibt es für das sinnliche Empfinden nicht, für den wertenden Intellekt schon. (Dass rhetorische Vertauschungen der hier ausschlaggebenden Wörter metaphorisch zu verstehen sind, dürfte im Übrigen klar sein.)

Objektivität und Intellektualität

Der Begriff der Würdigkeit ist ein Begriff des Intellekts, denn er ist ganz klar auf Objektivität ausgelegt. Während ich nämlich sagen kann: „Dieser Joghurt hat einen guten Geschmack“, und dies auch relativieren kann: „Er hat für die meisten Menschen einen guten Geschmack“, ist es aber auffallend unsinnig, wenn ich dann auf Basis desselben (!) Gutheitsbegriffs sagte: „In Wirklichkeit ist sein Geschmack aber nicht gut“ (in Bezug auf den Geschmack als solchen, nicht auf eventuelle Begleiterscheinungen). - Derweil kann ich aber stets fragen und sagen: „Besitzt er Würdigkeit auch wirklich?“ bzw. „... Wert...?“ / „Hat er überhaupt einen echten Wert?“ / „Für die meisten Menschen hat sein Geschmack einen großen Wert, doch in Wirklichkeit ist er wertlos.“

Vom Würdigkeitsbegriff als ultimativer Erkenntnishorizont, als Hintergrund allen objektiven Urteilens, war ja schon die Rede (Eintrag §31). Dieses Charakteristikum zusammen mit seiner Intellektualität, die sich auch darin erweist, dass er nicht nur Gegenständen der Erfahrung, sondern, anders als z.B. Röte oder Intensität, auch intellektualen Abstrakta zugeordnet werden kann, begründet  alsdann seine Transzendentalität.

Gradualität

Die Gradualität von Würdigkeit bzw. der Gradualismus des Würdigkeitskonzepts ist offensichtlich. Ohne graduelle Variabilität anstelle überall absoluter Würdigkeit wäre in der von Handlungskonflikten durchzogenen Realität kein ethisches Handeln möglich. Dies untermauert unser Egalbegriff: Es lässt sich sagen: Dem moralischen Menschen ist das (Konzept des) Würdige(n) nicht egal. (Dies ist wohl eine bessere Formulierung als: „Er interessiert sich für das Würdige.“) Dem unmoralischen ist es egal. Das Bemerkenswerte in diesem Zusammenhang ist, dass man über Dinge, deren Wert zur Diskussion steht, sagt, sie seien einem „egal“ bzw. nicht „egal“, alternativ dazu, dass man ihnen einen oder keinen Wert beimesse. Gemäß unserer allgemeinen, sich in der Sprache niederschlagenden Intuition wissen wir offenbar, dass die unethische Haltung einer Person darauf beruht, dass sie irgendetwas zu Unrecht mit etwas Anderem gleichgesetzt hat (frz. „egal“ = dt. „gleich“, vgl. dt. „gleichgültig“). Die „Unhaltung“ des unethischen Menschen besteht darin, dass ihm das Würdige (zu) egal ist, d.h. seinen Wert in der Hierarchie seiner persönlichen Wertbeimessungen (S) dem Wert von Anderem zu sehr angeglichen hat.

Anamnesis: Fundorte des Würdigkeitsbegriffs

Mindestens ebenso wichtig wie die Charakteristika des Würdigkeitsbegriffs zu betrachten, ist, ihn aus dem Nebel der Intuition in die Klarheit des Hauptbewusstseins zu heben. Besonders kann dies bewerkstelligt werden, indem u.a. indem er an seinen Fundorten eben dieser Intuition gezielt vorgeführt wird.

a) Das Konzept des Verdienens: Jeder Mensch dürfte fähig sein, es für denkbar zu halten, dass jemand oder eine Sache etwas, das er ihm/ihr auf der emotionalen Ebene nicht gönnt, gleichwohl verdient, und zwar objektiv verdient, d.h. es verdient, weil es so ist, und nicht, weil er oder sonst irgendjemand etwas möchte oder braucht. Für die Relevanz dieses Sachverhalts ist es nicht nötig, dass er tatsächlich meint, jemand oder eine Sache verdiene etwas in diesem Sinne, ja nicht einmal, es habe jemals so jemanden oder eine solche Sache gegeben oder werde es jemals geben; vielmehr genügt es, dass er fähig ist, dies für denkbar zu halten. Denn dann hat er zweifellos einen Begriff von objektiver Würdigkeit, was ja nicht davon abhängt, ob er tatsächlich irgendeinem Gegenstand Würdigkeit zuordnet oder nicht.91

Etwas zu verdienen, bedeutet nämlich, einen hinreichenden Grund zu haben, es zu bekommen. Da dieser Grund offensichtlich kein Kausalgrund und auch sonst keine andere, mit einem Namen außer dem der Würdigkeit oder einem Synonym dazu verknüpfte Art von Grund ist, bleibt nur, ihn entweder namenlos zu lassen, oder eben Würdigkeit oder synonym zu nennen. Immerhin ist die Formulierung, etwas sei einer Sache würdig, im allgemeinen Sprachgebrauch und im Wesentlichen bedeutungsgleich mit der Aussage, dass es sie verdiene.

Nichtsdestotrotz sind die Parallelen, welche der Würdigkeits- zum Begriff des Kausalgrundes aufweist, bemerkenswert (mehr dazu unten).

b) Moralische Sozialisation: Im Zusammenhang mit dem Phänomen der entkoppelten Konditionierungen (s. Eintrag §39) finden sich so einige Beispiele, welche die Annahme des grundsätzlichen Besitzes des intellektuellen Wertbegriffs bei praktisch jedem Menschen Weise untermauern. Als ein solches Beispiel lässt sich das folgende heranziehen:

In der berberischen Kultur der ländlichen Gebiete Nordafrikas, wo man teilweise noch heute - auch bei feierlichen Zusammenkünften - auf dem Boden statt auf Stühlen und Sofas sitzt, existierte zumindest bis vor Kurzem noch ein aus europäischer Sicht zunächst sehr merkwürdiges, strenges (aber nicht mit Strafen bewehrtes) Tabu, nach welchem es dezidiert verwerflich ist, über die (manchmal ausgestreckten) Beine auf dem Boden sitzender und auch sonst nicht über sitzende oder liegende Menschen - gleich wie vorsichtig - hinwegzusteigen, um an irgendein Ziel zu kommen. Dies wurde Kindern, sobald sie es erstmals versuchen und verbale Untersagungen zu verstehen imstande sind, schon früh eingeschärft, so auch mir. Das Tabu wurde uns aber nie erklärt, weder religiös (z.B. Wille Gottes) noch magisch (Anziehung von Unglück) - es stellte sich also vollkommen „säkular“ dar -, noch hinsichtlich seines weltlichen Nutzens. Auf Nachfragen kam allenfalls die lapidare Antwort, die verpönte Handlung sei „schlecht“ oder „nicht gut“. Der ursprüngliche Sinn des Tabus ist zwar sicherlich rein utilitärer Natur: Die Gefahr unkontrollierter Beinreflexe von Sitzenden mit z.B. altersbedingt empfindlichen Gelenken, des Stolperns, der gegenseitigen Verletzung, der Verbrennungen mit heißen Flüssigkeiten und der Verursachung von Schmerzen bei sich oder den eigentlich zu hofierenden Gästen liegt für den Erwachsenen auf der Hand, nicht aber für Kinder, die beim Spielen miteinander derartige Erfahrungen trotz ähnlicher Bewegungen kaum machen. Das Tabu wird ihnen jedoch begründungslos eingeschärft, meist im schlichten Kleid der banalen Formulierung: „Steige nicht über Menschen hinweg!“ Das Kind sieht an dem Tabu weder das Nützliche, noch erkennt es eine besondere Schädlichkeit darin, ihm zuwiderzuhandeln. Auch wenn ältere Menschen auf die Einhaltung der Regel mit besonderem Nachdruck bestehen, so sind ihm Beschwerden wie Kniearthrose, unbehandelte Meniskusschäden und andere Dinge, an denen ältere Menschen besonders in medizinisch unterversorgten Gebieten leiden, doch unvertraut, und es kann ihre Empfindlichkeiten, im Rahmen derer z.B. manch einer von ihnen in dem betreffenden Augenblick seine Knie reflexartig hochziehen könnte, auch nicht nachvollziehen.

Dass die Sitzkultur in Verbindung mit all den genannten Faktoren die Etablierung einer allgemeinen Norm erfordert, dürfte klar sein, und eine solche ist in diesem speziellen Fall ja offenbar entstanden. Die Etablierung der Norm ist umso mehr angezeigt, als der Aufwand ihrer allgemeinen Befolgung im Vergleich zu den Übeln und Aufwänden, die nur ein einziger damit vermeidbarer Unfall nach sich zöge, verschwindend gering ist. Ihre Unabhängigkeit von expliziten Begründungen, wenn nicht gar ihre dezidierte Freiheit von solchen erscheint jedoch, soweit möglich, ebenso nötig, denn:

Daraus folgt: Zumindest einfache, z.B. vormoderne Gesellschaften, brauchen, um effizient zu funktionieren, Normen, die nicht erklärt werden, was wiederum eine natürliche Bereitschaft im Menschen voraussetzt, solche Maximen zu akzeptieren, da sonst die Gefahren, welche sie auszuschließen bezwecken, schlicht nicht ausgeschlossen werden können, u.a. eben wegen eines gewissen „Schlaumeier“-Risikos.

Wenn aber nicht allein Begründungen das sein können, was möglichst viele Menschen sich an eine Norm halten lässt, fehlt ein geistiger Faktor jenseits von Nutzen- oder Wohlseligkeitserwägungen, durch den dies möglich ist. Dies gilt hier um so mehr angesichts des in §39 noch anzusprechenden Sachverhalts der Unableitbarkeit entkoppelter Konditionierungen aus der Grundimplikation des Vergegenwärtigungs- und Interaktionsbestrebens, dem das betrachtete Tabu u.U. sogar zuwiderläuft. Angesichts der zu erwartenden Kollision mit anders gerichteten Erwägungen und Neigungen muss jeder sich und Menschen einander irgendwie wenigstens möglichst leicht „einreden“ können, dass es wirklich wichtig sei, sich an die jeweilige Norm zu halten. Damit das Individuum die Norm auch dann als befolgungswürdig einstuft, wenn niemand zuschaut, muss es die Norm als objektiv annehmen können, genauer gesagt: als wegen des Faktors objektiv. Auf der Suche nach diesem Faktor bietet sich als Anhaltspunkt in unserem konkreten Beispiel, dass die Einschärfung erfahrungsgemäß nicht lautet: „Steige nicht über die Beine hinweg!“, sondern: „Steige nicht über Leute hinweg!“ Auf diese Weise wird nahegelegt, dass die Direktive irgendetwas mit den Menschen (wenigstens den erwachsenen) zu tun hat, und dass Menschen grundsätzlich irgendetwas an sich haben, auf dem der Sinn der Direktive beruht. Besonders als Kind, aber auch allgemein, nimmt man jedoch am Menschen nichts sinnlich wahr, was als solche Grundlage für eine solche Norm oder überhaupt irgendein Sollen in Frage käme. Weder seine augenscheinliche Substanz noch die Form derselben scheinen in Frage zu kommen, bzw. die Wahl von irgendetwas davon wäre völlig zufällig bzw. willkürlich und rational nicht einmal im Ansatz zufriedenstellend. Warum darf man nicht über Menschen hinwegsteigen, über Tiere hingegen schon? Es gibt viele sinnlich wahrnehmbare Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, keiner von ihnen eignet sich vor dem Erkenntnisvermögen als Begründungsfaktor besser als die anderen, und es liegt nichts im Geist, was irgendeinen davon als solchen einleuchtend sein lässt. Der objektive Geist kann das Sollen (V) also weder aus dem Sein (V), noch aus der Form oder der Substanz des Menschen herleiten. Eine im Rahmen „magischen Denkens“ stehende Befürchtung eines möglichen Schadens führt als Erklärung übrigens nicht weit, und zwar nicht nur, weil ein solcher so gut wie nie angegeben wird, sondern auch, weil im Umfeld der religiösen, monotheistischen Kultur ein solcher verborgener Fluchmechanismus als von Gott bestimmt betrachtet würde und sich die Erklärungsschwierigkeit lediglich von der Norm auf das Tun des weisen Schöpfers und das Glauben an dieses Tun verlagern würde, d.h. sich dann die Frage stellte, warum Gott eine solche „Strafe“ für eine Behandlung von Menschen eingerichtet hätte, die ihnen nicht einmal zu schaden scheint, und ob hieran überhaupt zu glauben wäre; zu guter Letzt würden Kinder im Zuge ihrer Lebhaftigkeit die Behauptung eines solchen Mechanismus schon bald - sei es an sich oder an anderen Kindern - als empirisch schlicht unhaltbar erkennen.

Für uns allerdings ist es ein recht fruchtbares Dilemma, dass das Kind, um sich die Norm plausibel zu machen, davon ausgehen muss, dass da etwas am Menschen als solchen ist, das geeignet ist, eine Grundlage dafür zu sein, während jedoch alles, was mit der Materie zu tun hat (ihr Dasein, ihre Form, ihre Struktur, ihre Substanz), ausscheidet. Versetzen wir uns in das Kind hinein (was zumindest dem Verfasser aufgrund seiner persönlichen Kindheitserfahrung bezüglich des vorliegenden Beispiels recht leicht fällt92), stellen wir fest, dass das Individuum aus diesem Dilemma heraus dem Menschen dieses „etwas“ - sozusagen als sinnlich unzugängliches Attribut - zuordnet und sich damit solange als Grundlage für die Norm zufrieden gibt, wie es die Zuordnung aufrechtzuerhalten vermag. Auch wenn es dieses „etwas“ nicht benennen kann, so ist es doch zweifellos etwas, das im Geist zur menschlichen Materie, Form, Substanz und Ontik hinzukommt, und zwar (auch) als Attribut einer Entität. Und dass das Individuum überhaupt fähig ist, sich schon bei der Annahme seines Vorhandenseins damit - im Unterschied zu allen anderen Eigenschaften - als allgemeingültige Grundlage zufriedenzugeben, spricht dafür, dass wir es hier mit einer eigenen, apriorisch im Geist enthaltenen Kategorie von Begriff zu tun haben. D.h. es gibt bereits im Voraus etwas im menschlichen Geist, was einer Entität in ähnlicher Weise wie eine Eigenschaft zugeordnet werden kann, und womit der objektive Geist sich prinzipiell zufrieden gibt, es einer Norm, einem Sollen oder einem Tabu jenseits von Nutzen- oder Schadenserwägungen zugrunde zu legen.

Bei der Betrachtung, dass das Individuum sich das Tabu damit erklärt, dass der Mensch ein Attribut besitze, das andere Lebewesen aus welchen Gründen auch immer nicht besitzen und ihm das einzige, in seinem Geist zur Begründung (Rechtfertigung) von Normen verfügbare Attribut zuordnet, geht es nicht darum, ob dieses dem Menschen tatsächlich zukommt oder die betreffende Norm tatsächlich zu dem Attribut passt oder doch in jeder Hinsicht sinnlos und willkürlich ist, oder ob sich das Individuum lediglich irgendwelche Zukommnisse einbildet, sondern dass der objektive Geist das Attribut als Begriff kennt und dieser in ihm als Kategorie a priori vorhanden ist. Immerhin begründet das Vorhandensein dieses Begriffs und seine Akzessibilität die Klassifizierbarkeit des Individuums als verantwortliches Wesen.

Signifikant dafür, dass sich der Geist die Zulässigkeit der Zuordnung dieser Würdigkeit zu Entitäten als rechtfertigende Grundlage von Normen nicht einbildet, ist, dass auch der kindliche Geist sich offenbar mit nichts Anderem, nicht Form, nicht Materie, ja nicht einmal wirklich Nutzen oder Schaden, als objektive Begründung für eine Norm zufrieden gibt, sondern sich erst dann vorläufig zufrieden stellen kann, wenn er im Rahmen einer Annahme (und daher gleichwohl zunächst nur vorläufig) das Würdigkeitsattribut zuordnet. Der Geist ist bei der Operation durchaus objektiv und bildet sich die „Wirkung“ des Attributs nicht ein, immerhin hat er schon eine Vergleichsoperation ausgeführt und diese Annahme unter allen Annahmen bevorzugt. Das Vorliegen einer vorausgehenden Disposition, dieses Attribut Normen zugrunde legen zu können, wird deutlich.

Oder beruht die besagte Zufriedenheit des Intellekts vielleicht nur auf der Unkenntnis der Essenz und der Aufschiebung ihrer Erkenntnis und konstruiert das Individuum lediglich einen Kontextualbegriff (|worauf Tabus beruhen| o.ä.), ist also nur eine vorläufige Zufriedenheit aus Alternativlosigkeit? Dagegen spricht zweierlei: 1.) die Tiefe der Zufriedenheit bzw. der Eindruck der natürlichen Plausibilität bzw. die Selbstveständlichkeit, mit der die Norm aus dem Zukommnis des Attributs (unter Annahme seines Zukommnisses) folgt; 2.) der besondere Bewusstseinszustand der Achtung, der beim Gedanken an die Eigenschaft und ihren Träger eintritt.

Der Begriff und jene Erklärungsweise sind in wohl allen Traditionen gegenwärtig und machen sich in traditionalistischen, einfachen Gesellschaften spätestens bemerkbar, wenn eine ihrer Hauptsitten als unmoralisch, unsinnig oder unnütz kritisiert wird. Die hauptsächliche argumentative Reaktion, als Mohammed  den Leuten seines Volks gegenüber die Moralität und den Nutzen ihrer Anbetung von Statuen in Frage stellte, war, die Vorväter in Erinnerung zu rufen und das Ablassen von den Sitten jener als Ungeheuerlichkeit darzustellen.93 Es ist offensichtlich, dass sie, wie viele andere Völker auch, einer Sitte und dem Tabu des Ablassens von ihr eine von ihnen den Ahnen zugeschriebene Heiligkeit oder Hochrangigkeit zugrundelegten. Einer moralischen Kritik begegneten sie mit einer gegenläufigen (wenngleich fehlgeleiteten) Moralisierung, die ohne die ebenso offensichtliche wie implizite, Entitäten (hier den Ahnen) geltende Zuschreibung einer gewissen, als Begründung von Moral geeigneten Eigenschaft nicht auskam.

Übrigens liegt es wegen des Einverständnisses des objektiven Geistes mit Würdigkeit als Grundlage von Normen nahe, dass es relativ gleichgültig ist, ob das Imperativcharakteristikum mit dem Begriff der Würdigkeit identifizierbar ist oder nicht. Es würde genügen, wenn lediglich der Begriff der Würdigkeit im Fokus stünde, da diese dem Geist zur Plausibilisierung von Normen offenbar ausreicht und damit mindestens eine Quasi-Identität vorliegt. Dass hierdurch wiederum naheliegt, dass Imperative mit Korrelaten einhergehen, die diesen Begriff mit der Wertung von Entitäten gemeinsam haben, d.h. die den Entitäten zugeordnete Eigenschaft als Begriff auch in der Norm vorkommt und ihre Präskriptivität ausmacht, sollte allerdings auch klar sein.

c) Evolutionsprinzip: Es ist - besonders vor dem Hintergrund der eben gemachten Ausführungen zu den utilitären gesellschaftlichen Tabus - recht einleuchtend, davon auszugehen, dass in der Frühgeschichte der Menschheit die Leistungs- und Überlebensfähigkeit eines Volkes oder Stamms bedroht war, wenn jeder Befehl der Entscheidungsträger und jede vorherrschende Sitte hätte hinsichtlich der Nützlichkeit für das Kollektiv oder das Individuum hinterfragt oder bzw. begründet werden müssen, wiewohl gerade diese Befehle und Sitten im Allgemeinen eben dem Zusammenhalt, dem Überleben des Kollektivs und der Zunahme und dem Erhalt seines Potentials dienten. Bis zu einem gewissen Grad konnte die Befolgung jener Befehle und Sitten durch die Etablierung von Formen des Aberglaubens und die damit verbundene allgemeine Einflößung irrationaler Ängste sichergestellt werden, doch braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass sich Aberglauben als Grundlage  der Normen einer Gesellschaft langfristig kontraproduktiv auswirkt und allenfalls für sehr kleine Populationen effektiv ist. Dies legt nahe, dass ein den Würdigkeitsbegriff kongenital grundsätzlich entbehrendes Kollektiv einen selektionsbiologischen Nachteil gegenüber demjenigen Kollektiv hat, dessen Individuen sich im Unterschied zu seinen an Befehle und Sitten halten, (wenigstens unter anderem) weil sie ihnen objektive Würdigkeit anhaften sehen (können). Langfristig sollten sich darum allein schon aus selektionsbiologischen Gründen auf diesem Planeten weit überwiegend oder ganz solche Völker durchgesetzt haben, denen jenen Begriff zu haben angeboren ist.

Wir alle dürften ihn also schon aus diesem Grunde haben, ohne ihn jedoch unter Veweis auf seinen hierdurch möglicherweise recht naturalen Hintergrund marginalisieren zu können, denn:

Mit dem genannten selektionsbiologischen Hintergrund wäre die Elementarität des Begriffs relativ gut gesichert, da er im Falle seiner Zusammengesetztheit bloß aus profanen Naturalbegriffen „durchschaubar“ wäre und hierdurch die in ausreichender Weise zum langfristigen Selektionsvorteil führende Wirkung missen ließe. Da außerdem jeder Elementarbegriff ontisch ist, stünde damit auch seine Ontizität fest, wie auch seine Apriorizität (zumindest im Sinne einer Primordialität) im Angesicht seiner Unerworbenheit.

d) Freundschaft: Es sollte unstrittig sein, dass der Begriff der Freundschaft mindestens vom Begriff der gegenseitigen Wertschätzung abhängt, so dass jeder leicht einsehen kann, dass es Freundschaft ohne gegenseitige Wertschätzung nicht geben kann, ja der Begriff von Letzterer den Kern des Freundschaftsbegriffs bildet (wenn auch nicht die alleinige Komponente). Diese Unstrittigkeit alleine macht Freundschaft noch nicht zum Fundort des objektiven Würdigkeitsbegriffs. Relevant sei hier übrigens das Konzept der tiefen Freundschaft. Wer nicht gerade ungewöhnlich nachsichtigen und vielleicht auch naiven Charakters ist und sich in einer solchen zu befinden glaubt, gleichgültig, ob der Freund oder die Freundin dem selben Geschlecht wie dem eigenen angehört oder es sich um eine sogenannte platonische Freundschaft handelt, wäre unabhängig von vorherigen Absprachen zweifellos tief enttäuscht und erzürnt, wenn er erführe, dass der „Freund“ den Umgang mit ihm die ganze Zeit über zum Zwecke der Herbeiführung einer Liäson pflegte. Dies, obwohl gemeinhin auch von romantischen oder sexuellen Beziehungen angenommen wird, dass sie auf Wertschätzung beruhten oder gewissermaßen ein Ausdruck dafür sind. Doch ist unabhängig von seiner Höhe die Natur oder die Basis des Wertes, der in solchen dem anderen beigemessen wird, dermaßen eine andere, dass seine Beimessung dem Enttäuschten offensichtlich ebensowenig etwas bedeutet wie das Fehlen derselben. Er fühlt sich eben nicht wertgeschätzt, vielmehr fühlt er sich hintergangen und ausgenutzt. Folglich ist der Wert, auf welchem in seinem Denken oder seiner Einstellung wahre Freundschaft beruht, von ganz anderer Essenz als derjenige, auf welchem romantische und sexuelle Beziehungen (letztlich) beruhen. Somit hat er einen Begriff von einem nicht-sinnlichen, nicht auf Selbstwertschätzung zurückgehenden Wert. Und jeder von uns, der die Haltung dieses Enttäuschten nachvollziehen kann, hat den Begriff ebenfalls.

Derweil soll nicht geleugnet werden, dass es Freundschaften gibt, die hauptsächlich deswegen bestehen, weil jeder der beiden vom anderen für sich profitiert. Diese sind jedoch keine tiefen, sondern oberflächliche Freundschaften, die mit dem Ende der Nützlichkeit oder sinnlichen Dienlichkeit sterben. Es wäre nicht einmal erheblich, wenn das Konzept der tiefen Freundschaft in der Realität überhaupt keine Entsprechung hätte und in dieser Welt jeder Freund den anderen ausschließlich dem eigenen Nutzen oder der eigenen Wohlseligkeit zuliebe zum Freund hätte. Die Signifikanz des Konzeptes ist hiervon unabhängig, denn für die Aufzeigung des Begriffsbesitzes genügt es, dass die enttäuschbare Person der Meinung zu sein imstande ist, die andere Person hege für sie eine Wertschätzung auf jener besonderen Ebene.

e) Hochmut: Auch wenn wir selbst hoffentlich nicht hochmütig sind, so können wir uns doch gut denken, wie eine hochmütige Person denkt, und was sie zur Rechtfertigung der eigenen Überheblichkeit (in welcher sich Hochmut typischerweise äußert) zugrundelegt. Wir können uns alle denken, dass sie sich für etwas Besseres, für etwas Wertvolleres, für etwas Würdigeres als andere Menschen hält. Die Möglichkeit dieses Nachvollzugs wäre dem Nachvollziehenden nicht ohne den Würdigkeitsbegriff möglich. Die Signifikanz dieser simplen Betrachtung speist sich besonders daraus, dass der Wert, den sich der Hochmütige zuschreibt, und dessen Anmaßung seinen Hochmut ausmacht, offensichtlich kein sinnlicher Wert ist. Sich z.B. physisch schöner zu finden als alle anderen, mag zwar kurios anmuten und sicherlich oft sogar einem gewissen Hochmut entspringen, ist aber in sich selbst noch kein Hochmut, sondern allenfalls Narzissmus94, welcher von Hochmut fein unterschieden sei. Hochmut läge in diesem Fall erst vor, wenn diese sinnliche Selbsteinschätzung der Person zur Begründung der Zuschreibung eines höheren Werts diente, d.h. den eigenen (echten oder eingebildeten) sinnlichen Wert missbraucht, um sich für etwas Besseres zu halten, so dass sie erst über diesen Umweg meint, sie dürfe sich darum über andere erheben und sich besondere Haltungen erlauben, und andere müssten sich deswegen auf eine bestimmte Weise zu ihr verhalten, d.h. aus der eigenen, vermeintlich höheren Würdigkeit die Würdigkeit eines besonderen Verhaltens ihr gegenüber ableitet.

f) Aktivismus: Sofern jemand zum Kreis der sogenannten (säkularen) „Aktivisten“ gehört, sollte er den Begriff besonders leicht in sich finden können, solange sein Aktivismus auf echter Überzeugung beruht, und nicht lediglich auf Mitläuferschaft, Egoismus oder anderen geringwertigen Faktoren.

g) Transzendentale Ästhetik: Sich selbst nach einer Entsprechung der Schönheit von Erscheinungen für intellektuale Begriffe, besonders Handlungskategorien, zu fragen und die Bemühung, sich das dem Begriff einer Schönheit unsinnlicher (nicht unsinniger!) Begriffe (nicht Bezeichnungen!) am nächsten Kommende zu denken, kann geradewegs zur kognitiven Anamnesis des Begriffs der Würdigkeit führen.95

Parallelen zum Begriff des Kausalgrundes

An mehr als einer Stelle, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Konzept des Verdienens, tritt in den vorliegenden Kontemplationen das Begründungspotential des Begriffs der Würdigkeit zum Vorschein. Bemerkenswert ist seine diesbezügliche Analogie zum Kausalbegriff des faktualen Urteilsvermögens:

Man kann auch sagen, dass die Analogie zwischen dem Begriff der Würdigkeit und dem Begriff der Wirksamkeit bzw. Kraft besteht (immerhin verleiht die Zuordnung von Kraft einem Gegenstand wenigstens den Status einer potentiellen Ursache). Dieser trägt als wichtigstes Element zur Begründung von Fakten bei, der andere zur Begründung von Normen.

Beispiel: Eine Scheibe sei nach dem Kontakt mit einem schnell fliegenden Stein zerbrochen. Der Geist mag zunächst die Geschwindigkeit des Steins als Begründung ins Auge fassen, doch gelangt er schnell zur Überzeugung, dass Geschwindigkeit weniger notwendig als Kraft ist, um das Faktum der zerbrochenen Scheibe zu begründen. Die Kraft oder Wirksamkeit des Steins wird also zur Begründung für das Faktum der zerbrochenen Scheibe referenziert.

Zur besonders deutlichen Demonstration der Analogie laute nun das Faktum, dass die Scheibe trotz des schnell fliegenden Steins eben nicht zerbrochen ist. Dieses Faktum begründet der Geist ebenfalls mittels des Kraftbegriffs, den er hier diesmal für die Scheibe instantiiert. Die (Widerstands-)Kraft der Scheibe („Stärke“) dient hier zur Begründung für das Faktum, dass die Scheibe nicht zerbrochen worden ist. Demgegenüber würde der Scheibe Würdigkeit zuzuordnen zur Begründung für die Norm dienen können, dass die Scheibe nicht zerbrochen werden soll.

So hat das ethische Konzeptpaar Würdigkeit-Fürgrund sein empirisches Analogon in dem Konzeptpaar Wirksamkeit-Ursache. Als logisches Analogon käme das Konzeptpaar Notwendigkeit-Bedingung in Betracht.

Vom Phänomen zur Norm

[§39] Zwischen den beobachtbaren Phänomenen des Seins und den zu sondierenden Normen des Sollens liegt eine scheinbar unüberwindbare Kluft, auf welche bekanntlich schon David Hume (gest. 1776) aufmerksam machte: In every system of morality which I have hitherto met with, I have always remarked, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz’d to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, 'tis necessary that it shou’d be observ’d and explain’d; and at the same time that a reason should be given; for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it...96 - Dennoch liegt in gewissen Phänomenen und kausalen Implikationen, in rechter Verbindung mit dem Ursatz der Ethik und dem Konzept der Wertschätzung, der Schlüssel zur Überwindung dieses bodenlos scheinenden Abgrunds, wie sich in diesem Eintrag, so Gott will, erweisen wird.

Vom Feuerwerk der ethischen Sätze beim Zusammentreffen eines ethischen Satzes mit der Realität und den empirischen Möglichkeiten des Subjekts war ja schon die Rede (Eintrag §29). Offenbar ist davon auszugehen, dass die Zuerkennung von Würdigkeit mehr oder weniger zwangsläufig Folgewertschätzungen, die sich im Subjekt zu ethischen Sätzen etablieren, nach sich zieht. Nun lässt sich oft relativ einfach sagen, welches Verhalten oder welche Folgewertschätzungen die Zuerkennung von Würdigkeit (Wertbeimessung, Wertschätzung) zu einem Gegenstand nach sich zieht, so dass ein Fehlen solcher Konsequenzen auf die Schwäche oder gar das Fehlen der ursprünglichen Wertschätzung hinweist, sofern keine zwingenden Faktoren das Zustandekommen jener Konsequenzen beeinträchtigen oder verhindern. Je höher z.B. die Wertschätzung eines Buches (die auch  als abstrakte Wertschätzung, d.h. ohne es jemals gelesen zu haben, d.h. unabhängig von seinem genauen Inhalt, gehegt werden kann), desto häufiger und aufmerksamer wird es gelesen; je höher die Wertschätzung einer konkreten Pflanze, desto sorgfältiger wird sie gegossen und gepflegt; je höher die Wertschätzung eines Kindes, desto mehr wird es beschützt usw.

Was aber - zumal Lesen, Gießen und Beschützen recht unterschiedliche Dinge zu sein scheinen - lässt sich allgemein sagen? Was ist die allgemeine Regel, welche diesen Folgen zugrunde liegt und darum für jeden Gegenstand einer Wertbeimessung gilt? Auf dem Weg zur Antwort auf diese Frage lassen sich dem Allgemeinen recht nahe kommende Beobachtungen und Implikationen97, die mit einer Wertbeimessung einhergehen, sammeln:

  1. Vermehrtes Denken an den Gegenstand
  2. Wahrnehmung des Gegenstandes wird angestrebt
    (bis zum dem Wertschätzungsgrad entsprechenden Maß in/mit möglichst allen Aspekten/Sinnen und möglichst häufig)
  3. Interaktion mit dem Gegenstand wird angestrebt98
    (z.B. Kommunikation; bis zum dem Wertschätzungsgrad entspr. Maß in/mit mglst. allen Aspekten/Sinnen und mglst. häufig)
  4. Nähe zum Gegenstand wird angestrebt
  5. Zugunsten des Gegenstands in der dem Grad seiner Wertschätzung entsprechenden Maß verlagerte (Re-)Allokation bzw. Aufwendung und Reservierung von Energie und sonstiger Ressourcen
  6. Annahme von allem, was mit ihm in einer der Wertschätzung nicht zuwiderlaufenden Weise irgendwie zusammenhängt, je enger, desto mehr, als (u.U. zusätzliches) Kriterium, es in Entscheidungssituationen zu bevorzugen
  7. Wertschätzung all dessen, was an den Gegenstand erinnert
  8. Wertschätzung der vom Gegenstand ausgehenden oder ausgegangenen Wirkungen und Erscheinungen
  9. Wertschätzung der Wertschätzung des Gegenstandes
    (auch der von der nicht eigenen Person ausgehenden)
  10. Wertschätzung von allem, was der Gegenstand (Nom.) wertschätzt
    (falls er eine Person oder etwas sie Stellvertretendes ist) 
  11. Wertschätzung von allem, was den Gegenstand (Akk.) ebenfalls wertschätzt
  12. Wertschätzung dessen, von dem er logisch oder empirisch abhängig oder verursacht ist
  13. Interesse an seinem Dasein bzw. der realitären Entsprechung seines Begriffs und Bestrebtheit, diese(s) herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten
  14. Interesse an seiner Vollkommenheit und Unversehrtheit
  15. Interesse an seiner Reinheit
  16. Tendenz zur gedanklichen oder realitären Verschönerung und Schmückung des Gegenstands
  17. Wertschätzung der Mittel zur Herbeiführung oder Aufrechterhaltung des Gegenstands
  18. Wertschätzung dessen, was ihn repräsentiert oder symbolisiert
  19. Der Position des Gegenstands in der Wertehierarchie des Subjekts entsprechende Intensität und Häufigkeit des Umgangs mit ihm bzw. der inneren oder äußeren Bezugnahme auf ihn, relativ zur Position der anderen Gegenstände
  20. Inkaufnahme von Nachteilen und Widrigkeiten
  21. Verknüpfung mit Emotionen und Gefühlsleben (Zuneigung, Empathie, Freude, Zorn, Abscheu etc.)

Zur bevorstehenden Exemplifikation sei vorab gesagt, dass die Relevanz dieser Implikationen nicht beeinträchtigt wird, wenn manchmal fraglich scheint, inwiefern der Pol des jeweiligen Beispiels im Würdigkeitsbegriff (und nicht etwa nur in einem psychologischen Mechanismus) besteht. Darauf wird in einem späteren Eintrag näher eingegangen.

Rekursivität

Zu beachten ist die Rekursivität dieses Effektspektrums, d.h. für eine Folgewertschätzung gelten wiederum dieselben Regeln wie für die Wertschätzung, der sie entsprungen ist, so dass die Folgewertschätzung Folge-Folgewertschätzungen nach sich zieht usw.

Dabei ist eine Folgewertschätzung stets schwächer als die ursprüngliche Wertschätzung, z.B. ist dem Individuum die Nähe des eigentlichen Wertgeschätzten stets mehr wert als das bloße Mittel zur Vergrößerung dieser Nähe. Verständlicherweise kann dadurch in der Kaskade der Folgewertschätzungen eine solche so schwach ausfallen, dass sie aufgrund der Effekte anderer, höherer Wertschätzungen nicht mehr bemerkbar ist. Und es kann vorkommen, dass ein stark wertgeschätzter Gegenstand eine entsprechend starke Folgewertschätzung mit sich bringt und letztere eine mit ihr in Konflikt stehende Folgewertschätzung eines schwächer wertgeschätzten Gegenstands normalerweise überlagert; sollte dieser zweite Gegenstand die Folgewertschätzung jedoch mit einem dritten (und sei es auch ebenfalls schwach) wertgeschätzten Gegenstand gemeinsam haben, verstärkt sich durch die hinzukommende Wertableitung diese Folgewertschätzung und kann evtl. ihrerseits die andere Folgewertschätzung überlagern (ohne andere Folgewertschätzungen anzutasten). - Entsprechend wenig also taugt ein Einwand, demzufolge es Beispiele gebe, in denen ein Teil der genannten Dinge nicht zum Vorschein komme.

Es ist damit zu rechnen, dass die Rekursivität noch höher ist, als diese Zusammenstellung den Anschein macht. Evtl. schickt es sich, diese Liste zu einem späteren Zeitpunkt auch jenseits der bevorstehenden Reduktion so zu konsolidieren, dass in ihr momentan vorkommende Begriffe wie die des Interesses, der Tendenz und der Anstrebung und anderes völlig im Konzept der Wertschätzung aufgehen oder in einen Rahmenbereich wie diesen zur Rekursivität deponiert werden, z.B. weil manches eher lediglich einen Modus dessen wiedergibt, was in die Zusammenstellung gehört.

Die Zusammenstellung wäre also gewisser struktureller Feinjustierungen und Redundanzbeseitigungen würdig, doch die gegenwärtige Form möge hinsichtlich ihres gegenwärtigen Zweckes ausreichen.

Rekollektion & Exemplifikation

Zu jedem der oben gesammelten Implikationen99 (S) lässt sich aus empirisch-anthropologischen Gründen mit Sicherheit sagen, dass sein Fehlen oder seine Schwäche im Normalfall (d.h. z.B. soweit keine Behinderungen vorliegen) auf das Fehlen der Wertschätzung des Gegenstandes oder ihre verhältnismäßige Schwäche hindeutet, da die Implikationen (S) erfahrungsgemäß typische Folgen einer Wertbeimessung sind:

Wer an einen Gegenstand nie denkt (1)100, misst ihm anscheinend keinen Wert bei, und so auch, wer ihn grundsätzlich weder sehen, hören oder fühlen noch sonstwie, direkt oder indirekt, wahrnehmen möchte (2), oder keinen interaktiven Umgang (soweit denkbar) mit ihm wünscht (3), oder seine Nähe ihm gleichgültig oder gar verhasst ist  (4), und ebenfalls kann von Wertschätzung kaum die Rede sein, wenn hinsichtlich der Reservierung und Investition von Energie vor und nach bzw. mit und ohne Wertbeimessung alles gleich ist (5). Diese Implikationen sind so offensichtlich, dass sich beispielhafte Belege für sie erübrigen.

Sodann wird sich der Verehrer eines Sportclubs beim Einkauf zwischen zwei Hemden, die abgesehen vom Emblem seines Vereins auf einem der beiden ansonsten in allen direkten und indirekten Aspekten gleich sind, also auch im Ausmaß der Ästhetik, im Normalfall zweifellos dasjenige mit dem Emblem bevorzugen (6).101 Es ist auch zur Genüge bekannt, wie sehr Menschen an Kleidungsstücken und anderen Objekten geliebter verstorbener Personen hängen, was soweit gehen kann, dass manche Eltern eines verstorbenen Kindes sein Kinderzimmer so eingerichtet lassen, als lebte es noch dort.102 Bestätigt wird das hier zugrundeliegende Prinzip durch Studien, welche seine Inversion demonstrieren, nämlich die tendentielle Abneigung von Menschen, etwas substantiell völlig Unproblematisches zu essen, weil seine äußere Gestalt an Aversionsbehaftetes erinnert,103 z.B. Pudding, der wie eine Darmausscheidung geformt ist, oder religiösen Juden und Muslimen angebotene Süßigkeiten in Gestalt von miniaturisierten Schweinen, (7). Das Autogramm einer prominenten Person an sich würde von jedem, statt sich dafür nahezu in Schlägereien zu verwickeln, nur als ziemlich wertloses Gekritzel angesehen werden, wenn jene Person nicht der Gegenstand der Verehrung Vieler wäre (8). Durch ein für den Geschmack des Publikums außergewöhnlich schönes Musikstück kann die Person seines Urhebers, besonders wenn sie Komponist und Interpret zugleich ist, enorme Beliebtheit erlangen, so dass ihr zweites Musikstück auch ohne vorherige Kenntnis seiner Beschaffenheit hohe Verkaufszahlen erreicht (8, 12).

Wir alle kennen die (durch Selbsterziehung abschwächbare) Enttäuschung, wenn jemand unsere Favorisierungen nicht nachvollziehen will oder kann. Der Mensch kann kaum der Neigung widerstehen, von sehr wertgeschätzten Gegenständen oder Personen zu schwärmen, was so weit geht, dass eine Person, in die sich jemand verliebt hat, umgangssprachlich sein „Schwarm“ genannt wird. (9).104 - Mindestens auf der subjektiven Ebene gilt ausnahmslos: Wessen Würdigkeit feststeht, der ist wertzuschätzen, und wer wertzuschätzen ist, dessen Wertschätzungen und Ablehnungen sind ebenfalls wertzuschätzen (solange nichts dagegen spricht), und wohl niemand kann die Wertschätzung eines Gegenstandes wertschätzen, ohne den Gegenstand wertzuschätzen, und niemand kann seine Ablehnung wertschätzen, ohne ihn abzulehnen. Beispielsweise ist die Erfüllung der teuren Wünsche der Tochter oder des Sohnes oft nichts als eine Folge der Wertschätzung des Gegenstandes der Wertschätzung der wertgeschätzten Person. Die Annahme der Religion des religiösen Lebenspartners vonseiten einer zuvor religionsfremden Person dürfte noch klarer erkennbar oder zumindest symbolhafter hierzu zählen (10).105 - Solange man die Befürchtung, dass eine Person, die dasselbe wertschätzt wie man selbst, den Erfolg der Anstrebung der Nähe des Wertgeschätzten auch nur ansatzweise gefährdet, als völlig abwegig einschätzt, nimmt sie bei ihrer Betrachtung unter dem Aspekt der gemeinsamen Wertschätzung im Auge des Betrachters an Wert zu. So sympathisieren Menschen miteinander, welche die starke Favorisierung einer TV-Serie, eines Künstlers oder einer Tierart gemeinsam haben.106 Erst wenn die Gefahr besteht, dass durch die andere Person die Zugänglichkeit des Wertgeschätzten reduziert wird oder auf sonstige Weise der Instinkt der Eifersucht angeregt wird, wird diese Implikation gewissermaßen neutralisiert. Solange ein Popstar für zwei Fans gleichermaßen unerreichbar ist, hegen sie ohne Weiteres seinetwegen Wertschätzung für einander. (In unmittelbarer Nähe zu ihm würden sie freilich - falls es sonst nichts in ihrem Leben gibt - langfristig zu erbitterten Konkurrenten werden.) Diese Implikation könnte man auch damit erklären, dass ein Mensch prinzipiell eher mit Menschen sympathisiert, die einem ähnlich sind, so dass es ein Ausdruck der Wertschätzung der eigenen Person wäre und unter Nr. 7 fiele, der Wertschätzung all dessen, was an das Wertgeschätzte erinnert. Dagegen wäre auch nicht viel einzuwenden, allerdings ist eine Unterscheidung zwischen der Wertschätzung aufgrund von statischen Eigenschaften und einer solchen aufgrund von Wertschätzungen vielleicht doch sinnvoll. Nichtsdestotrotz lässt sich auch dies reduzieren, wie gleich zu sehen sein wird (11). - Kinder lernen früh, dass es sich nicht schickt, mit Lebensmitteln (von denen das wertgeschätzte Leben ja scheinbar abhängig ist) zu spielen, auch wenn durch das Spiel von der Speise nichts in seinem Bestand bedroht ist und weder eine Hungersnot herrscht noch eine solche auch nur im Entferntesten zu befürchten zu sein scheint. Diesem Phänomen dürfte dasselbe Prinzip zugrunde liegen wie der tiefen Verbundenheit, die Menschen zu ihren Lebensrettern hegen, wie z.B. Patienten zu ihren (auch den toten) Organspendern (12).

Was im Wissen oder der Auffassung einer Person Schaden nehmen kann und von ihr dennoch keinerlei Schutzmaßnahmen unterzogen wird, kann ihr nicht viel, wenn überhaupt irgendetwas, wert sein (soweit keine außergewöhnlichen Hindernisse vorliegen). Kleinkinder werden im Straßenverkehr an die Hand genommen, teure Markensmartphones mit Silikonhüllen und Panzerglas geschützt und die damit verbundene Reduzierung ihrer Ästhetik sogar in Kauf genommen, etc. Nicht umsonst gibt es die Redewendung, etwas „wie seinen Augapfel“ zu hüten, und im nahöstlichen Kulturkreis wird schon mal zu jemandem „mein Auge“ gesagt, um ihn eine hohe ihm gegenüber gehegte Wertschätzung spüren zu lassen (13, 14). Die Vernachlässigung der Pflege eines Gegenstandes und ihn verstauben zu lassen ist als typisches Merkmal der Gleichgültigkeit ihm gegenüber bekannt. Hingegen lässt sich manchmal beobachten, dass für eine Person der Wert eines Gegenstandes so hoch ist, dass sie ihn auch dann noch reinigt, wenn längst jede kleinste Verunreinigung beseitigt ist. Man denke auch daran, wie häufig damit geworben und somit auf einen angeblich hohen Wert eines Gegenstandes hingewiesen wird, dass er in purer Form vorliege, z.B. sogenannte Edelmetalle. Ebenso signifikant ist die auf seine Attraktivität beruhende Wirkkraft des Anspruchs religiöser und ideologischer Gruppierungen unterschiedlichster Couleur, sie seien die Vertreter der reinen Urform der jeweiligen Lehre107 (15). Und praktisch überall ist zu beobachten, wie Wertgeschätztes geschmückt, verziert oder möglichst schön geformt wird, seien es nun Gebetshäuser, das Grab wertgeschätzter Verstorbener (in Kulturen, deren Normen hierzu nicht nachträglich (!) demotivieren), Buchdeckel zentraler Bücher einer Religion oder Weltanschauung oder die Namen verehrter Personen oder sonstiger Entitäten (16).

Wem das einzige Mittel, um ein Ziel zu erreichen, wenig wert ist, dem ist offensichtlich auch das Ziel wenig wert. Derweil ist es eine erfahrungsgemäße Tatsache, dass Menschen Unsummen für Mittel ausgeben, von denen sie sich die Verwirklichung oder Sicherung des von ihnen wertgeschätzten sozialen Status und Vergnügens versprechen. Für Beispiele genügt es hier bereits, auf solche mit Stichwörtern wie Apple, Nike oder Versace anzuspielen, oder daran zu denken, was Menschen für hohe Summen an Geld, dem bekanntesten wertbezogenen Mittel, zu tun bereit sind. Gibt es mehr als nur ein geeignetes Mittel für den betreffenden Zweck und somit Alternativen, so ist ihre Anzahl in der Regel dennoch begrenzt, sie sind für ihre Bewertung alle gemeinsam als ein einziges Mittel zu betrachten, und der Wert dieser Gesamtheit an Mitteln verteilt sich divisionell auf die Einzeldinge dieser Gesamtheit (17).

Wenn die Verbrennung von Flaggen die Geringschätzung einer Nation ausdrückt, oder den Namen verhasster Subjekte ohne rechtfertigenden Grund auszusprechen vermieden wird, ist klar, dass das Gegenteil, nämlich die Wertschätzung von Repräsentativa, aus der Wertschätzung des Repräsentierten resultiert. Man denke auch an die sich z.B. in Küssen ausdrückende Verehrung des Kreuzes im Christentum oder daran, wie sich Menschen den Namen von Gegenständen ihrer Wertschätzung auf die Haut tätowieren, seien diese Gegenstände nun abstrakt, wie z.B. eine bestimmte Subkultur oder Musikrichtung, oder konkret, wie z.B. der Lebenspartner o.a. (18). Solange von keinen interferierenden oder relativierenden Faktoren auszugehen ist, ist es für jeden selbstverständlich, dass z.B. einen von zwei Freunden häufiger zu besuchen, darauf hindeutet, dass dieser mehr wertgeschätzt wird, und dass das Umgekehrte nur auf hemmende Faktoren zurückgeführt werden kann, z.B. wenn einer der beiden viel weiter weg wohnt o.ä. (19). Ebenfalls hat sich als unumstößliche Tatsache etabliert, dass wer nicht bereit ist, etwas um eines Gegenstandes willen zu leisten und für ihn Widrigkeiten in Kauf zu nehmen, diesen Gegenstand nicht besonders wertschätzt. Solche Inkaufnahmen sind sogar ein Indikator für den Wert, den ein Gegenstand für jemanden hat (20).

Würden wir in nichts einen Wert sehen und unser ganzes inneres und äußeres Wesen damit vollkommen übereinstimmen, würden wir jede Emotion bei ihrer objektiven Betrachtung als blind und sinnlos einstufen. In Wirklichkeit aber ist hinter nahezu jeder Emotion schon nach kurzer Überlegung irgendeine Wertbeimessung festzustellen: Z.B. ist Hoffnung auf etwas immer Hoffnung für etwas, wie auch Angst vor etwas immer Angst um etwas (für/um die Familie, für/um das eigene Leben, für/um die Gesundheit etc.) ist. Niemand freut sich über oder trauert um etwas, das nicht für ihn oder für jemanden, den er sehr wertschätzt, einen Wert hat (21).

Freilich darf für ein so begründetes Urteil über das Fehlen der Wertschätzung dieses nicht auf eine logisch-ontologische Unmöglichkeit oder extreme empirische Abwegigkeit zurückzuführen sein. Beispielsweise hat das von Vielen bis zur Glorifizierung verehrte Konzept der Freiheit keine räumlichen Eigenschaften, die physische Nähe denkbar sein lässt, und Kommunikation mit ihr im üblichen Sinn ist auch nicht möglich. Dass also weder direkt auf eben jenes abstrakte Konzept der Freiheit bezogenes Anstreben noch Versuche der direkten Kommunikation mit ihm bei einer Person nicht feststellbar sind, ist kein Beweis für total fehlende Wertschätzung.108

Zwar kann es in der Realität Umstände geben, in denen das Fehlen eines Teils der Implikationen nicht eindeutig auf das Fehlen der Wertschätzung schließen lässt, nämlich wenn diese zwar vorhanden ist, aber in der speziellen Situation Wertschätzungen anderer Gegenstände mit ihren Implikationen in Konkurrenz dazu treten, doch ansonsten kann man getrost über jede der Implikationen sagen, dass wenn immer sie denkbar, ungehindert und leicht zustandezubringen ist, die Wertschätzung sie unweigerlich nach sich zieht, ansonsten hat es die Wertschätzung in aufrichtiger Form nie gegeben.

Reduktion

Der nächste Schritt in der Auffindung möglichst allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der Wertschätzung wäre die Betrachtung, inwiefern sich die oben aufgelisteten Phänomene und Implikationen aufeinander reduzieren lassen. Dass dies - wenn auch überwiegend nur empiriebasiert - möglich ist, wird bei genauerer Kontemplation deutlich. So lässt sich davon ausgehen, dass das eigentlich Angestrebte bei der Anstrebung von Nähe ist, die direkte oder notfalls auch nur indirekte Wahrnehmung des Gegenstandes sowie die Interaktion mit ihm zu erzielen oder wenigstens zu ermöglichen, zu sichern oder die diesbezügliche Wahrscheinlichkeit (Chance) zu erhöhen. Die Anstrebung physischer Nähe ist demnach ein anthropologisch-natürliches Resultat der Anstrebung von Wahrnehmung und Interaktion (-4)109.

Derweil ist das vermehrte Denken an den Gegenstand ein aus mehreren anderen resultierendes Phänomen: Emotionaler Liebe kann der Wunsch entspringen, eben diese Liebe aufrechterhaltend oder vermehrend zu kultivieren. Das Mittel hierzu ist, so häufig positive Gedanken und Empfindungen mit dem Gegenstand willentlich in Verbindung gebracht werden, bis sie sich als automatische Assoziation mit ihm verfestigen; darüber hinaus wird auch unabhängig davon ein weiteres Maß des vermehrten Gedenkens gerade durch emotionale Liebe produziert. Sodann kommt es zwangsläufig bei der Suche nach Wegen zustande, die eben genannte Nähe herzustellen, zu sichern und zu vergrößern. Und schließlich kommt es bei einem Mangel der Wahrnehmung (z.B. wegen Abwesenheit) automatisch als provisorisches Substitut der fehlenden Wahrnehmung zum Einsatz: Wenn das Wertgeschätzte schon nicht zu sehen ist, lässt es sich wenigstens imaginär oder begrifflich vergegenwärtigen (-1).

Was den Energie- und Ressourcenaufwand und die damit verbundene allokative Verlagerung betrifft, so sind diese im Konzept der Anstrebung inbegriffen und brauchen daher nicht unbedingt gesondert aufgezählt zu werden, zumal sie sich mit den restlichen Implikationen nicht auf einer Ebene befinden (-5).

Die Tendenz zur Bevorzugung von allem, was mit dem Gegenstand irgendwie zusammenhängt, lässt sich als Resultat der Wertschätzung von an ihn Erinnerndem auffassen, oder umgekehrt; es lässt sich immerhin auch einfach von Wertschätzung von allem, was mit ihm in nicht-negativer Weise assoziiert ist, sprechen. Letztere lässt sich als Wertschätzung von potentiellen Anlassgebern, an das Wertgeschätzte zu denken, genauso auf die Wahrnehmungsbestrebung zurückführen (-6, -7). Andererseits lässt sich die Wahrnehmungsanstrebung als Vergegenwärtigungsbemühung interpretieren und auf die Wertschätzung all dessen, was an das Wertgeschätzte erinnert, zurückführen, zumal keine Erinnerung an einen Gegenstand vollkommener ist, als ihn wahrzunehmen (-2). Die Wertschätzung der vom Gegenstand ausgehenden oder ausgegangenen Wirkungen und Erscheinungen lässt sich in die Kategorie des zuletzt Genannten einordnen (-8), und so auch die meisten übrigen Folgewertschätzungen (-9, -10, -11, -12, -18).

Nichtsdestotrotz wäre zu überlegen, inwiefern ein Teil dieser Folgewertschätzungen zusätzlich (z.B. apriorisch) begründet ist. Beispielsweise scheint beim Verursacher von Wertgeschätztem zusätzlich zur assoziativen Wertschätzung hinzuzukommen, dass sich die Realisierung von Wertvollem grundsätzlich als wertvoll darstellt und, damit einhergehend, auch die unabdingbaren Realisierungsfaktoren. Schließlich würde man vor der Realisierung eines Wertes (S) stehend die Existenz und Nähe eines solchen Faktors stets begrüßen, und da Ethik im Kern raumzeitlich unabhängig ist, scheint der Wertschätzung bestehender logischer und empirischer Bedingungen von Würdigem eine apriorische Regel zugrunde zu liegen. Eine Rolle spielt auch, dass einer Bedingung oder einem Urheber vor der Verursachung und somit unabhängig von der Existenz des Wertvollen der Wert des letzteren sozusagen innewohnt, und häufig, wenn nicht gar immer, nicht nur dieses letzteren Wert, sondern der Wert von Vielen seinesgleichen, die ebenfalls hätten verursacht werden können, und das Bedingende sich dadurch häufig als noch viel wertvoller darstellt. Solches scheint die bloß assoziative Grundlage nicht leisten zu können, weshalb dieser Punkt zunächst als irreduzibel stehen bleiben zu müssen scheint.

Jedoch stehen die ontologische und die axiologische Abhängigkeit zweier Gegenstände voneinander in einem reziproken Verhältnis zueinander, d.h. wenn das ursprünglicher (sic) Wertgeschätzte B ohne A auch nicht gegeben wäre, so würde A doch ohne die Wertschätzung von B nicht wertgeschätzt werden. Somit wird das als Urheber oder Bedingung Angesehene lediglich um des Bedingten willen wertgeschätzt, und wenn die daraus resultierende Wertschätzung über die eines konkret vorliegenden Bedingten hinausgeht, deutet dies lediglich darauf hin, dass dem Wertschätzenden nicht in erster Linie oder nicht nur der individuelle Gegenstand wichtig ist, sondern oder sondern auch seine Kategorie.  Das Bewusstsein um das konditionale oder kausale Verhältnis bzw. seine Annahme lässt sich letztlich doch problemlos als zwar unter keine andere etablierte Unterart der assoziativen Verbindung subsumptional reduzierbare, aber als zusätzliche besondere Art dieser Verbindung denken, ihr direkt unterstellen und etablieren. Der Unterschied ist nämlich im Wesentlichen nur der Weg, auf welchem die Verknüpfung in der Auffassung des Subjekts zustandekommt, sowie ihre besonders starke Enge. Während die Verknüpfung anhand des Kriteriums der Ähnlichkeit - man denke an die spontane Sympathie, die zu Personen gehegt wird, die nahestehenden verstorbenen oder sonstwie abwesenden Personen äußerlich ähnlich sind - hauptsächlich den Weg der Sinnesorgane und Sinnesdaten verarbeitenden Mechanismen geht, die der Ratio gewissermaßen vorgelagert sind, geht diese besondere Verknüpfung den Weg der rationalen Erkenntnis. Der Anschein der Irreduzibilität ist wohl darauf zurückzuführen, dass kein anderer Zusammenhang als so eng aufgefasst werden kann wie ein konditionaler oder kausaler Zusammenhang, und dies sollte nicht allzu sehr verwundern: Wenn man weiß oder zu wissen glaubt, dass etwas Wertgeschätztes ohne ein gewisses Anderes überhaupt nicht wäre, und hieran denkt, tritt im Geist jenes Andere als der eigentliche „Lieferant“ der für die Wertschätzung relevanten Eigenschaften auf. Außer vom Urheber oder von der Bedingung wissen wir von nichts, von dem man sagen könnte, dass das Wertgeschätzte ohne es nicht wäre, außer vom Wertgeschätzten selber. Dies konstituiert eine Quasi-Identität, durch welche sich das Wertgeschätzte in seiner Bedingung geradezu auflöst. Kaum jemals begegnet uns ein einem wertgeschätzten Menschen solch ähnlicher zweiter Mensch, dass sich eine Enge der Assoziation von einem derartigen Ausmaß ergibt, und selbst wenn doch mal vollkommene äußere Ähnlichkeit vorliegen sollte, wäre die ähnlichkeitsbasierte Assoziation eben nur auf das Äußere und den Schein bezogen, die konditionale oder kausale Assoziation hingegen auf die Essenz. Schon der Zusammenhang mit dem ursprünglicher Wertgeschätzten als durch es Bedingtes begründet Wertschätzung im Rahmen von Nr. 6/7 (Beispiel: Leibliches Kind der hochgeschätzten befreundeten Person), also ganz allgemein eine kausale Beziehung unabhängig von ihrer Richtung. Hier kommt nun die Richtung und die genannte, ihr zueigene Besonderheit verstärkend hinzu. Darum ist dies die engste denkbare Assoziation, andererseits wohl aber auch nicht mehr als eine Assoziation (-12).

All hierdurch lässt sich aber die Wertschätzung von allem, was den Gegenstand ebenfalls wertschätzt, begründen, wenn bereits feststeht, dass die Wertschätzung des Gegenstands wertzuschätzen ist, zumal ein anderes wertschätzendes Subjekt als Ursache seiner von ihm selbst ausgehenden Wertschätzung betrachtbar ist (-11). Den Gegenstand der Wertschätzung des Wertgeschätzten wertzuschätzen, ist nicht anders möglich, wenn man schon jene Wertschätzung als solche wertschätzt und dies wiederum aufgrund ihrer Bedingtheit durch die Entität des Wertgeschätzten zustandekommt (-10). Dass die Wertschätzung von Würdigem wertzuschätzen ist, ist - zu guter Letzt - evident. Es gibt sodann keinen Grund, eine Einschränkung auf die von einer bestimmten Person ausgehende Wertschätzung vorzunehmen (-9).

Die Schutzbestrebung ist im Lichte der Wahrnehmungsbestrebung verstehbar, da die Wahrnehmbarkeit des Gegenstands von seiner (darum zu sichernden) Existenz abhängt, und aus dem analogen Grund auch im Lichte der Interaktionsbestrebung (-13, -14). Das Interesse an seiner Reinheit lässt sich auf mehrere Punkte zugleich zurückführen, denn Reinigung kann eine Schutzmaßnahme sein, aber auch die Verwirklichung angestrebter Wahrnehmung und Interaktion, zum einen durch Herstellung von Nähe, wenn die Reinigung in direktem Kontakt durchgeführt wird, zum anderen durch Sicherung oder Herstellung der ungetrübten Sicht auf den Gegenstand und somit seiner Wahrnehmung, sowie die Herbeiführung (z.B.) haptischer Wahrnehmung im Rahmen des Reinigungsaktes (-15). Die Tendenz, Wertgeschätztes zu schmücken und ihm eine schöne oder schönere Form zu verleihen bzw. diese aufrechtzuerhalten, lässt sich zum einen aus dem Interesse an seiner Vollkommenheit herleiten, aber auch diese Handlung auf Nr. 9 zurückgeführt als non-verbales Schwärmen ansehen, oder als Mittel, ein genügendes Maß der eigenen Wertschätzung für den Gegenstand und der ihm subjektiv gebührenden, aus ihr in der übrigen Weise folgenden eigenen Beschäftigung mit ihm langfristig zu sichern (-16).

Die Wertschätzung der Mittel folgt aus der Wertschätzung dessen, wovon der Gegenstand logisch oder empirisch abhängig ist. Will eine Person, der kein Flugzeug zur Verfügung steht, unbedingt auf eine entfernte Insel gelangen, lässt sich methodisch hier die Handlungskategorie des Übersetzens auf die Insel als „ursprünglicher“ Gegenstand der Wertschätzung definieren. Es ließen sich verschiedene Arten dieses Übersetzens denken, z.B. schwimmend, fliegend, per Teleportation. Wären empirisch alle denkbaren Arten in gleichem Maße möglich, wären diese unendlich an der Zahl und jede einzelne Art für sich genommen quasi wertlos, da sich der Wert auf eine unendliche Anzahl verteilen müsste. Hier jedoch ist das Hinübersetzen in einem Boot die empirisch einzige Möglichkeit, so dass diese spezielle Art denselben Wert bekommt wie zu der Insel zu gelangen allgemein. Da das Hinübersetzen in einem Boot ohne ein Boot logisch nicht denkbar ist und diese spezielle Art und in diesem Fall die Handlungskategorie des Gelangens auf die Insel vom Begriff des Bootes abhängig ist, erhält dieser Begriff auch für sich alleine genommen denselben Wert. Ein tatsächlich vorhandenes geeignetes Boot, weil es den Begriff repräsentiert (oder weil der Geist sich ohnehin immer nur auf das Begriffliche bezieht, s. Eintrag §37), erhält den gleichen Wert, sofern es das einzige verfügbare ist, ansonsten verteilt sich der Wert auf die verfügbaren Boote je nach den Ausmaßen ihrer Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit (-17).

Die Wertschätzung von allem, was den Gegenstand repräsentiert, ist zum einen eine Ausprägung der Wertschätzung von allem, was an ihn erinnert und irgendwie mit ihm direkt oder indirekt assoziiert ist. Zum anderen ist Repräsentativität im Wesentlichen eine bewusst zugelassene oder hergestellte hypothetische oder methodische Identität - wie also im Repräsentativum das Repräsentierte gesehen wird, muss in ihm zwingend auch sein Wert gesehen werden, zumindest so, als sei das Repräsentativum ein Glas, hinter welchem die Eigenschaften des Gegenstandes einschließlich seines/ihres Wertes zu sehen sind. Wie Glas trübe oder klar sein kann, wird die Höhe des Wertes von der Repräsentationsleistung des Repräsentativums mitbestimmt. Der totale Ausschluss des Wertes für das Repräsentativum brächte das Individuum aber in einen logischen Widerspruch, sobald es die Repräsentativität des zweiten Gegenstandes akzeptiert hat (-18).

Der nächste Punkt, nämlich die an die Position in der Wertehierarchie angepasste Häufigkeit und Intensität der Bezugnahme auf den Gegenstand, ist irreduzibel. Er ist aber auch keine eigene Verhaltensweise, und auch keine Folgewertschätzung, sondern lediglich ein Modus derselben (-19). Die Inkaufnahme von Nachteilen und Widrigkeiten lässt sich derweil aus der Wertschätzung der Mittel und Bedingungen herleiten, da ohne Inkaufnahmen die Nähe und Wahrnehmung eines Gegenstandes oder die Interaktion mit ihm nicht realisierbar ist (-20). Die Verknüpfung mit den Emotionen lässt sich auf die Liebe zum Gegenstand reduzieren oder zumindest so nennen, da die anderen Emotionen als Begleiterscheinungen der Liebe von ihr abhängen, wenn diese nicht sogar ausschließlich in ihnen besteht: die Vergrößerung der Nähe zu Geliebtem erzeugt Freude, Gefährdung von Geliebtem erregt Zorn, Trennung und Verlust von Geliebtem zieht Trauer nach sich usw. (-21).

Revision

Übrig zu bleiben scheinen Wahrnehmungs- bzw. Vergegenwärtigungsbestrebung, Interaktionsbestrebung und Liebe. Sogar das Interesse am Dasein des Gegenstands scheint sich ableiten zu lassen. Dennoch mag man sich die Frage stellen, ob wirklich die Wahrnehmungs- und Interaktionsbestrebung oder aber das Interesse an der Herbeiführung bzw. Aufrechterhaltung des Daseins das Fundamentalere ist. Beruht das Interesse am Dasein des Gegenstandes wirklich auf dem Interesse an seiner Wahrnehmung und den Umgang mit ihm? Während dies insofern plausibel ist, als sein Dasein eine notwendige Voraussetzung für seine Wahrnehmbarkeit ist und sich die Aufrechterhaltung seines Daseins als bloßes Mittel darstellen lässt, könnte es vielleicht dennoch umgekehrt sein, nämlich dass die Wahrnehmungs- und Interaktionsbestrebung auf das Interesse am Dasein des Gegenstandes zurückzuführen ist: Wenn das Bestehen einer Wertschätzung (nicht nur einer Automatik) der Wahrnehmung eines wertgeschätzten Gegenstandes die Grundlage der besagten Bestrebung ist und es einen Grundmodus gibt, in welchem Wertgeschätztes grundsätzlich immer vom Subjekt realisiert werden will, dann ließe sich ein grundsätzliches Interesse am Dasein von Wertgeschätztem als Grund für das Interesse an einer Realität (V) der Wahrnehmung auffassen, weil eben ein solches Wahrnehmen Gegenstand von Wertschätzung ist. Zusätzlich könnte jemand vielleicht auf die Idee kommen, der Wertschätzung von Wahrnehmung und Interaktion weiter jegliche Fundamentalität abzusprechen, indem er sie auf die Haltung der Wertschätzung von allem, was mit einem wertgeschätzten Gegenstand zusammenhängt und assoziiert ist, zurückführt.

Diese Annahme ist abzulehnen, und zwar aus den folgenden Gründen:

Vom Interesse am Dasein des Gegenstands lässt sich also die Wahrnehmungs- & Interaktionsbestrebtheit nicht ableiten, so dass sich dieses Interesse höchstens als weitere Irreduzibilität neben ihr hinzugesellt. Es als solche anzunehmen, ist jedoch nicht nötig, da sich seine Reduktion bereits als denkbar erwiesen hat, so dass der Nutzen der Annahme ihrer Reduzibilität allenfalls gering ist.

Resultat der Reduktion

Somit lassen sich die Grundimplikationen zunächst auf die folgenden reduzieren:

  1. Wahrnehmungsanstrebung / Vergegenwärtigungsbemühung
    (dem Grad der Wertschätzung entsprechend in möglichst allen Aspekten, mit möglichst allen Sinnen und möglichst häufig)
  2. Interaktionsanstrebung
    (dem Grad der Wertschätzung entsprechend möglichst häufig und umfassend)
  3. Liebe

Die ersten beiden Punkte lassen sich nicht voneinander ableiten, weder begrifflich, so dass der Begriff des einen den Begriff des anderen enthielte, noch empirisch, so dass das eine das andere verursachte. Zwar ist beides die Anstrebung eines Bezugs bzw. einer Beziehung zum Gegenstand, doch der eine ist ein von einer Passivität des Wertschätzenden, und der andere ein von einer Aktivität des Wertschätzenden geprägter Bezug. Sogar die Reaktion des Gegenstandes, die im Rahmen einer Interaktion mit ihm normalerweise erhofft wird, ist womöglich hauptsächlich als bloße Bestätigung des Erfolgs oder der relativen Vollkommenheit des aktiven Bezugs auf den Gegenstand relevant. - Dass sich die beiden Phänomene nicht voneinander ableiten lassen, schließt derweil nicht aus, dass sie in dem verbleibenden Punkt eine gemeinsame Ursache haben. Auch ist aufgrund der Multikonzeptionalität des Terminus der Liebe zu fragen, ob sich der relevante unter seinen Begriffen nicht in den ersten beiden Punkten erschöpft, so dass mit dem Begriff der Liebe nichts Wesentliches zu den beiden Anstrebungen hinzugefügt wird. Dann wären die Grundphänomene insgesamt:

  1. Wahrnehmungsanstrebung / Vergegenwärtigungsbemühung
  2. Interaktionsanstrebung

Andernfalls kann man von einer gemeinsamen inneren Ursache ausgehen - eine solche hätte die Bezeichnung als Liebe durchaus verdient - oder aber diese Bezeichnung wenigstens als Gruppierungsinstrument für die beiden Phänomene einsetzen, so dass sich das Grundphänomen, auch wenn die beiden Letztgenannten aufgrund Ihrer Essentialität keinesfalls aus dem Blick geraten sollten, auf einen einzigen Punkt reduzieren lässt.:

Dass Liebe, je stärker sie ist, umso unweigerlicher und in höherem Maße mit allen bisher erwähnten Phänomenen, sofern sie hinsichtlich der Natur des Gegenstandes denkbar sind, einhergeht, wenn sie nicht schlicht in oder in einem Teil von ihnen besteht, ist eine in der Erfahrung leicht wiederzufindende Tatsache. Dennoch könnte sich die Frage stellen, ob es wirklich sinnvoll ist, von Liebe als Folgephänomen der Wertschätzung zu sprechen, wo es doch naheliegt, dass Wertschätzung (oder wenigstens, um dem Sprachgebrauch zu genügen: sehr starke Wertschätzung) und Liebe ein und dasselbe sind. Immerhin ist offensichtlich, dass sie sich in ihren begrifflichen und empirischen Implikationen so stark überschneiden, dass das jeweils eine mehr oder weniger den Namen des anderen verdient hat und so genannt werden kann. Doch mittlerweile sollte klar sein, dass eine Wertschätzung im ethischen Sinne die Konstruktion eines epistemischen, nämlich eines ethischen Korrelats und somit ein freier, intellektueller oder wenigstens transzendentaler Akt ist (s. Eintrag §36), wohingegen die Folgephänomene emotionale Vorgänge und Automatismen des angelagerten Akteursystems und somit womöglich gar materieller, jedenfalls empirischer Natur sind. Sofern mithin sich die ethische Wertschätzung „Liebe“ nennen lässt, ist sie als transzendentale Liebe zu spezifizieren. Und sofern sich das empirische Phänomen der Liebe „Wertschätzung“ nennen lässt, ist sie als emotionale Wertschätzung zu spezifizieren.

Bei dem, was in der Reduktion mit „Liebe“ gemeint ist, handelt es sich derweil um die emotionale Liebe. Transzendentale Liebe hat demnach grundsätzlich emotionale Liebe zur Folge, das Umgekehrte gilt jedoch nicht.

Es ist also zwischen intellektueller bzw. transzendentaler Wertschätzung einerseits und emotionaler Wertschätzung andererseits zu unterscheiden. Die intellektuelle Wertbeimessung besteht in der Kombination des Begriffes von einem Gegenstand mit dem Begriff der Würdigkeit zu einem ethischen Korrelat. Das Zusammensetzen eines solchen Korrelats dürfte sich im Akteursystem gewissermaßen als Initiierung einer Reaktionskette  auswirken, deren Glieder nicht zuletzt aus emotionalen Wertbeimessungen (sowohl positiver als auch negativer Art) bestehen, um eine Dynamik des Akteursystems zu sichern, die dem intellektuell erkannten bzw. anerkannten Wert gerecht wird. Emotionale Wertbeimessungen gehen einher mit oder bestehen in Assoziierungen positiver und negativer Gefühle und Vorstellungen mit einem Gegenstand, sowie einher mit den Folgephänomenen und -wertschätzungen. In der Kindheit ist die Konstruktion der Korrelate durch Eltern, Gesellschaft und sonstige äußere Einflüsse fremdbestimmt, als Erwachsener hat man die Möglichkeit, das Repertoire der ethischen Korrelate zu reorganisieren (was allerdings aufgrund ihrer Vielzahl und teils komplizierten Verflechtung oft nur langsam vonstatten gehen kann). Ohne den Grundmodus des Strebens nach Wohlseligkeit und Nutzenmaximierung auszunutzen, lässt sich wahrscheinlich kein menschliches Akteursystem in Gang setzen/halten, weder zu ethischen noch zu sonstigen Zwecken.

Physik der Würdigung - die drei Faktoren

Nach der nun erfolgten Erschließung der allgemeinen Grundphänomene bzw. -implikationen stellt sich die Frage, wie es ausgehend von diesen zu ihren vielfältigen, spezifischen Ausprägungen kommt. Diese sind in der Realität so verschiedenartig, dass sie sich manchmal zu widersprechen scheinen: Das eine wird aus Wertschätzung geküsst, das andere - ebenfalls aus Wertschätzung - tunlichst nicht angetastet, geschweige denn mit den Lippen berührt. Jemanden nicht anzublicken, kann aus Verachtung und Geringschätzung geschehen, dieselbe Unterlassung aber auch aus Hochschätzung... Schon ohne solche scheinbaren Widersprüchlichkeiten ist bereits die schiere Verschiedenartigkeit und Mannigfaltigkeit der Ausprägungen rätselhaft genug: Häufiges Lesen, regelmäßiges Begießen, Schmücken, Reinigen, Stellen auf eine höhere Ebene, Verneigung, Salutieren, Retten, Einlegen einer Schweigeminute etc. Nach welcher allgemeinen Regel kommt es von den Grundphänomenen zu diesen Verhaltensweisen?

Hier lässt sich zunächst einmal feststellen, dass die Verschiedenheit der Handlungen mindestens zum Teil mit der Verschiedenheit der Natur der Gegenstände zu tun hat: Auf eine wertgeschätzte visuelle Farbe lässt sich nicht die einzig wirklich auf eine wertgeschätzte Melodie direkt beziehbare spezifische Verhaltensweise, welche nämlich die des Anhörens ist, beziehen.110 Eine Großmutter reinigt vielleicht täglich das Glas der geliebten Wandbilder ihrer Enkelkinder oder ein Sportwagen-Besitzer wöchentlich die Karosserie seines teuren Automobils, unmöglich aber ist die direkte Anwendung von Putztüchern hingegen auf abstrakte verehrte Konzepte wie dasjenige der Freiheit oder dasjenige der Gerechtigkeit; eine geschätzte Person kann man beschenken, ein bewundertes und in Ehren gehaltenes Gemälde könnte hingegen kein Geschenk in Empfang nehmen, geschweige denn sich über ein solches freuen, sondern es „möchte“ z.B. betrachtet werden. Die Natur der Gegenstände scheint also eine wesentliche Rolle zu spielen.

Jedoch kann es vorkommen, dass sich die Wertschätzung ein und desselben Gegenstandes bei verschiedenen Akteuren unterschiedlich niederschlägt: Ein als heilig geltender Text dürfte einem Individuum eigentlich so heilig gar nicht sein, wenn es ihn selten bis nie rezitiert, seine Rezitation selten bis nie anhört und sich als Analphabet das Lesen und Schreiben und als Anderssprachiger seine Sprache nicht ansatzweise um seinetwillen zu lernen bemüht. Dennoch ist dieser Typus von Verehrern überzeugt, den Text wirklich zu verehren, und dass eine alternative Verhaltensweise diesem gegenüber ein Ausdruck hierfür sei, nämlich seinen Buchdeckel zu küssen und ein Buch, in welchem er geschrieben steht, stets im Kleinformat mit sich zu tragen; und in der Tat lässt sich dies als zur Anstrebung von Wahrnehmung und Nähe gehörig klassifizieren. Derweil kann man einem Individuum, das einen Träger des Textes in Form eines gesonderten, anfassbaren Mediums nicht einmal besitzt, sondern ihn stets auswendig rezitiert und über seine Bedeutungen nachdenkt, seine aufrichtige Wertschätzung ebenfalls nicht, wenn nicht noch viel weniger, absprechen. Eine dritte Person konzentriert sich auf das häufige Studium von Übersetzungen des Textes und schenkt der originalen Form, deren Schrift und Sprache sie nicht im Geringsten zu dekodieren imstande ist, auch langfristig kaum mehr Beachtung als Übersetzungen in andere ihm fremde Sprachen. Die Erklärung für diese Unterschiedlichkeit des wertschätzenden Umgangs liegt offenbar in den unterschiedlichen Auffassungen von der Natur des Gegenstands: Für den einen besteht er aus Tinte und Papier, für den anderen aus ideeller, lautabbildend kodaler Information, für den wiederum anderen aus dem semantischen Inhalt bzw. seiner Botschaft. Notwendigerweise schlagen sich diese unterschiedlichen Auffassungen von der Natur des Gegenstands in unterschiedlichen Umgangsformen nieder. In diesem Beispiel beruht das Verhalten der Akteure sogar auf so verschiedenen Begriffen vom Gegenstand, dass es aus konzeptologischen Gründen nicht abwegig wäre, ihnen die Wertschätzung dreier völlig verschiedener Gegenstände zu unterstellen und das Phänomen hierauf und nicht nur auf die Auffassung von der Natur des Gegenstands zurückzuführen. Um am allgemeinsten sprechen zu können, belassen wir es vorerst bei der Rede von der Auffassung von der Natur des Gegenstandes, denn diese ist hier inbegriffen und erlaubt Beispiele wie dasjenige einer Pflanze, die der eine aus Wertschätzung regelmäßig gießt, der andere jedoch nur deswegen nicht, weil er nicht weiß, dass Pflanzen aufgrund ihrer Natur ohne Flüssigkeitszufuhr verwelken. Direkt um die Natur der Gegenstände geht es jedenfalls nicht so sehr als vielmehr um die Auffassungen von ihr.

Das allein genügt jedoch nicht, um die Verhaltensweisen und ihre Art abzuleiten. Schon das Grundphänomen der Liebe, bzw., wenn sie in ihnen bloß besteht, die Grundphänomene der Wahrnehmungsanstrebung bzw. der Vergegenwärtigungsbemühung und der Interaktionsanstrebung ergeben sich offensichtlich nicht oder zumindest nicht allein aus der Natur der Gegenstände, vielmehr gibt es zweifellos einen Grundmodus des Menschen, in welchem diese Art von Verhalten programmiert ist. Ansonsten spräche in der Beschaffenheit der Gegenstände selber und allein nichts dagegen, dass ihre Wertschätzung eine völlig andere Art oder gar das Gegenteil des Verhaltens nach sich zöge, und sei es sogar die Meidung jeglicher Art von Wahrnehmung oder Interaktion: Erst recht gilt dies für die Meidung irgendwelcher konkreteren Ausprägungen dieser beiden. Einen wertgeschätzten Gegenstand häufig sehen zu wollen können nur solche Lebewesen, die über einen visuellen Sinnesapparat und/oder dazugehörige Verarbeitungsinstanzen verfügen, andere sind auf die Anstrebung akustischer oder anderer Arten von Wahrnehmung beschränkt, und umgekehrt. Folglich gehört die spezifische Veranlagung bzw. die Natur des Akteurs zu den metaethisch zu berücksichtigenden Faktoren. Allerdings wird der Mensch auch durch andere als nur seine genetischen und primordialen Veranlagungen bestimmt und eingeschränkt und der hier relevante Teil seines Verhaltens durch sie nahezu oder völlig unabänderlich geformt, nämlich auch durch all das, worauf er (besonders durch kindliche und frühkindliche Einflüsse und Erziehung) gewissermaßen nachträglich konditioniert worden ist, so dass dies in diesem Zusammenhang praktisch zu seiner Natur hinzuzuzählen ist, bzw. (sofern bei allen oder quasi allen Menschen auftretend) dem Terminus der conditio humana zusätzlich zugrunde zu legen ist.

Beispielsweise würde es von wohl jedem Menschen als Hinweis auf eine allenfalls beschränkte Höhe der Wertschätzung eines Geschenks angesehen werden, wenn der Beschenkte es trotz des kleinen Formats, unabhängig von den Eigenschaften des Gegenstands und ohne einen praktischen Grund irgendwo auf dem Boden seiner Wohnung zurücklässt und es dort längere Zeit liegen lässt. Dies ist auch dann ein Hinweis darauf, wenn die Wohnung sauber und äußerst übersichtlich und der Gegenstand stabil genug ist (evtl. ein Armreif aus Gold), so dass weder Verschmutzung noch Verlust oder Beschädigung drohen, und der Beschenkte angibt, so falle sein Blick am häufigsten auf ihn. Eher hätte man erwartet, dass der Beschenkte es im Fall sehr hoher Wertschätzung eine deutliche Hemmung gehabt hätte, es auch nur kurze Zeit auf den Boden zu legen - jedenfalls wäre dem Schenker, der viel von seinem eigenen Geschenk hält, dies zu beobachten, recht unangenehm - und noch unangenehmer, wenn er es eigenhändig und mühevoll hergestellt hat. Er muss nämlich davon ausgehen, dass der Beschenkte genau so konditioniert ist wie er, nämlich ohne Grund (z.B. enorme Größe und Gewicht) um so mehr vom Ablegen eines Gegenstands auf dem Boden abzusehen, je wertvoller er ist. Schon in der Kindheit haben Eltern und übrige Gesellschaft einen stets getadelt, gewisse Dinge auf dem Boden liegen zu lassen. Womöglich hatten sie nur im Sinn, es so vor Verschmutzung, Verlust oder Zerstörung zu schützen, oder Haushaltsmitglieder vor Stürzen - diesen Zusammenhang versteht jedoch nicht jedes Kind und wird ihm gegenüber häufig gar nicht angegeben, so dass die Entscheidung, ob etwas auf den Boden gelegt wird oder nicht, im Kinde direkt und mehr als mit allem anderen mit seinem Wert verknüpft wird. Der Mensch erfährt u.a. hier eine Konditionierung, die darin mündet, räumliche Höhe und Höhe des Werts grundsätzlich miteinander korrespondieren zu lassen, so dass er in dieser Korrespondenz eine Selbstverständlichkeit sieht, weil nichts anderes als das Transzendentale übrig bleibt, wenn empirisch-utilitäre Zusammenhänge nicht vollständig erkennbar sind.

Als Kind wird einem eingeschärft, anderen Menschen, besonders den zu ehrenden unter ihnen gegenüber, wie z.B. Gästen, nicht in einem für den jeweiligen Kontext extrem unüblichen Maß partiell oder ganz unbekleidet aufzutreten. Ein tieferer Sinn dieser Sitte, außer dem Beleidigtsein der anderen Personen oder einer unerwünschten Meinungsbildung in ihnen vorzubeugen, ist hierbei in der Regel weder den Erziehern noch dem Kind ersichtlich. Darum bildet es zwangsläufig die Überzeugung, dass die Personen (oder ihre Meinung) - ob aus irgendeinem Grund und aus welchem auch immer - es schlicht irgendwie wert sind, dass man sich um ihretwillen diese Art von Umstand macht, d.h. dass ihr Wert die Grundlage dafür sei. Die Gefahr der Beleidigtheit u.ä. erscheint nicht als Endgrund, da hierauf Rücksicht nehmen zu müssen wiederum nur mit Wertbetrachtungen begründbar scheint und außerdem die angebliche Tendenz jener Personen hierzu impliziert, dass sie selbst ihren eigenen Wert zugrundelegen und die Verknüpfung hiermit eher bestätigen. Irgendwann hat sich diese Verknüpfung so tief und stabil etabliert, dass es der herangewachsenen Person nicht mehr möglich ist, ohne die Hemmung neutralisierende Faktoren oder Umstände einer Person erheblich geringer als für den jeweiligen Kontext üblich111 bekleidet zu begegnen, es sei denn, dass man sie nicht hierfür hinreichend wertschätzt. Wohl in allen Kulturen drückt die bewusste Entblößung der üblicherweise am durchgehendsten bedeckten Körperteile in Richtung einer Person, wie z.B. des Gesäßes, in der Regel die Geringschätzung dieser gegenüber aus oder wird als solche zumindest aufgefasst.

Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen, ob es nun die Hemmung sei, einen Menschen anzuhusten, ohne sich des epidemiologischen Hintergrunds der Sitte bewusst zu sein und ohne von ihm eine Reaktion zu befürchten zu haben, oder dies mit einem leblosen, als heilig verehrten Gegenstand trotz des Wissens zu tun, dass er sich weder infizieren noch emotional ekeln kann, oder zum Abwischen des Mundes mangels kurzfristiger Alternativen ein Erinnerungsstück in Form des geschenkten Ziertuchs einer hochgeschätzten Person zu benutzen, auch wenn zur problemlosen Wiederherstellung des ursprünglichen sauberen Zustands eine Waschmaschine einfach zugänglich ist. Eine relative Schwäche dieser Hemmungen resultiert in der Regel aus einer relativen Schwäche der Wertschätzung (bzw. einer relativen Stärke mit ihr konfligierender Wertschätzungen) hin. Natürlich kann es nicht nur Hemmungen, etwas zu tun, sondern auch solche betreffen, etwas zu unterlassen, z.B. eine Frage zu beantworten oder inmitten der Rede eines Gesprächspartners abrupt den Ort zu verlassen oder die telefonische Verbindung mit ihm unvermittelt zu beenden, je höher die Wertschätzung ist, die man ihm gegenüber hegt. Auch der sogenannte Halo-Effekt dürfte mit diesem Sachverhalt in engem Zusammenhang stehen. Den Beispielen ist nicht nur gemeinsam, dass sie als Kernelement eine Konditionierung einbeziehen. Einige von ihnen zeigen auch, dass manche mit Wertschätzung verknüpfte Verhaltensweisen, auch wenn sie ursprünglich ein der Wahrnehmungsanstrebung bzw. der Vergegenwärtigungsbemühung und der Interaktionsanstrebung genügenden Zweck hatten, der in der Frühphase ihrer kulturellen Etablierung wohl noch gegenwärtig war, dennoch häufig von diesen Grundphänomenen entkoppelt sind und auf diese Weise eine dritte nach jenen zwei Kategorien von Grundphänomenen konstituieren: Entkoppelte Konditionierungen (S). Um ihren Begriff ergänzt stellen sich die Grundphänomene insgesamt wie folgt dar:

  1. Wahrnehmungsanstrebung / Vergegenwärtigungsbemühung
  2. Interaktionsanstrebung
  3. Entkoppelte Konditionierungen (S)

Entkoppelte Konditionierungen fließen (sofern uns die Sein-Sollen-Dichotomie keinen Strich durch die Rechnung macht) in die für eine allgemeine Ethik relevante conditio humana nur dann ein, wenn sie typisch für quasi oder wirklich alle Menschen sind, ansonsten gehören sie nur zu solchen für eine spezifische oder individuelle Ethik relevanten Dispositionen. Es ist offensichtlich, dass den beiden anderen Grundphänomenen eine weit größere Fundamentalität zueigen ist. An der konzeptuellen Relevanz der entkoppelten Konditionierungen lässt sich dennoch erahnen, dass es nicht allzu tragisch wäre, wenn eine der obigen Reduzierungen zu viel wäre und so z.B. das Reinheitsinteresse als irreduzibles Grundphänomen zu gelten hätte.

Neben der conditio humana und der Natur des Gegenstands sollte als Faktor für das Auftreten der Grundimplikationen und ihrer Ausprägungen die Wertbeimessung an sich nicht vergessen werden. Denn ebenfalls zum Allgemeinsten, was sich hier sagen lässt, gehört, dass eine Wertbeimessung prinzipiell die (oder die Beeinflussung der) Aktivität des Humansystems um des jeweiligen Wertgeschätzten willen zur Folge hat. Für die Art und Einzelheiten dieser Aktivität ist hierbei die Wertbeimessung selber nicht zuständig; sie folgen nicht aus ihr und sind so betrachtet irrelevant. Wohl aber ist relevant, dass die Aktivität eben um des Wertgeschätzten willen erfolgt, anders ausgedrückt: in Ausrichtung auf das Wertgeschätzte. Die Ausrichtung der Aktivität wird durch die Wertbeimessung bzw. das wertbeimessende Subjekt festgelegt, die Art und Einzelheiten dieser Aktivität jedoch durch die Beschaffenheit und Umstände des Akteursystems in Kombination mit der Natur des Gegenstands. Damit, dass die Aktivität oder ein Akt eines Humansystems auf einen Gegenstand ausgerichtet ist, ist gemeint, dass dem Wertgeschätzten infolge der Wertbeimessung subjektiv eine Ästhetik anhaftet, ohne welche die Aktivität normalerweise nicht zustande käme, wie auch in einer schönen Landschaft der Blick nicht solange und in der dafür typischen Art umherschweifen würde, wenn ihr diese Schönheit nicht zueigen wäre, und eine Person eine solche des anderen Geschlechts nicht in ausgesuchter und teils stereotyper Weise umwürbe, wenn sie nicht von ihrer physischen oder charakterlichen Schönheit beeindruckt wäre. Die Ausrichtung eines Aktes auf einen Gegenstand ist also seine anthropologisch-naturgesetzliche Bedingtheit durch eine dem Gegenstand subjektiv anhaftende Ästhetik, deren Anhaften wiederum kausal in einer Wertbeimessung wurzelt, die auf den Gegenstand bezogen wurde. Hierbei können sowohl der Gegenstand als auch seine Ästhetik beliebiger Art sein.

Spätestens hier sollte also einigermaßen klar zu ahnen sein, welch zentrale Rolle Begriffen der Schönheit in der Ethik zukommt. Ethische Schönheit (Würdigkeit) verlangt transzendentale Liebe (Wertbeimessung), (teils auf sie aufbauende) sinnliche Schönheit weckt emotionale Liebe. Sinnliche Schönheit ist ihrer oft fatalen Rolle im Schicksal des Menschen gemäß zweifellos problematisch, sollte aber nicht unterschätzt werden, sowohl hinsichtlich ihrer teilweisen Bedingtheit durch Wertbeimessungen, als auch hinsichtlich der Tatsache, dass sich der ihrem Terminus hier zugrundeliegende Begriff weit über optisch wahrnehmbare oder optisch vorgestellte Schönheit hinaus erstreckt und der visuelle Aspekt kaum mehr als eine Nebenrolle spielt. Jedenfalls lässt sich mittlerweile Wittgensteins Ethik und Ästhetik sind Eins nicht nur in einer zusätzlichen Deutungsweise zustimmen, sondern auch Verständnis dafür aufbringen, dass es in den ethisch-dogmatischen Debatten geschichtsträchtiger islamisch-theologischer Denkschulen (Mutazila, Aschariya, Maturidiya u.a.) zur Frage, inwiefern Handlungen und Konzepte an sich gut sein können, immer fast ausschließlich um ihre „Schönheit“ (ħusn) und „Hässlichkeit“ (qubħ) ging. Tatsächlich wird man jenseits naturwissenschaftlicher Herangehensweisen, die anderswo durchaus ihren berechtigten Platz haben und hier irrelevant sind, für ein Kausalmodell menschlicher Aktivität bei konsequenter Betrachtung letztlich immer bei einem Konzept der Liebe und infolge dessen bei einem Konzept der Schönheit landen.112 113

Die Essentialität der Rolle der Ästhetik mutet wie die Eigenschaft eines bloß instinktgesteuerten Systems an, doch erstens ist der Unterschied, dass in einem bloß instinktgesteuerten System alle Wertbeimessungen (soweit von solchen dort überhaupt die Rede sein kann) bloße Folgen der Ästhetik sind (wenn nicht auch oder nur von materiellen Mechanismen), und in einem ethikfähigen System hingegen ein Teil der Ästhetik eine Folge von Wertbeimessungen ist. Letzteres impliziert, dass sich hier eine neue Wertbeimessung prinzipiell als Neujustierung des ästhetischen Präferenzengefüges niederschlägt, indem der Blick auf die schon zuvor vorhandene, aber nicht oder nur schwach wahrgenommene Ästhetik des Gegenstands gelenkt oder mental sogar Ästhetik gezielt produziert wird, um sie mit dem Gegenstand zu assoziieren. Auf diese Weise lassen sich sogar Gegenstände attraktiv machen, die dem Menschen von Natur aus eher unbeliebt sind, z.B. Arbeit oder eintönig-mühsam sportliche Betätigung etc. Denn es ist davon auszugehen, dass die non-transzendental ästhetischen Bewertungen des Menschen dreierlei Ursprungs sind: 1.) Primordiale Veranlagung, durch die z.B. die meisten Menschen die Erscheinung einer Rose oder das Erleben eines süßen Geschmacks als schön bewerten. 2.) Soziale Einflüsse (auch in Form temporärer Trends), durch welche in den einen Jahren z.B. Schlaghosen als schön, in den anderen als hässlich gelten, und sogar von Natur als hässlich Empfundenes im Zuge eines Überlagerungs- oder Hyperkompensationseffektes als schön wahrgenommen wird, z.B. mancher Gesichtsschmuck, der für die einen eben Schmuck, für die anderen aber abstoßende Verstümmelung ist.114 3.) Eigene Wahl bzw. der Effekt einer (logisch-ontologisch oder zeitlich) vorausgehenden transzendentalen Wertbeimessung. Sicherlich steht auch die Fähigkeit des Menschen damit im Zusammenhang, ästhetische Aspekte eines Gegenstandes auszublenden und das Bewusstsein um seine unästhetischen zu erhöhen, und umgekehrt. Quantitativ dürfte dieser dritte Ursprung der am geringesten unter den dreien in der Realität vertretene sein. - Zweitens ist der Mensch für ein Spektrum der Ästhetik veranlagt, das weit über dasjenige der Tiere hinausgeht, z.B. die Ästhetik des Sternenhimmels, die Ästhetik der Absolutheit, die Ästhetik der Weisheit (V) , die Ästhetik der Wahrheit (V), die Ästhetik der Idee schierer Transzendenz115, einer mathematischen Beweisführung oder eines philosophischen Gedankengebäudes etc.

Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass das Humansystem sich nur so lenken bzw. aus den Bahnen seiner Instinktsteuerung hinaus auf eine höhere Ebene führen lässt. Die niedere Selbstheit muss sozusagen überzeugt werden, dass die Ausrichtung auf den Gegenstand der transzendentalen Wertbeimessung zu höherer Wohlseligkeit führt als jede andere Ausrichtung. Somit wird eine normale Verfolgung von Wohlseligkeit hergestellt, nur eben mit besonderer Ausrichtung. Dies genügt, um die zu Beginn genannten Phänomene zu erklären, denn abgesehen von den  evtl. apriorisch erklärbaren sind das genau die Phänomene, deren Erscheinung bei intelligenten, instinktgetriebenen116 Wesen beim Anstreben von Wohlseligkeit zu erwarten ist.

Zu der Berücksichtigung der schieren Wertbeimessung als Faktor würde mancher wohl auch zählen, dass ein Mensch je nach Grad der Wertbeimessung die jeweiligen Phänomene nicht nur dementsprechend unterschiedlich stark an den Tag legt, sondern auch unterschiedliche Arten von Phänomenen, wobei sich dies alles in Wirklichkeit eher mit der conditio humana begründen lässt. Doch tatsächlich ist es typisch für einen Menschen, derselben Art von Gegenstand mit einem umso stärkeren Verhalten der selben Art seiner Wertschätzung Ausdruck zuverleihen, doch demjenigen Vertreter der Art des Gegenstandes, der sich im Vergleich zu den übrigen Vertretern der höchsten Wertschätzung des Subjekts erfreut, mit einem Verhalten einer anderen Art nur ihm zu begegnen, z.B. Händeschütteln für wertgeschätzte Menschen, je mehr wertgeschätzt, desto länger oder kräftiger, und für die am meisten wertgeschätzten einen Kuss o.ä.117 Wie sich die Grundphänomene äußern, hängt also auch von der Höhe der Wertschätzung in Relation zur Wertschätzung anderer Gegenstände ab. Besondere Unterschiede hierin treten zutage, je nach dem, ob der Gegenstand einem, so sehr auch, aber noch immer weniger als die eigene Selbstheit wert ist, oder genauso viel, oder noch mehr, oder je nachdem, ob man sie um der eigenen Selbstheit oder um etwas anderes oder um den Gegenstand selbst willen wertschätzt. Darum äußert sich die Wertschätzung des einen gegenüber seiner Partnerin in einer starken Bemühung um ihren Schutz in Form eines sprichwörtlich besitzergreifenden bis tyrannischen Umgangs und der extremen Einschränkung ihrer Freiheit, was sich wie jede Schutzbemühung durchaus als Ausprägung der Wahrnehmungsbestrebung etc. deuten lässt, die Wertschätzung des anderen hingegen in der Einschränkung der eigenen Freiheit und in der Neigung zum gehorsamen bis hin zum unterwürfigen oder gar sklavischen Verhalten, weil die Person ihm noch mehr wert ist als sein eigenes Selbst oder er sie um als höher Angesehenes als um der eigenen Selbstheit willen oder um ihrer selbst willen wertschätzt (Absolutsetzung).

Die phänomenalen und praktischen Effekte einer Wertbeimessung und die Form der Effekte bestimmen sich im Individuum also nach drei Faktoren:

  1. Natur des Gegenstands in der Auffassung des Akteurs
  2. conditio personalis
  3. Relative Position des Gegenstands in der individuellen Wertehierarchie des Subjekts

Dies ist zunächst einmal kein ethischer Imperativ, sondern nur eine empirisch festgestellte Tatsache, aus der allein keine ethischen Imperative abgeleitet werden können. Von dieser hat sich aber schon abgezeichnet, dass ihre Kenntnis zur Feststellung ethischer Normen dienlich sein kann. Um eine solche Dienlichkeit für die Formulierung der Normen einer Ethik mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit (zumindest für Menschen, da im gegenwärtigen Leben eine abstraktiv-dialektische Kommunikation mit anderen als solchen nicht zu erwarten ist) zu gewährleisten, muss als notwendige, wenn auch allein noch nicht hinreichende Bedingung an die Stelle dieses Faktorentripletts freilich seine Objektivierung und Universalisierung treten, so dass es sich wie folgt darstellt:

  1. Natur des Gegenstands, wie sie wirklich oder quasi118 wirklich ist.
  2. conditio humana
  3. Relative Position des Gegenstands in einer universalen Wertehierarchie

Dies sind die drei Faktoren der „Physik“ der Würdigung, von denen im Titel dieses Abschnitts die Rede war.

Überbrückung des Unüberbrückbaren

Damit ist die Grundlage für die Überwindung des zuvor unüberwindbar und Überbrückung des zuvor unüberbrückbar Scheinenden gelegt. Diese Unüberwindbarkeit hatte übrigens nicht nur die Gestalt einer Sein-Sollen-, sondern auch sozusagen119 einer Sollen-Sollen-Schranke, denn zunächst war, ist und wird es immer unmöglich bleiben, direkt aus einer noch so idealen Wertbeimessung (also einem objektiven Wertzukommnis) eine Handlungsnorm ohne Weiteres rational abzuleiten oder diese an ihr abzulesen. Ohne das Faktorentriplett weist z.B. nicht das Geringste an einer Erkenntnis (S) als solche, derzufolge das Leben besonders wertvoll sei, darauf hin, dass man es zu schützen, zu schonen oder im Notfall zu retten (statt z.B. es lediglich zu besingen) habe, ja zunächst nicht einmal am Zukommnis eines hohen Wertes zur Kategorie einer reinen Handlung, dass diese auch nur zu tun sei, geschweige denn zu einer Entität, was in Bezug auf sie oder ihretwegen zu tun sei.  Doch mit dem Wissen, ...

... lassen sich Akte und Haltungen stellvertretend für ihnen mit hinreichender Eindeutigkeit zugrunde liegende Wertbeimessungen je nach dem Verhältnis dieser zum Ursatz beurteilen und auf dieser Basis Normen formulieren, deren objektive Gewissheit zumindest nicht stärker eingeschränkt ist als die der gewöhnlichen empirischen Erkenntnis.120

Es lässt sich zudem hierdurch theoretisch im Voraus das komplette hierarchische Gebäude der zumindest für den Menschen gültigen Werte und Normen aus dem Ursatz entwickeln und aufbauen, indem überlegt wird, was ein idealtypisch beschaffener reifer Mensch mit typisch ausgereifter Wahrnehmung und epistemisch-kognitiver Auffassung, der die ethische Grundwahrheit des Ursatzes im Rahmen einer deckungsgleichen Urwertbeimessung wahrhaft anerkennt, insgesamt an Folgewertbeimessungen (inkl. Folge-Folgewertbeimessungen usw.) und Verhaltensmaximen aufgrund dessen hegen würde. - Praktisch ist dies aufgrund des Aufwands angesichts der Vielzahl der möglichen Gegenstände und ihrer Kombinationen freilich wohl nur in Bezug auf relativ kleine Ausschnitte des Gebäudes zu bewältigen.

Beispiel: Dem besagten Menschen, der voll anerkennt: |Würdiges ist würdig|, und diese ethische Grundwahrheit als eigene Wertbeimessung in sich aufnimmt, wird infolge dessen auch der Wertschätzung von Würdigem, und infolge dessen auch dem Potential zur Wertschätzung von Würdigem, und infolge dessen auch Trägern dieses Potentials (Träger als Bedingung von Wertgeschätztem), und infolge dessen auch dem Leben dieser Träger (zum einen als Eigenschaft von Wertgeschätztem, und zudem, wertsteigernd, als Bedingung von Wertgeschätztem) Würdigkeit beimessen. Da Menschen solche Träger des Potentials zur Wertschätzung von Würdigem sind, würde er Menschen Würdigkeit beimessen, und insofern umso mehr, als sich aus dem menschlichen Individuum etwas konstituiert, was dem Dasein und der Entwicklung von Menschen dienlich ist, nämlich die Gesellschaft. Dem Auge seiner Vernunft erscheint Menschenleben hierdurch unweigerlich als etwas Hochwürdiges, an dessen dauerhafter Wahrnehmbarkeit und Dasein er vital interessiert ist, auch - das Interesse steigernd - als Bedingung für die Interaktion mit Menschen. Zu seinen aktionalen Maximen wird also gehören, Menschenleben zu bewahren und ggf. bedrohtes Menschenleben zu retten. Eine Reihe weiterer Faktoren, derer sich jeder reife Mensch mindestens unterschwellig bewusst ist, steigert die Würdigkeit, die er der Bewahrung und Achtung des Menschenlebens, ja des Lebens allgemein beimisst. Dazu zählt beispielsweise, dass sich die Rücksichtslosigkeit einer Person in Bezug auf Menschenleben als Haltung auf andere übertragen kann, und schon, dass sich bereits einmalige Rücksichtslosigkeit zersetzend auf die eigene weitere Disziplin im Umgang mit Menschenleben auswirken kann, d.h. die Gefährdung von einem Menschenleben ist häufig zugleich die Gefährdung vieler Menschenleben, und im Umkehrschluss die Behutsamkeit gegenüber einem Menschenleben Behutsamkeit gegenüber allen Menschenleben, folglich auch gegenüber dem eigenen Menschenleben, folglich auch gegenüber dem eigenen Potential zu ethischer Wertschätzung. Er würde also automatisch viele ethische Folgekorrelate bilden, oder die Ausbildung einer Struktur des Verhaltens und der Verhaltensmaximen durchlaufen, die äquivalent wäre zur Bildung mehrerer ethischer Folgekorrelate, darunter: |Menschen sind würdig|, |Menschenleben ist würdig||Menschenleben zu bewahren ist würdig (obligat)| und |Einen Menschen zu töten ist unwürdig (verwerflich)|.

Jeder dieser entstandenen Sätze ist, analog zum Ursatz, als Abgleichssatz weiterer Urteile und als Kriterium geeignet, denn da er vom Ursatz abgeleitet ist, ist ihm zu widersprechen zugleich ein Widerspruch gegen den Ursatz.

Nun sind moraltheoretisch mindestens zwei verschiedene Herangehensweisen möglich - beide dienen ein und demselben Zweck:

Einen Satz |Menschenleben zu bewahren ist obligat| als absolut-objektive Norm mag es zwar in der apriorischen Ethik nicht geben können, dafür aber, in der baumgerüst-orientierten Perzeption, immerhin als Abkömmling des schon eher (wenn auch noch längst nicht wirklich) absolut-objektiven Urteils |Menschenleben ist würdig|, spätestens aber des absolut-objektiven Ursatzes |Würdiges ist würdig|. - Genauso wenig mag es ihn in der früchteorientierten Perzeption als absolut-objektive Norm geben, dafür aber immerhin als Abkürzung für eine ein absolut-objektives Urteil voraussetzende, komplexe Prognose: Jeder richtige Pflichtsatz nämlich, der spezifischer als der Ursatz ist, sagt eigentlich nicht einfach nur „Du musst X tun“, bzw. wenn er dies tut, dann steht dahinter eigentlich eine Aussage, in welcher auch zum Ausdruck kommt, dass das Prinzip, dass sich aus faktualem Sein kein Sollen ableiten lässt (und somit die bloße Verwurzeltheit eines Verhaltens in der Natur des Menschen keinen ethischen Wert begründet), keineswegs verletzt wird, nämlich: „Wenn du a) von einem gewissen Teil der Welt eine akkurate Kenntnis hast und b) deine persönliche Natur und Umstände die einer ausgereiften und ungestörten conditio humana sind sowie c) deine Urwertbeimessung mit dem Ursatz mängelfrei übereinstimmt, dann wirst du X in Situation Y tun“ oder „... hast du bereits die Verhaltensmaxime X.“ - Beachtet sei übrigens die Harmonie zur Neufassung des Willensbegriffs (Eintrag §21).

So lässt sich dann auch aus der Würdigkeit von so etwas Abstraktem wie einer reinen Handlungskategorie „ableiten“, dass sie überhaupt getan bzw. ihre realitäre Entsprechung herbeigeführt zu werden hat: Sobald der gesunde und wohlinformierte Mensch einer Handlungskategorie die Würdigkeit zuerkannt hat, stünde er unter dem Einfluss einer Ästhetik, die seine Wahrnehmungsanstrebung und Vergegenwärtigungsbemühung etc. in ihre Richtung lenkt, und da eine Handlung oder Situation nicht wahrnehmbar ist, wenn sie nicht verwirklicht wird, wird er unausweichlich sie zu verwirklichen versuchen. Weder dies ohne die Würdigkeit, noch die Würdigkeit ohne dieses, wohl aber dies zusammen mit der objektiven Würdigkeit einer Handlung ergibt den Imperativ (d.h. lässt sich abkürzen zu): „Du musst die Handlung/Situation realisieren“.

Die Überbrückung birgt zudem die Lösung für ein ansonsten verzwickt scheinendes Problem: Offensichtlich kann man nicht nur Willentlichkeiten (wie z.B. Handlungen) Würdigkeit bzw. einen Wert zuordnen, sondern auch Entitäten und statischen Idealitäten (insbesondere Konzepten), die keine oder keine eindeutigen Willentlichkeiten bzw. Handlungen sind. Jemand könnte dies damit wegzuinterpretieren versuchen, dass bei der Zuordnung eines Werts zu einer Entität in Wirklichkeit oder wenigstens im Endeffekt indirekt oder implizit lediglich der Wert einer Handlung beigemessen werde, nämlich einer solchen, die bezüglich der Entität möglich oder passend ist („schützenswürdig“, „förderungswürdig“, „liebenswürdig“ etc.). Somit wären anstelle von Entitäten Willentlichkeiten die hauptsächlichen Gegenstände von Bewertung und Beimessung von Würdigkeit. Dann wiederum stellt sich die Frage: Wenn Letzterem so ist, wie kommt es dann aber, dass man beim Zurückverfolgen von Würdigkeitsketten bei keiner Handlung stehenbleiben kann (s. Eintrag §11)? Bei solchen Herleitungen landet man am Schluss ja bei einer Entität oder einer für diesen Zusammenhang zu einer solchen äquivalenten statischen Idealität (S), und nicht bei einer Handlung oder sonstigen Willentlichkeit, zumal eine Handlung immer nur eine Handlung um etwas willen ist und ein Selbstzweck einer Handlung nicht vernünftig denkbar ist. Wie ist das miteinander zu vereinbaren? Mit dem zuvor Besprochenen liegt die Antwort auf der Hand: Eigentlich würdig ist allenfalls die Entität oder die Idealität, während die Würdigkeit der Handlung lediglich eine Reflexion der Würdigkeit jener und die Art der Handlung eine Reflexion der Naturen von Akteur und Gegenstand ist.

Es ändert sich also, abweichend vom Anschein, nicht allzu viel an der Richtigkeit des Anspruchs, den Immanuel Kant (1724-1804) an eine gültige Ethik stellte: Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse [...], daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet [...], zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann. Also unterscheiden sich die moralischen Gesetze, samt ihren Prinzipien, unter allem praktischen Erkenntnisse von allem übrigen, darin irgend etwas Empirisches ist, nicht allein wesentlich, sondern alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie) [...].122 Dieser Anspruch ist allerdings nur solange richtig, wie man nicht statt von der Existenz eines singulären von derjenigen einer Vielzahl vollkommen apriorischer ethischer Sätze ausgeht. Insofern spielen Empirie und Anthropologie in der Ethik, wie gesehen, eine größere Rolle, als es hier bei Kant den Anschein macht.123 Und dennoch ist diese Rolle weniger im Grundprinzip als eher nur methodisch wesentlicher für die Ethik als in Kants Entwurf (dessen Interpretation übrigens heftiger umstritten ist, als allgemein angenommen wird).

Fragt man aber, welchen Sinn es denn habe, die abgeleiteten Normen imperativ bzw. unter Einbezug des Begriffs des ethischen Müssens zu formulieren, und ob sie nicht in Wirklichkeit eben lediglich deskriptive Voraussagen menschlichen Handels darstellen, so ist nicht nur der ihnen anhaftende Vorteil der Abkürzung eines recht unhandlichen Satzes (s.o.: „Wenn du..., dann wirst du...“) kaum von der Hand zu weisen. Obendrein stellt diese Form gewissermaßen ein „Echo“ der Würdigkeit aus dem ethischen Ursatz dar, so dass diese in der abgeleiteten Norm hierdurch einen Wiederhall findet. Was einer solchen Norm widerspricht, das widerspricht letztlich und in Wirklichkeit nicht ihr, sondern nur dem Ursatz. Zu guter Letzt macht dem Individuum eine solche Formulierung bewusst, dass es im Falle abweichenden Handelns die Urwertbeimessung noch nicht zur Genüge vollzogen hat und dies - und das ist durchaus normativ aufzufassen - nachzuholen hat. Die Formulierung trägt somit immer einen echten ethischen Satz mit sich.

Die Analogie zwischen Sätzen und Akten - eine Aktsprechtheorie

[§40] Zwar ist die baumgerüstorientierte Herangehensweise fruchtbarer als die früchteorientierte - naturgemäß ist ein Baum selbst grundsätzlich fruchtbarer als seine Früchte - und bildet in diesem Repositorium den größeren Schwerpunkt, doch zur Ergänzung des Eintrags §39 und zur Verfestigung seiner Schlussfolgerungen bietet sich in der früchteorientierten Herangehensweise die folgende Erläuterungsweise an, die zudem die Anfreundung mit dem Konzept der Handlungssnorm als Abkürzung erleichtern soll, indem gezeigt wird, dass es sich hier nicht um eine stipulativ-willkürliche Deklaration handelt (was, wenn es so wäre, aber nichts am Kern der Sache ändern würde).

Mit dem Wissen aus dem besagten Eintrag lassen sich Handlungen und Haltungen als aktionale Sätze - analog zu deklarativen, verbalen Sätzen - auffassen, die tiefer liegende Einstellungen formulieren und auf dieser Grundlage stellvertretend für diese Einstellungen als obligat, verwerflich oder indifferent eingeordnet werden können.

Beim Akt des Mitteilens gibt es Rede in Form des gesprochenen Satzes. Dieser besitzt eine äußere Realität, welche sich in hörbaren Lauten oder sichtbaren Buchstaben manifestiert. Diese sind es nicht, wofür man sich als kritischer Adressat in der Mitteilungssituation vorrangig interessiert. Vielmehr ist der Inhalt bzw. der Sinn eines solchen Satzes der eigentliche Gegenstand, der als Faktum oder Nicht-Faktum bewertet werden will. Der Inhalt ist ein angebliches Faktum, eine Behauptung (S). Zur Bewertung gleicht der Adressat diesen Inhalt mit der Realität bzw. mit seinen empirisch etablierten Vorannahmen ab. Korrespondiert der Inhalt mit der Realität, handelt es sich bei dem Inhalt um ein Faktum und der Satz ist richtig, ansonsten nicht und der Satz ist falsch. Letzterem ist tatsächlich so, obwohl nicht der Satz als formales, sprachliches Gebilde im Fokus der Untersuchung steht.124 Denn es ist als sprachlich normal etabliert, dass wenn wir sagen, ein deklarativer Satz sei falsch, diese Beurteilung dann letztlich seinen Inhalt und nicht den Satz an sich als sprachliches Konstrukt betrifft, es sei denn, wir sind vielleicht Sprachwissenschaftler oder Grammatiker und kritisieren in einem entsprechenden Kontext an ihm eine fehlerhafte Wortwahl oder Anwendung der Grammatik, was ja auch dann vorliegen kann, wenn der Inhalt trotzdem einwandfrei zu erkennen ist oder außerdem sogar mit der Realität korrespondiert.

Allerdings schließen wir als Hörer oder Leser durchaus vom Satz als sprachliches Konstrukt auf seinen Inhalt, und der Grund, warum wir dies können - oder zu können glauben -, ist, dass wir davon ausgehen können - oder meinen, dies zu können - dass sich der Sprecher hinsichtlich Grammatik und Wortwahl an dieselben sprachlichen Konventionen hält, in deren Licht wir seinen Satz verstehen, sprachlich gewissermaßen genauso konditioniert ist wie wir. Für diese Annahme wiederum können wir selbst dann eine gute empirische Legitimation haben, wenn nur der Satz bekannt ist, nicht aber sein Sprecher: Vergleichsweise ist es äußerst selten, dass ein Satz nach dem Vokabular und der Grammatik einer bekannten Sprache sinnvoll ist, obwohl sein Verfasser ihn im Rahmen einer völlig anderen, fremden Sprache formuliert hat125. Der Grund, warum ein Satz einen bestimmten Inhalt zuverlässig auszudrücken und diesen mitzuteilen und zu transportieren vermag, ist eine bestimmte Wortwahl und Grammatik, nach denen er geformt und zusammengestellt ist.

Analog verhält es sich mit Handlungen: Bei diesen gibt es Aktivität in Form einzelner oder zumindest als solche individuierbarer Akte. Ein Akt besitzt u.U. eine äußere Realität, welche z.B. in Bewegungen bestehen kann. Der so definierte Akt ist nicht der eigentliche Gegenstand der ethischen Beurteilung. Vielmehr ist wie beim mitteilenden Satz der „Inhalt“ des Aktes - sein Gehalt - der Gegenstand der Beurteilung, und zwar hier als würdig (obligat), unwürdig (verwerflich) oder indifferent. Der Gehalt ist im Allgemeinen freilich kein angebliches Faktum, keine Behauptung, denn nicht mit jeder Handlung will der Handelnde etwas mitteilen, sondern er ist selber eine Beurteilung bzw. Bewertung und Wertbeimessung, und zwar bezogen auf einen hinter dem Akt stehenden Fürgrund. Dies ist einerseits vereinfacht ausgedrückt, denn genauer gesagt besteht der Gehalt in einem ganzen relevanten Ausschnitt aus der Wertehierarchie des Akteurs. Korrespondiert diese Hierarchie-Teilmenge mit einer Teilmenge der idealen Wertehierarchie (welche sich auf Basis des eine optimale Urwertbeimessung enthaltenden Faktorentripletts aufbaut), handelt es sich bei dem „Inhalt“ um eine Würdigkeit (S) und der Akt ist obligat, andernfalls ist er verwerflich (indifferent sind derweil Akte ohne jeglichen Gehalt). Andererseits ist ohnehin eine Urwertbeimessung der Keim, dem die Wertehierarchie eines Akteurs entspringt, so dass die Prüfung letztlich nur der Frage gilt, ob der betreffende Akt eine Urwertbeimessung als Gehalt hat, die mit dem Ursatz übereinstimmt, oder aber eine, die ihm widerspricht. Jedenfalls lässt sich das Urteil in der kommunikativen Praxis in der genannten Weise auf den Akt beziehen, obwohl nicht der Akt als z.B. Abfolge von Bewegungen oder Auswirkung im Zentrum der Untersuchung steht; wenn wir sagen, ein Akt sei verwerflich, dann gilt diese Beurteilung idealerweise eigentlich seinem Gehalt, also der Gesinnung bzw. der sie umfassenden Absicht, die dem Akt zugrunde liegt und in ihm zum Vorschein kommt, und zu diesem „Inhalt“ gehört nicht nur das ultimative Vorhaben, sondern auch der finale Wertträger (siehe Einträge §11 und §48). Für den Akt als Abfolge von Bewegungen oder Vorgehensweise interessieren wir uns eher nur, falls wir vielleicht Techniker oder Therapeuten sind und prüfen wollen, wie effektiv der Akt ist, bzw. evtl. kritisieren, dass der Akt eine mangelhafte Effektivität besitzt, was ja vorliegen und die Gesinnung trotzdem zugleich einwandfrei zu erkennen sein oder mit einer bestimmten Wertehierarchie-Teilmenge korrespondierend sein kann. Dennoch ist es in der Praxis der Akt, den wir obligat oder verwerflich nennen, wie wir auch von falscher Rede (!) sprechen oder einen Satz falsch nennen, auch wenn er hinsichtlich der Grammatik und Wortwahl richtig ist.

Wie wir als Hörer oder Leser von einem Satzkonstrukt auf seinen Inhalt schließen können, können wir als Beobachter vom Akt auf die Gesinnung schließen, nur eben nicht wie beim sprachlichen Satz aufgrund von Wortwahl- und Grammatikkonventionen, sondern aufgrund der conditio humana und der Kenntnis der Natur des Handlungsgegenstands, die wir beim Akteur genauso als gegeben annehmen wie sein Bewusstsein. Der Grund, warum ein Akt zuverlässig auf eine bestimmte Gesinnung zu schließen lassen vermag, ist eine bestimmte Natur und eine bestimmte epistemische Auffassung, auf deren Boden der Akt vonstatten geht.

Ein Satz äußert einen Sinn, ein Akt eine Gesinnung. - Wie kommt es nun, dass wir wie selbstverständlich von wahren oder falschen Worten und obligaten oder verwerflichen Handlungen reden, obwohl diese Attribute den Bedeutungen und den Absichten gelten sollten? Es scheint ja nicht einmal sicher, dass wir bei solchen spontanen Zuschreibungen ohne weitere Reflexion die tiefer liegenden Gegenstände wenigstens meinen, sondern nur, dass wir sie meinen sollten (womit sozusagen eine etablierte unabsichtliche Metonymie vorläge). Auch wenn die Beantwortung dieser Frage eine geringere Relevanz für unser Anliegen besitzen sollte, lässt sich hierzu sagen, dass Satzkonstrukte zwar nicht Realitäten, sondern epistemische Korrelate direkt abbilden und erst diese im Idealfall die Realität, ein Satzkonstrukt die Realität also nur indirekt abbildet, aber immerhin so und daher eben doch abbildet. Hierdurch steht das Konstrukt am Ende einer Korrespondenzverkettung, aufgrund derer durchaus gewissermaßen die Rede von einer Korrespondenz eines Satzkonstrukts mit der Realität oder seiner Abweichung von ihr sein und das Konstrukt folglich in diesem Sinne wie sein Inhalt wahr oder falsch sein (oder zumindest mit gutem Grund so erscheinen) kann. Analog verhält es sich mit Akten: Ein „würdiger“ Akt bildet den Ursatz nicht direkt ab, sondern allenfalls eine individuelle Urwertbeimessung und erst diese den Ursatz. Immerhin bildet der Akt den Ursatz indirekt ab, so dass eine indirekte Übereinstimmung ebenso wie eine indirekte Abweichung möglich gewesen wäre. Was aber vom Ursatz abweicht bzw. ihm widerspricht, ist als unwürdig zu beurteilen, sei es eine Wertbeimessung oder nur ihr Abbild.

Desweiteren können wir davon ausgehen, dass das Phänomen eine kognitionspsychologische Bewandtnis hat, zurückgehend darauf, dass Bedeutungen und Absichten im Unterschied zu Lauten und Bewegungen sinnlich nicht direkt erfahrbar sind, sondern nur über den Weg des Intellekts einigermaßen erahnt werden können, und daher im Bewusstsein für Zuschreibungen zunächst Sätze und Akte sozusagen als Platzhirsche anstelle ihrer Hintergründe im Vordergrund stehen. Da die hierauf gründende Metonymie zwar unabsichtlich sein dürfte, aber immerhin sehr etabliert zu sein scheint, spricht dies dafür, sie weiterhin und durchgehend zu verwenden, wenn zugleich im Bewusstsein behalten wird, dass es bei der Beurteilung eines Aktes stets sein Hintergrund ist, dem sie eigentlich gilt. Dies ist auch dann im Bewusstsein zu halten, wenn ein ganzer Katalog in diesem Sinne obligater und verwerflicher Akte erstellt und unterbreitet wird.

Ein solcher Katalog wäre nicht einmal rein metonymischen Inhalts, jedenfalls nicht nur auf diese Weise, denn hinzu kommt: Im Sinne einer kommunikationsökonomisch sinnvollen, wenn nicht notwendigen Abkürzung für eine Feststellung, derzufolge ein ideales Individuum, also eines mit optimaler Urwertbeimessung, normaler conditio personalis und intakt ausgereifter epistemischer Auffassung den betreffenden Akt nicht nur ggf. tun oder unterlassen, sondern im Rahmen einer Folgewertschätzung unweigerlich grundsätzlich auch dementsprechend als würdig oder unwürdig einstufen würde, und zwar den Akt selbst und nicht nur seinen Hintergrund, weil sich dies für den Akt angesichts seiner Verankertheit in einer bestimmten Wertbeimessung aus den Grundimplikationen ergibt (6, 7, 8, 18), lässt sich zweifellos auch der Akt selber als „objektiv würdig“ oder „objektiv unwürdig“ einstufen. Eine solche Abkürzung wäre immerhin nicht weniger legitim als die Aussage, dass die Zitronen des nächsten Supermarkts gelb seien, oder unser Blut rot, zumal erstens unüberprüfbar ist, wie die Qualia-Wahrnehmung anderer Menschen außer jeweils einer Person selbst konkret aussieht, und zweitens auch die Farbwahrnehmung von Dispositionen abhängig ist und kurzfristige Dispositionsänderungen nie ausgeschlossen werden können. - Auf den eventuellen Einwand, welchen reformativen Sinn und Zweck eine Kommunikation habe, in welcher vordergründig Akte bewertet werden, wenn eine Anerkennung oder Verwerfung letztlich doch nur ein und derselben, allen willentlichen Akten letztlich zugrundeliegenden Urwertbeimessung zu gelten hätte und nicht ersichtlich ist, warum sich diese verbessern sollte, wenn jemand lediglich der Aufforderung nachkommt, sein Agieren zu ändern, wird an anderer Stelle näher eingegangen. Hier begnügen wir uns mit dem Hinweis auf den kommunikationsökonomischen Vorteil und darauf, dass ein wichtiger Teil der Sprache sich nicht anders schützen und über Generationen hinweg erhalten lässt, wenn nicht grundsätzlich in dieser Weise gesprochen wird.

In einem anderen Erläuterungsansatz, nach welchem der Name eines Akts nicht als Metonym für die Gesinnung nachträglich zugelassen, sondern als genuin multikonzeptioneller Ausdruck aufgefasst wird, ließe sich der Sachverhalt auch folgendermaßen darstellen: Der Name eines Aktes steht grundsätzlich nicht nur für den bloßen Akt, welcher nicht viel mehr als ein kahler Vorgang ist, sondern in der Sprache und ganz besonders im ethischen Denken auch für ein ganzes Gebilde, innerhalb dessen der bloße Akt lediglich eine von mehreren Komponenten darstellt, nämlich für ein Werk. Erst dieses ist dann ethisch relevant. Beispielsweise ist die Gabe von Geld, sieht man sie als bloßen Akt an, nicht viel mehr als der hauptächlich aus bestimmten Bewegungen bestehende Vorgang. Fasst man sie aber als Werk auf, kommt für die Gabe Bezahlung, Spende, Schenkung oder ein Schauspiel zu sein in Frage. Offensichtlich ist das Wesentliche für die Einstufung als Werk die Bindung des Akts an eine Absicht. Die Bindung beruht auf der conditio humana und der Natur des betreffenden Gegenstands. Die Absicht enthält derweil stets eine Urwertbeimessung (s. Eintrag §48). Steht diese mit der ethischen Grundwahrheit (S) (dem „Ursatz“) in Konflikt, kann aufgrund der Einheit von Akt und Absicht im Werk im Einklang mit den Regeln der Sprache und unserer Kognition problemlos über das ganze Werk gesagt werden, dass es unwürdig sei, bzw. wenn sie mit der Grundwahrheit (S) übereinstimmt, dass es würdig sei, wie ja auch über einen Pfeil gesagt werden kann, er stecke in der Beute, auch wenn dies im strengsten Sinn nur für seine Spitze zutrifft. Über einen Herd sagen wir, er sei „an“, auch wenn nur ein Teil seiner Komponenten von Strom durchflossen wird. Und für uns springt ein Auto an (oder auch nicht), auch wenn genau genommen nur der Motor des Wagens das sein kann, was anspringt.

Vollständig kann ein Werk nur durch die Referenzierung aller Elemente der Vorhaben- und der Wertbeimessungskette bis hin zur Urwertbeimessung beschrieben werden. Da dies bei den meisten oder gar allen Werken praktisch schier unmöglich ist, ist fast oder ganz jede Bezugnahme auf ein Werk nur als Abkürzung oder Anspielung möglich, weshalb sowohl eine für einen bloßen Akt geeignete Bezeichnung wie „ihm Geld geben“ als auch sichtlich eine ein Werk meinende Bezeichnung wie „ihn bezahlen“ gleichermaßen für ein Werk stehen können. Und so ist jede Beurteilung einer Handlung in der Ethik die Beurteilung eines Werks und lautet „obligat“, „verwerflich“ oder „unerheblich“, es sei denn, es ist nicht die Erschließung einer Norm beabsichtigt, sondern nur eine allgemeine Einordnung in eine Ranghierarchie als würdig, unwürdig oder indifferent, wie sie auch für Entitäten vorgenommen werden kann; im Kontext einer solchen Einordnung ist ein Akt genauso ein Nicht-Werk wie eine Entität.

Vor unserem so ergänzten und erläuterten gewonnenen Hintergrund lassen sich in der Theorie ebenfalls und weiterhin normative Urteile und entsprechende Imperative formulieren, solange die Prämisse der Geltung für den gewöhnlich konditionierten Menchen mit gewöhnlicher Auffassung etabliert bleibt. Unter der genannten Prämisse gibt es also ein Urteil |Leben zu bewahren ist obligat|:

Als Kandidat für das hier referenzierte objektive Wertzukommnis läge zunächst |Leben ist würdig.| im Blick. Freilich ist letztlich die ethische Wahrheit |Würdiges ist würdig.| das absolut-objektive Urteil, während |Leben ist würdig.| zwar insofern objektiv ist, als es auf das absolut-objektive Urteil zurückgeht statt in den niederen Neigungen final zu wurzeln und geringfügig weniger relativ ist als die aus ihm abgeleitete Handlungsnorm, jedoch ebenfalls keine voll absolute Objektivität beanspruchen kann, da es selbst auf die Grundwahrheit zurückgeht und dieses Zurückgehen nicht allein von Prinzipien des Intellekts, sondern auch von kontingenten Gegebenheiten der Natur und Realität bedingt wird. Als auf eine Nicht-Handlung bezogene Wertbeimessung (S) scheint der Satz, anders als das handlungsnormative Urteil, keine abkürzende Prognose sein zu können, die auf einem naturgesetzlichen Resultieren seines bewerteten Gegenstandes aus einer tieferliegenden Wertbeimessung beruht, doch ist er als Abkürzung und alternative Formulierung der ethischen Anforderung verstehbar, das ethische Korrelat |Leben ist würdig.| (als Folgewertschätzung) zu bilden, d.h. als Individuum Leben Würdigkeit zuzuordnen; diese Anforderung wiederum lässt sich wie die obige und jede andere Handlungsnorm aufschlüsseln, d.h. mit der Feststellung, dass eine gerechte Gesinnung mit einer gesunden Natur und Auffassung kombiniert den Akt der Bildung des Korrelats unweigerlich zur Folge hat.

Allgemein ist nicht zu erwarten, dass sich ein Korrelat, das nur eine „Abkürzung“ und somit nur ein Scheinkorrelat ist, in einer objektiven Wertehierarchie wiederfindet. In der zuletzt genannten Perspektive aber besteht der hinter der Abkürzung versteckt referenzierte Akt in der Bildung eines echten Korrelats. Das Korrelat ist somit mindestens Bestandteil der Wertehierarchie jedes reifen, gesunden und gerechten menschlichen Individuums. Und spezifisch als die optimale Wertehierarchie des Menschen definiert ist die Abstraktion (S) dieses Wertegebildes für jeden reifen und gesunden Menschen objektiv gültig, kraft ihrer Verankertheit in der ethisch-objektiven Grundwahrheit und Speisung durch objektive, den Menschen und seine Auffassung von der Welt betreffende Gegebenheiten. Auch in dieser Kontemplation ist diese Definition bei jedem optimalen Wertegebilde vorauszusetzen. Dies ist völlig hinreichend, um dem Ziel eines ethischen Austauschs zu dienen, nämlich das Gegenüber, welches gewiss ein  Mensch sein wird, aufzuklären: „Das ist die Haltung, die du einnehmen wirst, wenn deine innerste Gesinnung mängelfrei gerecht ist.“ Wenn aber der Grund, aus dem eine auf eine non-aktionale Entität oder entitätsanaloge Idealität bezogene „Abkürzung“ als vollwertiges Korrelat in die objektive Wertehierarchie Eingang finden kann, das Prinzip der Folgewertschätzung ist, bedeutet dies, dass dies auch für handlungsnormative Abkürzungen zu erwarten ist, da auch Handlungskategorien Gegenstand von Folgewertschätzungen sein können.

Kritische Überprüfung der metaethischen Konstruktionsbasis

[§41] Es gibt also einen naturgesetzlich unabhängigen Generalwillen in Form einer Urwertbeimessung, einer Urzuordnung von Würdigkeit, die naturgesetzlich bedingt Folgewertschätzungen und -zustände nach sich zieht, die Folgewertschätzungen jeweils ihrerseits ebenfalls nach sich ziehen usw., so dass, wenn die Urwertbeimessung die Gestalt des idealethischen Ursatzes hat und hinreichend vollkommene und umfassende Kenntnis über die Natur des Akteurs und die Natur aller potentiellen Gegenstände seiner potentiellen Bezugnahmen besteht, sich auf Basis dieser Kenntnis theoretisch die gesamte für den Akteur gültige Ethik konstruieren lässt. Diese ist in Wirklichkeit eine durch die besagte Kenntnis ermöglichte Menge von bedingten Voraussagen der aus naturgesetzlichen Gründen für den Fall einer idealen Urwertbeimessung zu erwartenden Haltungen und Handlungen (in der Früchteorientierung) oder Menge der epistemischen Gegenstände dieser Voraussagen (in der Baumgerüstorientierung). Aufgrund ihres Wurzelns in der ihrerseits naturgesetzlich unabhängigen Urwertbeimessung können die Voraussagen als Normen formuliert werden.

Nebenbei lässt sich noch sagen, dass sie normativ, imperativ oder in einer effektäquivalenten Form formuliert werden müssen, da auch der Ethiktheoretiker ein ethisch verantwortliches Wesen ist, das einen im ethischen Sinne positiven Einfluss auf die durch die Willentlichkeiten der Adressaten mitgeprägte Realität zu üben verpflichtet ist (auch wenn dies nur bedeutet, dass er dies tun wird, wenn er die Urwertbeimessung in der richtigen Form vollzogen hat und seine Natur und die Realität entsprechend strukturiert sind).

Nun könnten sich einige Fragen stellen...

Metaethische Relevanz der Beobachtung von Verhaltensweisen

„Wird in den Exemplifikationen das Verhalten, insbesondere das Folgeverhalten der Menschen nicht lediglich so gedeutet, als lägen ihm Wertschätzungen zugrunde, obwohl ihr Inneres nicht wirklich bekannt ist?“

Antwort: Es sind nur Beispiele, sozusagen als Anregung für den Leser, im Rahmen einer Selbstbetrachtung in den Reaktionen der eigenen Person die Bestätigung für die Implikation zu finden. Man betrachte die Exemplifikation nicht als typische Beweisführung, sondern eher als Erinnerung an die vorab bekannte Beschaffenheit unserer Natur. Die meisten Beispiele kommen uns ja deswegen so plausibel vor, weil wir die in ihnen vorkommenden Muster von uns selber so kennen und wissen, dass wenn wir an der Stelle der Beispielpersonen wären, wegen bestimmter Dinge die dort erwähnten Haltungen einnehmen würden, und dass das Fehlen gewisser Haltungen auf das Fehlen von gewissen Wertschätzungen unsererseits zurückgeht.

Individuelle Abweichungen von den Implikationen

„Was, wenn meine Wertbeimessungen keineswegs mit den aufgeführten Implikationen einhergehen?“

Antwort: Wenn dem nicht nur in Bezug auf bestimmte Dinge oder für eine kurze Phase so ist und du an dieser Anomalie unschuldig bist, dann gilt für den fiktiven Fragesteller - zunächst und vielleicht - eine spezielle Ethik, die sich von der allgemeinen Ethik leicht oder stark unterscheidet. Er muss dann aber damit rechnen, dass er von denen, für welche die allgemeine Ethik gilt, nicht als gesunder, reifer Mensch angesehen werden oder Teilnehmer an einem auf allgemeiner Ethik basierenden Diskurs sein kann. Im Maße der Abweichung seiner Grundnatur ist er außerdem noch kein primärer Adressat einiger Teile dieser Abhandlung. Jemand wie er kann dennoch eine ethisch korrekt eingestellte Person sein, denn der Vollzug der Urwertbeimessung kann seinerseits ja trotzdem stattgefunden haben, wenn auch ohne oder mit anderen Grundimplikationen, doch haben die ‚Normalen’ im Falle ihrer Kenntnis seiner Anomalie die Pflicht, zu verhindern, dass ein solcher einen nennenswerten gesellschaftlichen Einfluss erlangt, und zu diesem Zweck eine Bandbreite von Maßnahmen bereitzuhalten, die je nach Schwere und Tragweite der Anomalie von oberflächlichen pädagogischen Einflussmaßnahmen über intensive Therapien bis zur kompletten Entfernung aus der Gesellschaft reicht.

Sollte er die Anomalie willentlich herbeigeführt oder zugelassen haben, hat er im Übrigen die Pflicht, die Anomalie rückgängig zu machen. Eine Pflicht zur Normalisierung könnte je nach Art seiner Anomalie auch ohne diese Herbeiführung oder Zulassung für ihn bestehen. - Es ist aber anzunehmen, dass jedes Geschöpf, das den Würdigkeitsbegriff hat und zur Übersetzung von Würdigkeitszuerkennungen in eine Praxis mit dieser uns bekannten Welt als Objektbezug befähigt ist, also jedes handlungsfähige Vernunftwesen, den beim Menschen ethisch relevanten Teil der conditio humana besitzt, da seine Natur und sein Handeln sonst an einer an Unmöglichkeit grenzenden Widersprüchlichkeit litte.

Implikatorische Analogie emotionaler und transzendentaler Wertschätzung

„Werden in der metaethischen Grundlegung nicht hauptsächlich die Implikationen emotionaler Wertbeimessung anstelle intellektualer Wertschätzung exemplifiziert, oder gar sinnlicher Wert unzulässigerweise mit transzendentalem Wert gleichgesetzt? Woher wissen wir, dass transzendentale Wertschätzung - insbesondere im Fall der Urwertbeimessung - die gleichen Implikationen hat?“

In Beantwortung auch dieser Frage sei dazu ermuntert, sich die Sondierung der Implikationen auf dem Weg der Introspektion von der eigenen Natur bestätigen zu lassen und sich jeweils selbst die Frage zu stellen: Läge unter gewöhnlichen Umständen eine echte intellektuale, also nicht nur Empfindung, sondern Befindung darstellende Wertschätzung nach dem Begriff des Verdienens vor, wenn die betreffende Implikation bei mir nicht zustandekäme? Das Signifikante an der Verneinung dieser Frage ist dann nicht zuletzt die Gewissheit, mit welcher sie verneint wird. Diese bildet nämlich die Grundlage für die Gewissheit, dass die betreffende Implikation tatsächlich fest zu der intellektualen Wertschätzung gehört.

Ist es nicht so, dass wenn wir der Meinung sind, ein vernunftbegabter Mensch sei uns aufgrund einer in unseren Augen umfangreichen Wohltat, die wir ihm erwiesen zu haben glauben, zu großer und tiefer Dankbarkeit verpflichtet, und er aber ohne ersichtliche Möglichkeit einer Rechtfertigung auch nur eine passende jener Implikationen völlig missen lässt, z.B. durch totales Desinteresse an der Nähe zu uns oder an der Kommunikation mit uns, wir dann nicht nur verletzt und enttäuscht sind, sondern auch glauben, uns zu Recht verletzt und enttäuscht zu fühlen? Und beruht dies nicht darauf, dass wir seine Haltung als Indiz dafür sehen, dass er eine spezielle innere Bezugnahme, welche wir von Kleinkindern, geistig Behinderten und Tieren aufgrund ihrer von uns angenommenen intellektuellen Unfähigkeit nicht erwarten und somit für uns in mehr als nur sinnlich-emotionaler Wertschätzung besteht, weshalb wir uns hinsichtlich jener Unfähigen damit begnügen, wenn sie sich an unserer Wohltat erfreuen oder aus ihr Nutzen ziehen, zu uns und unserer Wohltat schuldhaft unterließ?

Zugleich wäre es nicht allzu problematisch, wenn einige der Implikationen zunächst allein für die Natur emotionaler Wertschätzungen oder sinnlichen Wertes typisch sind und allein auf dieser Grundlage das Zustandekommen eines Baumwerks von Wertschätzungen, Folgewertschätzungen, Folgehaltungen und Folgezuständen nachvollziehbar ist. Zugleich würde es genügen, wenn eine einzige, freie Urwertbeimessung der Keim ist, dem das Geflecht entsprießt. Hilfreich an dieser Vorstellung ist, dass auf sie aufbauend die der Frage zugrundeliegende Problematik ganz in die besser handhabbare Form der folgenden Frage gegossen werden kann: Wie kann sich eine transzendentale Würdigkeitszuordnung in einer, ja in einem Baumgeflecht emotionaler Folgewertschätzungen manifestieren, wenn aus der Erfahrung ein solches kausales Verhältnis und seine Regeln nur für non-transzendentale Wertbeimessungen bekannt ist?

Zu überwinden ist hier offenbar gewissermaßen keine Sein-Sollen-, sondern eher eine Sollen-Sein-Schranke (besser: Wertung-Faktum-Schranke). Eine untergeordnete Rolle mag indes die Frage spielen, ob mit der transzendentalen Wertschätzung einfach grundsätzlich eine spiegelgleiche emotionale Wertschätzung einhergeht, und erst aus dieser das Baumgeflecht hervorgeht, oder dieses direkt auf die transzendentale Wertschätzung aufsetzt. Wiederum im Rahmen einer Introspektion der oben erwähnten Art sollte aber die Überwindung der Schranke evident sein, denn wie schon in Eintrag §39 angedeutet, ist ein Gegenstand, dessen Würdigkeit feststeht, ebenso emotional wertzuschätzen, und zwar in einem seiner Würdigkeit entsprechenden Maße und mit allen dazugehörigen Implikationen, die mit dieser Würdigkeit nicht in Konflikt stehen (entsprechend ist ja zweifellos unangemessen, sich der Verabscheuung einer Unwürdigkeit zu enthalten oder diese gar emotional wertzuschätzen); d.h. in Kenntnis seiner eigenen Natur kann das Individuum mit Gewissheit verneinen, einem Gegenstand hohe Würdigkeit aufrichtig zugeordnet zu haben, wenn diesem gegenüber ohne Weiteres nicht die geringste emotionale Wertschätzung im Individuum zustandekommt, und sei es auch nur in Form der Implikationen einer solchen, falls z.B. der Gegenstand sinnlich weder zugänglich noch vorstellbar und darum direkt ihm sinnlichen Wert zuzuordnen nicht möglich ist, dafür aber z.B. dem Gedanken an ihn, seinem Namen etc., so dass infolge dieser Unmöglichkeit das Baumgeflecht sicherlich direkt auf die transzendentale Wertbeimessung aufsetzt, sonst geht es wohl aus einer spiegelgleichen bzw. parallel zur transzendentalen verlaufenden emotionalen Wertschätzung hervor.

Zur Vermeidung einer Verfälschung des introspektiven Resultats durch neutralisierende kognitive Interferenzen vonseiten bestehender Wertschätzungen und ihrer Implikationen ist übrigens die Vorstellung der aufrichtigen Zuordnung höchster Würdigkeit dienlicher als die der Zuordnung mittlerer und sonstwie bemessener Würdigkeit. Im gedachten Angesicht des so bewerteten Gegenstandes ist förmlich erlebbar, wie alles andere jenseits der zu seiner Wertschätzung gehörenden Implikationen seine ihm bis dahin beigemessene Wichtigkeit völlig verliert, wie alles andere für das Subjekt unwichtig wird. Dies wirkt sich im Individuum zwangsläufig als Verschwinden der Bereitschaft zu irgendwelchen zeitlichen und energetischen Aufwänden für das nunmehr unwichtig Erscheinende aus; niemand leistet für Unwichtiges gerne irgendeinen Aufwand. Offenbar werden die sinnlichen und emotionalen Wertzuordnungen temporär durch irgendetwas kompensatorisch neutralisiert. Latent sind sie an sich zweifellos noch da, denn viele von ihnen sind naturbedingt und erweisen sich nach der Rückkehr aus ideologischen Ausflügen und introspektiven Experimenten als nach alter Weise wieder manifest. Soweit als Faktor der Kompensation sinnlichen oder emotionalen Werts nur konkurrierender, ebenfalls sinnlicher Wert denkbar ist, ist die transzendentale Wertbeimessung folglich als mit einer entsprechenden sinnlichen oder emotionalen Wertbeimessung einhergehend anzunehmen. Das besagte Verschwinden ist also lediglich eine Verlagerung aller zeitlichen und energetischen Aufwände weg vom nunmehr Unwichtigen hin zum Wichtigen.

Sodann: Würdigkeit ist ja keine unbekannte Eigenschaft. Wäre sie unbekannt, könnte man sich ihrer Implikationen unwissend stellen. Da sie aber bekannt ist, wie auch die ebenso unsichtbare, ja sich - genau bedacht - der direkten sinnlichen Erfahrung entziehende Eigenschaft der physikalischen Kraft bekannt ist (wir können die beiden immerhin gut voneinander unterscheiden) und darüber hinaus nicht zu den sinnlichen Eigenschaften gehört (z.B. Bläue, Süße, Wärme), muss ihre Bekanntheit (d.h. die Tatsache, dass wir auf sie aufmerksam wurden) auf ihren Implikationen beruhen. Dies werden keine begriffsinternen Implikationen (den Begriff konstituierende Komponenten) sein, zumal Begriffe naturgemäß nichts direkt Wahrnehmbares sind; relevante interne Implikationen außer sich selbst kann der Begriff angesichts seiner Elementarität ohnehin nicht haben. Also wird es sich um externe Implikationen handeln. Fundamental Anderes und Relevantes als Grundimplikationen, wie sie von Wertschätzungen allgemein bekannt und in Eintrag §39 gesammelt sind, bietet sich als Kandidat für diese externen Implikationen aber nicht an. Dies sind die Vorkommnisse in der Erfahrung, durch die wir überhaupt auf den Begriff aufmerksam werden bzw. werden können.

Zirkuläre Definitionen mögen in der Kommunikation zur Einführung neuer Begriffe und zur Erklärung von Vokabeln zwar unbrauchbar sein, doch bei einem ohnehin bekannten Elementarbegriff kann eine passende ontologische Definition trotz oder gar wegen ihrer unvermeidlichen Zirkularität den Vorteil haben, dass sie kognitiv fokussierend wirkt und das Bewusstsein für das unaussprechliche Wesen des Begriffs schärft. Denken wir darum ungeachtet aller Zirkularität mal vertieft daran, dass Würdiges das ist, für das man sich im Konfliktfall aufgrund seiner Würdigkeit stets anstelle alles Anderen zu entscheiden hat (für das sich zu entscheiden würdig ist). Nun sollte damit zwar nicht aussprechlich, dafür aber im Sinne einer Sensibilisierung wieder/stärker bewusst geworden sein, was Würdigkeit ist.

Wenn der Begriff der Würdigkeit nun wirklich das sein soll, was er ist, dann muss seine Zuordnung ein Grund für irgendeine Veränderung oder wenigstens die Vorstufe einer Veränderung der Wirklichkeit sein können. In Bezug auf das Subjekt heißt das: Dann muss es möglich sein, dass er sich in der Handlungsrealität des Subjekts irgendwie bemerkbar macht. Dass etwas Würdiges nichts verdient, keinerlei Bezugnahme oder Haltung, keinerlei Unterlassung und auch sonst nichts, ist nicht denkbar, und das liegt offensichtlich am Begriff des Würdigen selbst. Irgendetwas, das nicht mit ihm selbst identisch ist, verdient Würdiges immer. Und tatsächlich ist es ja so, dass wir im Rahmen einer Selbstbeobachtung beim Vergleich unserer Bewusstseinszustände vor und nach unserer Einstufung von etwas als würdig einen Unterschied erleben und erkennen, zumindest dann, wenn wir uns zuvor für diesen Begriff und seine Implikationen vorbehaltlos öffnen (d.h. damit evtl. in Konflikt geratende, unabhängig davon vorhandene Neigungen ausblenden oder wenigstens vorübergehend psychostrategisch neutralisieren). Was wäre denn der Begriff ohne die Eigenschaft irgendeiner Art (und sei es indirekter) ontologischer Wirksamkeit oder die Funktion einer epistemologischen Bedingung für die Gültigkeit wirklichkeitsbezogener Normen mit sich zu tragen? Er wäre doch wohl nichts und sein Ausdruck leer. Er hätte keinerlei Identität, wenn er nicht eine spezifische inhärente Möglichkeit des Bezugs auf die Welt und die Handlungsrealität hätte. Er muss zu einer - wenn auch speziellen - Art von Begründung für Handlungen oder Handlungsentscheidungen dienen können. Wenn der Würdigkeitsbegriff das sein soll, was er ist und als was wir ihn kennen, dann muss man sich nach Würdigem ausrichten können. Die Ausrichtung eines Subjekts, damit dies nicht wieder leere Rede ist, muss seinen Zustand affizieren, so dass ihre Änderung sich in einer Änderung des realen Zustands des Subjekts manifestiert oder in einer solchen besteht. Man muss seine Handlungsrealität von Würdigem oder von seiner Anerkennung färben, prägen können. Außerdem ist, wenn Würdiges würdig ist und wir unsere Realität mit Würdigkeit durch ihre Zuordnung färben können, ebenso klar, dass von unserer Realität soviel wie möglich mit Würdigkeit eingefärbt und von wahrhaft Würdigem geprägt werden muss. Bei dieser Realität, in welcher Würdigkeit sich bemerkbar macht oder irgendwie in ihr niederschlägt, muss es sich zunächst natürlich ausschließlich um die innere Realität des Subjekts handeln, zumal Würdigkeit nicht ein irgendwo im Weltall auf einem fernen Planeten ruhender See ist, sondern eine geistige Kategorie. Nun fragen wir uns doch mal, wodurch unsere Handlungsrealität geprägt würde, wenn diese Prägung ausbliebe. Sie würde zweifellos stattdessen durch naturale Faktoren geprägt werden, insbesondere durch Neigungen und Interessen. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, wie sich vor diesem Hintergrund der Begriff der Würdigkeit in der Realität manifestieren kann: Er muss gegenüber den rein natural bedingten Faktoren Raum gewinnen. Somit muss er von Neigungen und Interessen bedingte Manifestationen verdrängen oder verhindern. Dies wiederum ist angesichts der Funktionsweise des humanen Akteursystems nur möglich, indem Zuordnungen (S) sinnlichen oder emotionalen Wertes gesetzt werden, welche würdigkeitsunabhängige Zuordnungen (S) kompensieren und in ihrer Wirkung so weit wie der maximalen Manifestation der Würdigkeit dienlich neutralisieren.  Also ist davon auszugehen, dass die transzendentale Urwertbeimessung in der ethisch verantwortlichen Person von mindestens einer sinnlichen oder emotionalen Wertbeimessung, die ihr, und deren Höhe ihrer Höhe entspricht, begleitet wird. Ob die daran hängenden Folgewertschätzungen dann emotionaler oder intellektualer Natur und der in ihnen zugeordnete Wert sinnlich oder transzendental, übt auf das Grundprinzip der metaethischen Konstruktion keinen relevanten Einfluss aus.

Vor diesem Hintergrund sollte einen die weitgehende Austauschbarkeit des Wortes „würdig“ und des mit dem Begriff der Liebenswürdigkeit zusammenhängenden Wortes „gut“ und die Rolle des Begriffs der Liebe in den Grundimplikationen nicht verwundern.

Doch selbst wenn das nicht ausreichend wäre, müsste beachtet werden: Für eine metaethische Konstruktion von Ethik darf eben diese selbst als Werkzeug der Konstruktion nicht ausgeschlossen werden, ungeachtet der in der Logik unzulässigen Zirkularität, die dieses impliziert. Vielmehr ist zu fragen: Wie sonst soll Ethik gültig begründet werden, wenn nicht eben mit Ethik, wenn Logik und Empirik, die beiden einzigen noch verbleibenden Instrumentarien des Urteilsvermögens, ihre objektive Legitimation doch einzig aus der Ethik beziehen? Die Ausgeschlossenheit zirkulärer Beweisführung in Logik und Empirik liegt auf der Hand, doch Ethik ist weder Logik noch Empirik. Denken wir mal daran, weswegen eigentlich Zirkelschlüsse zu Recht als verpönt (bzw.: unwürdig!) gelten:

In der Ethik geht es jedoch nicht zuvorderst um innere Widerspruchsfreiheit wie in der Logik, sondern um äußere Widerspruchsfreiheit zum Basissatz der Ethik; auch geht es nicht um die faktische Realität wie in der Empirik, sondern um Werte und Normen. Zudem bedürfen als intellektuelle Handlungen logisches und empirikbasiertes Denken und die Anerkennung ihrer Ergebnisse einer Legitimierung vonseiten der Ethik und nicht umgekehrt.

Es bleibt also allein die ethische Perspektive. Was aber, wenn die einzige(n) Alternative(n) zum Zirkelschluss und auf einen solchen zu verzichten, der Willkür näher ist als ihn zuzulassen und anzuwenden? Dann liegt es nahe, auf eine ethische Regel - zur Meidung von Willkür muss es eine Regel sein - zurückzugreifen, die für einen solchen Fall wie folgt aufzustellen ist: Immer wenn jede Alternative zur Inkaufnahme eines Zirkelschlusses dem Würdigen (noch) ferner ist als eine solche Inkaufnahme mit all ihren Konsequenzen, muss er inkaufgenommen werden. Womöglich gibt es außer dem Erschließen gültiger Ethik keinen anderen Anwendungsfall für diese Regel; jedenfalls gilt sie hier insofern besonders, als das ethische Argument gegen Zirkelschlüsse in diesem Sonderfall selbst zirkulär ist, denn vor der Erschließung von Ethik können Wert oder Unwert von Willkür und Fairness noch gar nicht feststehen. Zirkelschlüsse sind in der Ethik also nicht per se unzulässig, sondern abhängig davon, ob sie vom Würdigen entfernen oder ihm alternativlos näherbringen. Dieses Kriterium der Entfernung und Näherung ist in der Ethik nicht nur hierfür, sondern für alle denkbaren Angelegenheiten ebenso unhintergehbar wie in der Logik der Satz vom Widerspruch. Ethik ist also mittels Ethik zu konstruieren, auch wenn eine solche Selbstkonstruktion für Logik und Empirik nicht möglich ist.

Ein einfacher Vergleich mit einem klassischen Beispiel der Begründung von Ethik macht evident, dass eine zirkelschlussbasierte Konstruktion von Ethik (im Sinne einer größeren Würdigkeit) vernünftiger sein kann als alternative Konstruktionen. Bei diesem Beispiel handelt es sich um die Begründung von Ethik anhand der Natur im Allgemeinen oder der Natur des Menschen im Speziellen. Grob gesagt, ist ihr zufolge eine Pflicht deswegen eine Pflicht, weil ihre Unterlassung widernatürlich sei oder Widernatürlichem zuarbeite, und Verwerfliches deswegen verwerflich, weil seine Begehung widernatürlich sei, Widernatürlichem zuarbeite oder sogar nur von der Natur abweiche oder von der Natur Abweichendem zuarbeite. Demzufolge wurzelt die Gültigkeit einer Norm in der Natur allgemein oder zumindest in der Natur des Menschen. Ohne weitere Grundlage jedoch ist diese Art von Konstruktion klare Willkür, da die Natur hier als Wert bzw. Wertquelle einfach gesetzt wurde und es a priori überhaupt keinen Anhaltspunkt für die Zulässigkeit des Übersprungs vom Natürlichsein zum Pflichtsein gibt.

Im Vergleich dazu laute unsere Argumentation: Wir müssen davon ausgehen, dass die Urwertbeimessung grundsätzlich mit einer Kaskade von Implikationen einhergeht, die in ihrer Struktur das Neigungengeflecht in ihrer Wirkung zu neutralisieren und naturale Tendenzen hierdurch zu verdrängen geeignet ist, weil es sonst keine Möglichkeit zur Annahme gäbe, dass sich Würdigkeit in irgendeiner Weise in der Realität manifestiert. Da solches zu akzeptieren als Verrat am Begriff des Würdigen unwürdig wäre, muss (dies ist ein ethisches Müssen) von eben jenem naturgesetzlichen Sachverhalt ausgegangen und dieser als real angenommen werden. Zwar ist hier der Einwand naheliegend, diese letztere Beurteilung beruhe doch gerade auf dem, was zu beweisen war, und habe zur Voraussetzung, dass Urwertbeimessungen sich tatsächlich und regelhaft in der Realität manifestieren. Nichtsdestotrotz ist diese zirkuläre Grundlegung der naturalistischen rational zweifelsohne überlegen, denn:

Es bleibt ein gewichtiges Argument, dass es ohne Grundimplikationen der besprochenen Art auch für Würdigkeitszuordnungen, falls solche Implikationen nur für emotionale Wertschätzungen feststehen sollten, keine Möglichkeit gibt, dem Ursatz in der Realität Geltung zu verschaffen, und keine Möglichkeit, sich nach Würdigem auszurichten. Sich nach Würdigem auszurichten und dem Ursatz Geltung zu verschaffen aber ist eine unverhandelbare Würdigkeit (S) und die Unterlassung desselben eine Unwürdigkeit (S). Dies wiederum ist zwar eine Bewertung, deren Gültigkeit nach rein logischem Maßstab von der Gültigkeit jener Annahme abhängt, doch hängt die Gültigkeit eben dieses logischen Maßstabs von dem ab, was er sich hier zu beurteilen anmaßt. Das diesen Maßstab überwindende Prinzip lautet: Wenn - getreu dem Ursatz - Würdiges wirklich würdig ist, dann ist es auch so würdig, dass deswegen notfalls Zirkelschlüsse in Kauf genommen werden müssen, wenn der Verzicht auf sie unausweichlich auf etwas dem Unwürdigen Näheres als ihre Inkaufnahme hinausliefe.

Trotz allem sei der abstraktiv-dialektischen Seelenruhe zuliebe daran erinnert, dass die Zirkularität zur Konstruktion von Ethik nicht unabdingbar ist. Schon auf den ersten Blick ist es sicher kein Zufall, dass - falls wirklich von zwei irreduziblen Arten von Wertbeimessung ausgegangen werden muss, von denen zunächst nur für eine der beiden die Grundimplikationen feststehen - dasselbe Lexem für das Beigemessene beider Arten verwendet wird, was mindestens auf eine kontextuelle Gemeinsamkeit der beiden Begriffe  zurückführbar sein wird, welche wiederum in kaum etwas anderem als in den Grundimplikationen bestehen wird.

Mehr noch: Die Problematik beschränkt sich auf den bisherigen metaethischen Konstruktionsweg, der sozusagen vom Phänomen zur Norm verläuft. Es lässt sich jedoch ein zweiter Weg in Betracht ziehen, nämlich einen, der sozusagen von der Norm zum Phänomen verläuft (s. unten, Eintrag §42). In dem Fall würde sich vieles vom bisher hier in dieser Untersektion Gesagten als nur in Absehung davon nötig erweisen. Die Integration der Grundimplikationen im Verlauf eines direkt vom Würdigkeitsbegriff ausgehenden Weges funktioniert nämlich zirkularitätsfrei.

Hinzu kommt - um erneut auf die Fragestellung einzugehen: Es ist ja weder unbedingt der Fall, noch ist es eine Prämisse oder Zielaussage der Exemplifikationen, dass jede emotionale Wertschätzung mit einer intellektuellen Wertschätzung einhergeht oder mit einer solchen grundsätzlich zu identifizieren ist. Vielmehr beruht die Signifikanz der Exemplifikationen bzw. des ihnen zugrundeliegenden Prinzips darauf, dass eine emotionale Wertschätzung (die nicht einmal eine „echte“ Wertschätzung im Sinne der Involvierung eines intellektuellen Wertbegriffs sein muss, sondern auch einfach eine rein natural definierte Inklination oder ein Haltungszustand des Akteursystems sein kann) Gegenstand einer Affirmation vonseiten des Intellekts sein kann, wobei die Bekanntheit des Prinzips der intellektualen Affirmation und die bloße Möglichkeit ihres Vorkommens bereits genügen. Vereinfacht gesagt, kann der Intellekt nämlich bei Vorliegen einer bestimmten emotionalen Wertschätzung diese retrospektiv und im Nachhinein als „richtig“ bzw. „übernehmenswert“ befinden und sie intellektuell affirmieren127. Eine zunächst rein emotional bzw. natural bedingte Bevorzugung von etwas kann vom Intellekt affirmiert werden, und eine solche Affirmation wird im Wesentlichen kaum in etwas anderem als in der Generierung eines analogen, Würdigkeit zuordnenden ethischen Korrelats bestehen, bzw. in nichts anderem Wesentlichen münden, also die Form einer intellektuellen Wertbeimessung haben, zumal durch seine Brille der Intellekt selbst rudimentäre Inklinationen ohnehin als Wertbeimessung nach der Art seiner eigenen Wertbeimessungen wahrnimmt, auch wenn ihre Welt und Natur in Wirklichkeit eine völlig andere als die des Intellekts ist,128 so dass sich ihm als Kopiervorlage immer nur die Wertschätzung nach der dem Intellekt vertrauten Art und Struktur darbietet.

Wenn der Intellekt auf diese Weise eine emotional bedingte Haltung affirmiert, affirmiert er womöglich auch die dazugehörigen Folgehaltungen und generiert auch zu deren Gegenständen ethische Korrelate. Nun würde ein solcher konditional strukturierter Sachverhalt  (d.h. dass im Falle einer Affirmation auch die Folgehaltungen affirmiert werden) eine Basis dafür bieten, jene metaethisch fundamentale Regel zu formulieren, und dass als signifikant zu gelten hat, dass wenn die zu einer Wertschätzung eines Gegenstands gehörende Folgewertschätzung fehlt, dann auch seine Wertschätzung fehlt; und dies ist unabhängig davon, ob emotionale Wertschätzungen immer transzendentale/intellektuelle Wertbeimessungen sind bzw. mit sich führen oder nicht - vielmehr genügt es, dass eine Affirmation sich grundsätzlich auch auf Folgehaltungen erstreckt. Lediglich die Frage ist offen, was den Intellekt wohl dazu bringen sollte, die Kaskade einer emotionalen Wertschätzung und ihrer Folgehaltungen als Kaskade nachzuzeichnen - und noch dazu so konsequent -, indem jede Folgehaltung affirmiert und zu ihr ein analoges ethisches Korrelat generiert wird. Immerhin mag zunächst nicht ersichtlich sein, was bei einer intellektuellen Kaskade an die Stelle der naturalen Bedingungen treten sollte, auf denen die Verkettung einer Kaskade emotionaler Dispositionen beruht.

Die Frage könnte sich in folgender Weise beantworten lassen: Im Kern besteht die positive emotionale Haltung zu einem Gegenstand ja aus der thematisch im Eintrag §39 bereits eingeführten Vergegenwärtigungs- und Interaktionsbestrebtheit, diese sind das, was eigentlich an ihr affirmiert und hierdurch stabilisiert und reguliert wird. Da derweil die emotionalen Folgeeinstellungen sich auf diese fundamentalen Bestrebungen zurückführen lassen und somit als indirekte Formen von ihnen aufgefasst werden können, sind sie gleichsam in der basalen Vergegenwärtigungs- und Interaktionsbestrebtheit enthalten, zumal kein hinreichender Grund ersichtlich ist und somit keine intellektuelle Legitimation existiert, indirekte Liebe aus der allgemeinen Liebe auszuschließen. Mit einer Enthaltung des Intellekts von der Mitaffirmierung der Folgehaltungen entstünde daher ein Widerspruch (einerseits wird die Vergegenwärtigungs- und Interaktionsbestrebtheit affirmiert, andererseits doch nicht), bzw. etwas, was Teil des Gegenstands der Affirmation (nämlich die Vergegenwärtigungs- und Interaktionsbestrebtheit) ist, ohne intellektuell hinreichenden Grund aus dem Gegenstand ausgeschlossen. Hierdurch besäße eine transzendentale Wertbeimessung Implikationen, die sich zu den Implikationen einer emotionalen Wertschätzung analog verhalten.

Gleichwohl wären die genauen Mechanismen noch einer Erörterung bedürftig. Es ließe sich nämlich fragen, was den Intellekt die Vergegenwärtigungs- und Interaktionbestrebtheit als solche denn überhaupt angehe, wenn sich ihm durch seine Brille ohnehin alles nur als Wertbeimessung präsentiere, d.h. ob ihm diese Bestrebtheiten als das, was sie sind, nicht verborgen bleiben müssten, so dass es für ihn auch keinen Widerspruch gäbe, den es durch eine Folgewertschätzung zu vermeiden gälte. Zur Beantwortung dieser Frage sind einige Ansätze129 denkbar, wenn auch durch sie allein endgültig zu einem konsistenten Modell zu gelangen noch nicht bewerkstelligt ist.

Von der Norm zum Phänomen

[§42] Der Weg der metaethischen Grundlegung verlief in Eintrag §39 tendenziell vom Speziellen zum Allgemeinen und vom Materialen zum Formalen. Ob sich auch auch ein Weg des umgekehrten Prinzips gehen lässt, nämlich derjenige vom Allgemeinen zum Speziellen, soll sich im Folgenden zeigen.

Würdiges ist würdig. Daraus folgt, dass Würdiges uns nicht egal sein darf. Die Gültigkeit dieser Norm und ihrer Ableitung aus dem Ursatz ist recht offensichtlich und zudem unabhängig davon, ob es spezifisches Würdiges gibt (d.h. Würdigkeit irgendeinem spezifizierbaren Gegenstand tatsächlich zukommt) oder wir spezifisches Würdiges kennen (d.h. wir von einem solchen Zukommnis wissen), die Norm setzt dies nicht voraus. Zugleich steht es mit ihrer Gültigkeit fest, dass es (wenn vielleicht auch nicht im Raum der materiellen Objekte, aber immerhin im Raum der potentiellen Haltungen und Sachverhalte) Würdiges gibt und wir Würdiges kennen, denn es ist ja mindestens etwas Würdiges, dass Würdiges uns nicht egal ist.

Bevor wir mit der Betrachtung fortfahren, sollten wir vielleicht kurz auf einen Einwand eingehen, der an dieser Stelle eingebracht werden könnte. Dieser lautet: Wenn sich der eben abgeleitete Satz, demzufolge Würdiges uns wichtig sein müsse, auch Würdiges meinen sollte, von dessen Würdigkeit wir noch nichts wissen, oder etwas, von dem selber wir keine auf irgendeine spezifische Eigenschaft von ihm beruhende Idee haben (Würdigkeit ist keine Spezifikation, sondern allenfalls eine Qualifikation oder eine Auszeichnung), forderte er etwas Unmögliches: Schließlich ist es uns unmöglich, etwas wegen und im Angesicht seiner Würdigkeit wichtig zu nehmen, wenn wir von dieser seiner Würdigkeit weder ein Wissen noch eine Erscheinung haben, und auch nicht, wenn es sich für unser Denken von nichts durch irgendetwas abhebt. Etwas Unmögliches kann aber keine Pflicht sein, folglich ist eine Unmöglichkeit (S) nie eine würdige Handlungskategorie. Darum ist angesichts der Intuitionskonformität der Ableitbarkeit und Aufstellung des Satzes anzunehmen, dass er eine Präsupposition mit sich führt, nämlich die der Bedingtheit dadurch, dass wir von der Würdigkeit des jeweiligen Würdigen wissen, und dass wir irgendeine, und sei es noch so gering spezifizierte Idee von ihm haben. Der Satz meint also eigentlich: „Falls wir von der Würdigkeit eines Gegenstands Wissen haben sollten und wir durch irgendein ihm zukommendes, spezifizierendes Charakteristikum einen Begriff haben, ist seine Wichtignahme obligat.“ Mit dieser bloß bedingten Würdigkeit des Gegenstands dieses angeblichen normativen Urteils steht es in Zweifel, dass er sich als Beispiel für feststellbares spezifisches Würdiges anführen lässt. Zudem scheint die Präsupposition der obigen Behauptung bezüglich der Unabhängigkeit von der Existenz und der Bekanntheit von irgendetwas spezifischem Würdigen zu widersprechen.

Darauf sei folgendermaßen eingegangen: Der Einwand erscheint im ersten Augenblick berechtigt. Meint z.B. eine Norm, derzufolge Hilfsbedürftigen zu helfen obligat sei, nicht tatsächlich lediglich, dass die Hilfe im Falle der Konfrontation mit einem Hilfsbedürftigen obligat sei? Ansonsten müsste man ja auf ihrer Basis auch in einer heil erscheinenden Weltsituation stets anlasslos auf der Suche nach Hilfsbedürftigen sein, um solchen helfen zu können, und im Extremfall sogar die Existenz von Hilfsbedürftigen und somit ihre Hilfsbedürftigkeit aktiv herbeiführen, um die Norm zu erfüllen. Das Vorliegen einer Präsupposition sei daher vorerst eingeräumt. Dies ist aber weder etwas Ungewöhnliches - bei Bezugnahmen auf Handlungen und Haltungen dürfte nahezu immer eine vorliegen - noch muss sie in Form einer Bedingung, sondern kann auch in Form von Komponenten des gegenständlichen Begriffs vorliegen. Ob man nun sagt: „Wenn eine Kost vitaminreich ist, ist sie gesund“, oder ob man sagt: „Vitaminreiche Kost ist gesund“, beides hat für die allermeisten Zwecke denselben Informationswert. Für ethische Sätze ist jedoch das zweite Format relevant, d.h. die Begriffe eines ethischen Satzes sind grundsätzlich als soweit spezifiziert anzusehen, dass das Würdigkeitszukommnis unter keinerlei Bedingung steht. Hierbei genügt dem menschlichen Geist, wie auch in vielen anderen seiner Operationen, eine rein kontextuelle Spezifikation, eine wesensbezogene Spezifikation ist nicht nötig. Hinter der Beispielnorm ist also zu sehen: „Hilfsbedürftigen, mit denen man samt ihrer Hilfsbedürftigkeit konfrontiert wird, zu helfen, ist obligat.“ Und hinter dem diskutierten Satz ist zu sehen: „Würdiges, dessen Würdigkeit bekannt und dessen Wichtignahme möglich ist, wichtig zu nehmen, ist obligat.“ Spätestens in dieser Form ist die uneingeschränkte Gültigkeit des Satzes offensichtlich. - Folgendermaßen formuliert (falls es nur eine alternative Formulierung sein sollte), ist die Gültigkeit des Satzes besonders evident und scheint interessanterweise derlei Spezifizierungen weniger zu bedürfen: |Würdiges mit weniger Würdigem gleichzusetzen, ist verwerflich.|

Nicht bloß zufällig ist, der impliziten Forderung des Einwands ausweichend, als Teil der Präsupposition hier angedacht: „dessen Wichtignahme möglich ist“ statt „von dem wir durch irgendein ihm zukommendes, spezifizierendes Charakteristikum einen Begriff haben“. Denn dies ist durch die höhere Generalität nicht nur sicherer, sondern es ist darüber hinaus keineswegs so, dass der Geist unbedingt eine Spezifikation jenseits von bloßen Qualifikationen bzw. Auszeichnungen braucht, um sich etwas zum Gegenstand einer Operation zu nehmen. Seine Operationsgegenstände sind ja Begriffe, und ein Begriff kann auch kontextueller Art sein,130 was wiederum Qualifikationen bzw. Auszeichnungen als Unterscheidungsmerkmal zulässt. Das Wissen um diese Tatsache ist hilfreich bei der Ausräumung von Bedenken, die ziemlich direkt schon den Ursatz betreffen - dies wird in einem folgenden Eintrag erörtert.

Was den Teil des Einwands angeht, der die Unabhängigkeit von der Existenz und der Bekanntheit von irgendetwas spezifischem Würdigen betrifft, so liegt diese Unabhängigkeit weiterhin vor. Der Satz bzw. seine Gültigkeit mag vom Begriff des Würdigen, dessen Würdigkeit bekannt ist, als Komponente des Satzes und von seiner Sinnhaftigkeit abhängen, was aber längst nicht bedeutet, dass er oder seine Gültigkeit davon abhängig ist, dass der Begriff eine Entsprechung hat. Auch setzt er nicht voraus, dass einem spezifischen Gegenstand Würdigkeit tatsächlich zukommt, sondern hat dies durch seine Gültigkeit vielmehr zur Folge, denn durch sie ist sein eigener Gegenstand (nämlich Würdiges, dessen Würdigkeit bekannt und dessen Wichtignahme möglich ist, wichtig zu nehmen) eben ein solcher spezifischer Gegenstand.

Fahren wir also fort: Gemäß unserer apriorischen Kenntnis des Würdigkeitsbegriffs, ist mit Würdigkeit untrennbar verbunden, dass ein Gegenstand, dem sie zukommt, Bezugnahme auf ihn (besonders, wenn nicht ausschließlich im Sinne der Einnahme einer Haltung um seinetwillen) verdient. (Dass ein Gegenstand eine Sache verdient, bedeutet, dass die Sache aufgrund seiner Würdigkeit [abgeleitete] Würdigkeit besitzt.) Es ist uns unmöglich, uns Würdiges anders zu denken denn als etwas, auf das irgendwie Bezug zu nehmen seiner Würdigkeit wegen Würdigkeit besitzt. Wenn ein Gegenstand es nicht im Geringsten verdient hat, dass ein willensfähiges Subjekt irgendeine Haltung zu ihm einnimmt, irgendwie auf es Bezug nimmt, sich ihm in irgendeiner Form widmet, es irgendwie berücksichtigt, bedeutet dies, dass der Gegenstand keinerlei Würdigkeit besitzt.

Die Würdigkeit der wie auch immer gearteten Bezugnahme auf das Würdige ist die für den Begriff der Würdigkeit spezifischste und ihm am engsten anhaftende, wenn nicht in letzter Konsequenz gar einzige Implikation - eine Implikation, die sich offensichtlich weder eine interne noch eine externe nennen lässt und ihm unter allen Begriffen Einzigartigkeit und einen geradezu mystisch anmutenden Charakter verleiht. Ohne sie hätte Würdigkeit für uns überhaupt keine relevante Bedeutung. Eine Analogie hat dies im Begriff des Kausalgrundes, der, wenn Zustandsänderungen als Folge eines solchen aufgrund der ihm innewohnenden Wirksamkeit ein unbekanntes Prinzip wären, sinnlos erschiene (wenn er denn überhaupt erschiene).

Warum Würdigkeit zwangsläufig die Würdigkeit der Bezugnahme auf ihren Träger zur Folge hat, z.B. ob dies auf einer metaphysischen Ebene in der Essenz der Idee des Würdigen oder der Würdigkeit wurzelt, oder ob uns dies aufgrund einer speziellen, kontingenten Disposition unserer Kognition in Bezug auf als würdig Angenommenes nur so erscheint, liegt jenseits unserer Erkenntnisfähigkeit. Obendrein ist dies zweitrangig, denn der Zusammenhang ist auch unter Annahme der Disposition - introspektiv erfahrbar - mindestens so unauflösbar wie derjenige zwischen der Wahrnehmung bestimmter Bewegungen und dazugehörigen Reflexen: Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ein gesunder Mensch, der sich ohne Grund selbst nicht im Geringsten bewegt, obwohl sich in seiner Nähe ein Gegenstand schnell auf ihn zu bewegt, diesen nicht wahrnimmt. Ebenso kann grundsätzlich gesagt werden, dass wer im Angesicht eines Gegenstands ohne Grund überhaupt keiner Bezugnahme auf ihn, überhaupt keiner Haltung zu ihm irgendeine Würdigkeit zuordnet, dem Gegenstand selber ebenfalls keine Würdigkeit zuordnet.

Soweit ist der Sachverhalt evident und unzweifelhaft. Ebenso evident ist, dass aus der Würdigkeit der Bezugnahme die Unwürdigkeit ihrer Unterlassung, ihrer Verhinderung und der Vernachlässigung des Gegenstandes folgt. - Nun kennen wir aber sehr viele mögliche Formen und Arten der Bezugnahme, innerliche und äußerliche,  sich aktiv (z.B. Bewegung) und sich passiv (z.B. Anhören) vollziehende, direkte und indirekte...; vielleicht sind dem Menschen neben aktionalen sogar non-aktionale Bezugnahmen möglich. Welche Form von Bezugnahme ist im Angesicht eines würdigen Gegenstandes die erforderliche?

Soweit weder eine Spezifikation für das Subjekt noch eine für das Objekt (auch keine umstandsbedingte) vorliegt und lediglich seine Würdigkeit feststeht, liegt auch kein Grund vor, die erforderliche Bezugnahme in irgendeiner Weise einzugrenzen oder zu spezifizieren. Daraus folgt, dass dem Gegenstand im allgemeinsten Fall zunächst keine dem Subjekt mögliche Art von Bezugnahme vorenthalten zu werden sich geziemt, sondern jede denkbare und mögliche erforderlich ist, sei sie innerlich oder äußerlich, auf Aktivität oder auf Passivität basierend, direkt oder indirekt, gleichwohl abzüglich jener speziellen Formen von Bezugnahme, durch welche (z.B. aufgrund ihrer Natur) die Möglichkeit der generellen Bezugnahme auf den Gegenstand gefährdet oder beeinträchtigt wird. In dieser Subtraktion besteht eine der ersten zu erwartenden Eingrenzungen und Spezifizierungen der Bezugnahme. Sie ist notwendig, da solche Bezugnahmen zur Würdigkeit der allgemeinen Bezugnahme auf das Würdige im Widerspruch stehen. Sie sind wertwidrige Bezugnahmen131 zu nennen. So ist beispielsweise auch die Zertrümmerung eines aus irgendeinem Grund würdigen materiellen Gegenstandes eine Bezugnahme auf ihn, jedoch impliziert sie die Verhinderung einer u.U. großen Zahl nur ohne die Zertrümmerung möglicher Bezugnahmen auf ihn, bzw. überhaupt jeglicher weiterer Bezugnahme auf ihn als den Gegenstand, der er war. Hingegen besitzen alle Maßnahmen, welche die Möglichkeit der Bezugnahme auf einen würdigen Gegenstand herstellen, fördern oder erhalten, zweifellos Würdigkeit. Beim Menschen als Subjekt ist hier besonders die emotionale Wertschätzung unterstützende, ihm ja bei Vielem mögliche postnaturale Ästhetisierung zu erwähnen. Diese hat der allgemeine würdige Gegenstand ohnehin schon deshalb verdient, weil sie eine Bezugnahme ist, die von nichts ausgeschlossen wird, und nun umso mehr, als die Ästhetisierung ja der sonstigen wertkonformen Bezugnahme förderlich ist. Damit ist das gesamte Baumwerk der Grundimplikationen mitsamt der in ihnen enthaltenen Wertschätzungen und Folgewertschätzungen und den aus ihnen hervorgehenden Akten einbezogen. Eine solche aktionale Implikation ist aber nicht nur würdig im Sinne einer Abkürzung dafür, dass sie, ein gesundes Subjekt und seine umfassende Kenntnis des Objekts und der Umstände und die richtige transzendentale Urwertbeimessung seinerseits vorausgesetzt, dies unweigerlich die aktionale Implikation zur Folge hätte, bzw. im Sinne einer Rekonstruierbarkeit ihrer Abstammung. Sie ist auch jenseits dieser Abkürzung bzw. ihrer intersubjektiven Abstammung von einer optimalen Urwertbeimessung würdig, und zwar insofern, als sie eine unausgeschlossene, mindestens indirekte Bezugnahme auf den würdigen Gegenstand ist.

Einer objektiven Würdigkeit (S) kommt Wert (V) somit in dreifachem Sinn zu:

  1. Ursprüngliche Würdigkeit oder abgeleitete durch Unausgeschlossenheit
  2. Prognostische bzw. metonymische Würdigkeit
  3. Emotionaler Wert

Die weitere Eingrenzung und Spezifizierung der Bezugnahme beruht auf der Natur des Objekts, die ontologisch bedingt meist nur einen Ausschnitt aller nach Abzug der wertwidrigen Bezugnahmen verbleibenden Haltungen zulässt, zumal z.B. nicht jedes Objekt berührbar ist, nicht jedes visuell wahrnehmbar, nicht jedes lesbar, nicht jedes physisch nahbar etc.

Die Natur des Objekts schließt jedoch keine „gegenstandsfremden“ Bezugnahmen aus, z.B. lässt sie das Küssen eines für würdig befundenen Felsens genauso zu wie den Felsfuß wie die Wurzeln einer Pflanze zu gießen oder ihm wie einem Menschen Luft zuzufächern. Nun mag der Kuss noch der Ästhetisierung und der Grundimplikation der emotionalen Liebe entspringen, doch dass Gegenstandsfremdes wie das besagte Begießen eines Felsens mit der Gießkanne oder ihm Luft zuzufächern eine Pflicht sein sollte, wirkt sehr kontraintuitiv. Bestimmte Umstände können das aber wiederum plausibilisieren, z.B. wenn sich im Fußbereich Schlamm angesammelt hat oder Fliegen sich niederlassen. Dann können die Maßnahmen z.B. der Vervollkommnung der Möglichkeit der Bezugnahme der visuellen Wahrnehmung dienen. Doch auch wenn Umstände vielleicht gewisse Bezugnahmen erfordern, besagt nichts von den bisherigen Prinzipien, dass Umstände notwendige Voraussetzungen für die Würdigkeit bestimmter Formen von Bezugnahme sind, ganz gleich, wie gegenstandsfremd diese sein mögen.

Dennoch können wir getrost davon ausgehen, dass eine gegenstandsfremde Bezugnahme, die nicht typischerweise einer zugunsten des Gegenstandes gehegten Emotion entspringt, in der Regel oder zumindest häufig keine oder keine besondere Würdigkeit besitzt, und zwar aus den folgenden Gründen:

Zur Erklärung des ersten Punktes: Einen Felsen zu gießen oder ihm Luft zuzufächern wendet teilweise die Aufmerksamkeit und Konzentration - und sei es in einem noch so geringen Maß - von dem Gegenstand selber ab, hier z.B. vielleicht, weil Wasser geholt und die Gießkanne befüllt werden muss, und weil der Vorgang des Gießens und Zufächerns einen Teil der Energie und Konzentration verbraucht.

Zur Erklärung des dritten Punktes: Die Ästhetisierung eines würdigen Gegenstandes gehört aufgrund ihrer Eigenschaft als die generelle Möglichkeit der Bezugnahme besonders wahrend und fördernd zu den würdigsten denkbaren Bezugnahmen und ist einer gegenstandsfremden und umstands- und emotionsunabhängigen Bezugnahme in der Würdigkeit grundsätzlich überlegen. Zugleich hat sie Handlungen zur Folge (hier evtl. Polieren, Parfümieren...), die kraft der ihnen zugrundeliegenden systemischen Motivation unmotivierten Bezugnahmen keinen Raum lassen, und dies zu Recht, da sie Kinder der wertvolleren Bezugnahme sind.

Zur Suffizienz des Ursatzes

[§43] Wie kann das Subjekt etwas als „Würdiges“ so Unspezifiziertes überhaupt als Gegenstand einer den Ursatz abbildenden Urwertbeimessung im Sinn haben? Kann etwas nicht nur Unspezifiziertes, sondern auch so Unbestimmtes und Unkonkretes, zunächst bloß Kategoriales ohne bekannte individuale Entsprechung, Gegenstand einer Wertschätzung sein, so dass gar Folgewertschätzungen zu erwarten sind, bzw. hat diese These überhaupt einen Sinn? Wie kann etwas eine Urwertbeimessung sein, wenn ihr in ihrem eigenen Gegenstand (Würdiges) bereits eine Wertbeimessung vorausgeht? Kann man einem Gegenstand, den man sich bereits als Würdigkeit besitzend denkt, nochmals Würdigkeit zuordnen? Bzw. würde das nicht ohnehin jeder tun, so dass hier von Willensfreiheit nicht die Rede sein könnte? Was wäre damit gewonnen?

Das Aufkommen derlei Fragen sollte nicht verwundern, wenn man den Ursatz unter Verwendung unserer Standardformulierung des Ursatzes ohne Vorbereitung und Sensibilisierung für sein Wesen als die ethische Grundwahrheit vorstellt. So weckt er natürlich den Eindruck, dass er nirgendwo hinführt, zumal ihn seine notgedrungene Formulierung als Ist-Aussage irreführenderweise wie eine Faktualaussage erscheinen lässt. Als eine solche wäre er inhaltsleer. Daher sollte zunächst die wahre Natur der hinter der Formulierung stehenden ethischen Grundwahrheit und ihre Fundierungskräftigkeit sozusagen durch eine umkreisende Annäherung einleuchtend gemacht werden. Im Ansatz ist dies schon im Eintrag §29 geschehen. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, worin diese „Wahrheit“ besteht und welcher Art sie ist, führe man sich sehr grundlegende, besonders leicht als wahr erkennbare ethische Sätze vor Augen, und zwar Sätze, die sich sozusagen um den Ursatz herum gruppieren, wie z.B.: |Würdiges herbeizuführen ist würdig|, |Würdiges wertzuschätzen ist würdig|, |Würdiges nicht mit Unwürdigem gleichzusetzen, ist würdig| etc. Schon im Angesicht dieser Sätze kann ins Auge springen oder ahnt wenigstens so mancher, dass sie Implikationen des Ursatzes sind, so dass damit auch schon zu ahnen ist, dass der Ursatz mehr leistet, als wenn er nur die inhaltsleere Faktualaussage wäre, die zu sein ihm bei oberflächlicher Betrachtung unterstellt werden könnte. Ansonsten sei der Empfehlung nachgekommen, jene sekundären Sätze - nötigenfalls im Rahmen einer Begründungskette - so weit zu begründen, bis es nicht mehr geht. An dem Punkt, an dem man nicht weiterkommt, vervollständige man die Kette mit der Letztbegründung: "... wegen der Würdigkeit von Würdigem", anders gesagt: "... weil die Würdigkeit von wahrhaft Würdigem das erfordert.", oder: "... weil das 'Würdige' sonst nicht wahrhaft würdig wäre". Im Augenblick dieser Begründung wird anhand ihres stimmigen Eindrucks erfahrbar, dass der Ursatz durchaus seinen Sinn hat, und zwar einen Sinn, der über die scheinbare Tautologie hinaus geht, denn sonst wäre er nicht so fundierungskräftig. Und es sollte an diesem Punkt bewusst werden, dass das Besondere am Ursatz ist, dass er den Begriff der Würdigkeit an sich (und nicht irgendeine Tatsache, stehe sie noch so sehr mit ihm im Zusammenhang) als Erzeuger weiterer Würdigkeit und Begründung von Pflichten vorstellt, wozu parallel geht, dass allein den Begriff des Würdigkeit Besitzenden zu haben, die Verantwortlichkeit des Menschen begründet. Man muss unter Umständen also gewissermaßen mit dem Ursatz enden, um mit ihm beginnen zu können.

Desweiteren ist es unproblematisch, dass zunächst bloß Kategoriales ohne bekannte individuale Entsprechung Gegenstand der Wertbeimessung ist, denn dies ist eher der typische Normalfall ethischer Sätze: Gerade Handlungsnormen beziehen sich grundsätzlich nicht auf individuale Akte, sondern auf Handlungskategorien, z.B. ist die Gültigkeit des Satzes |Menschenleben retten ist würdig| unabhängig davon, ob eine bestimmte Rettung jemals stattgefunden hat, denn offensichtlich bezieht er sich nicht auf eine bestimmte, individuale Rettung, sondern auf die Menschenlebenrettung allgemein. Trotzdem kann das Subjekt diese Handlung als Kategorie zweifellos wertschätzen und in seine Wertehierarchie einordnen. Könnten sich ethische Sätze nur auf Individualien beziehen, wäre ethische Praxis kaum denkbar.

Ansonsten dürften Fragen wie die oben aufgeführten obsolet werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Formulierung des Ursatzes ungeachtet der Ist-Verknüpfung weniger für ein Faktum, als vielmehr für eine fundamentale Haltung, eine Einstellung, eine Ausrichtung steht. Vielleicht könnte man sogar sagen: für eine Beziehung. (Was für eine Beziehung hat jemand zum Würdigen?) Es ist diejenige Grundhaltung bzw. -einstellung, in welcher sich die guten Subjekte von den üblen Subjekten an allererster Stelle unterscheiden. Dieser Unterschied liegt nämlich nicht unbedingt darin, dass die einen Wertehierarchien hätten und die anderen keine, und nicht einmal in allererster Linie darin, dass die einen eine Wertehierarchie haben, die anders als die der anderen aufgebaut ist. Beim Menschen ist davon auszugehen, dass ausnahmslos alles, was bei ihm in sein rationales, bewusstes Blickfeld gerät, direkt bewertet wird und im Zuge der Reife irgendwann so gut wie alles in einer individuellen Wertehierarchie angeordnet ist, gehöre er nun zu den guten oder zu den üblen Subjekten. Wertbeimessung ist immerhin ein genauso fundamentaler Akt des Intellekts wie die Registrierung von Helligkeit eine fundamentale Funktion der visuellen Wahrnehmung. Sie ist der fundamentale Akt des Intellekts (s. Eintrag §31). Ohne die Helligkeiten der Gegenstände existiert für den Sehsinn nichts, und der Sehsinn selbst gewissermaßen auch nicht (Stichwort „Augenlicht“), und ohne ihre Würdigkeiten existiert für die Vernunft nichts, und die Vernunft selbst gewissermaßen auch nicht.132 So gehört irgendeine Form von Wertehierarchie zur typischen Ausstattung jedes reifen Menschen. In dieser sind alle Gegenstände, die er im weitesten Sinne kennt, d.h. von denen er eine Idee hat, je nach der Würdigkeit, die er ihnen jeweils beimisst, skalar angeordnet. Zu den Gegenständen, die er in diesem Sinne kennt, gehören sowohl individuelle Entitäten, als auch Entitätskategorien, physische Objekte, Handlungskategorien, individuale Eindrücke, Konzepte, Konkretes und völlig Abstraktes, also alles, was hinter einem Namen stehen könnte. Somit gehören auch Gegenstände dazu, die er im engeren Sinne eben nicht kennt, weil er weiß, dass es Vieles gibt, was er noch nicht kennt und somit einen Begriff davon hat, der eben genau darauf beruht, dass er darüber nur weiß, dass er es nicht kennt. Auch diesem ordnet er ein gewisses Maß an Würdigkeit zu, auch wenn ihm dies im Nachhinein vielleicht genauso wenig auffällt, wie er im Alltag einen braunen Karton in der Ecke seines Arbeitszimmers als hell bezeichnen würde, wiewohl der Karton durchaus Licht reflektiert und dieses immerhin hell genug ist, um ihn sogar auf einer Schwarzweißaufnahme in Form und Schattierung klar erkennen zu lassen.

Statt darin, dass die einen Wertehierarchien hätten und die anderen nicht, besteht der Unterschied vielmehr in der Entscheidung bzw. dem Grad der Entscheidung des weniger üblen Subjekts, seine Wertehierarchie anhand des Kriteriums wahrhafter Würdigkeit aufzubauen, d.h. in dieser individuellen Hierarchie jedem Gegenstand (von dem in der Hierarchie natürlich nur der Begriff vorliegt und nicht unbedingt der Gegenstand selbst) denjenigen und nur denjenigen Würdigkeitsgrad einzuräumen, der ihm objektiv zukommt. Je weniger übel das Subjekt, desto grundsätzlich entschlossener ist es, wahrhaft Würdigem und nur wahrhaft Würdigem einen seiner Würdigkeit entsprechenden Rang einzuräumen. Das könnte natürlich voraussetzen, dass das unwillentliche Erkennen von Würdigem als würdig (was wohl allenfalls das Erkennen des Zutreffens der Kriterien ist, ohne dass unbedingt die erforderliche Konsequenz daraus gezogen wird) im Ergebnis nicht dasselbe ist wie sein willentliches Anerkennen als würdig, bzw. wahre Erkenntnis nur die auf diesem Anerkennen beruhende oder mit ihr identische ist, während das andere Erkennen nicht viel mehr als ein Anflug vonseiten der sekundären Selbstheit, des aktionsfunktionalen Trägersystems, ist. Und selbst wenn Letzterem nicht so wäre: In der apriorischen „Situation“ der Urwertbeimessung ist dies alles nicht im Blickfeld des Subjekts und spielt keine Rolle, denn hier gibt es im Angesicht des Würdigen nur ein freies Ja des Subjekts zu ihm oder eine mehr oder minder weitgehende Enthaltung davon. Dies sei gesagt, falls die Frage aufkommt, ob jene Urentscheidung nicht überflüssig sei, wenn sie ohnehin erwarte, dass sie die Würdigkeit der Gegenstände nach der Urwertbeimessung schon erkennen werde und auf diese Weise die Gegenstände automatisch ihren Platz in der Rangordnung einnehmen würden. Zusätzlich berücksichtigt sei, dass die Fähigkeit zum Erkennen von Würdigkeiten umso geringer ausfällt, je geringer die Qualität der Urwertbeimessung ist, und dass auch, hiervon fast unabhängig, sich ableitende Würdigkeit im Alltag häufig nicht direkt erkennbar ist, sondern eine Konditionierung zur Vorsicht, zum Innehalten und ethischen Nachsinnen erforderlich ist, die ohne die optimale Urwertbeimessung nicht zustande kommt. Jedenfalls ist es genau jene Entscheidung, nämlich wahrhaft Würdigem und nur wahrhaft Würdigem im eigenen Geist den seiner Würdigkeit entsprechenden Rang einzuräumen, die im Voraus eingenommene Grundeinstellung des uneingeschränkten, freien Ja zum Würdigen, was auch immer ein solches Würdiges sein mag, worin die den Ursatz abbildende Urwertbeimessung besteht.

A priori kann das Subjekt nicht wissen, ob irgendein Gegenstand die Kriterien erfüllt, um für würdig befunden zu werden, ja nicht einmal, ob es solche Kriterien überhaupt gibt, und somit auch nicht, ob objektive Würdigkeit überhaupt möglich ist - wie kann es dann überhaupt bereit sein, objektiv Würdigem im Falle der Erfüllung geeigneter Kriterien Würdigkeit zuzuordnen? Dies spielt jedoch keine Rolle, denn in der apriorischen Situation ist dem Subjekt auch nicht bekannt, inwiefern es überhaupt von Kriterien abhängig ist, einem Gegenstand zu Recht Würdigkeit beizumessen. Aus dem Begriff der Würdigkeit selbst ergibt sich, dass ihrem Träger Würdigkeit beigemessen werden muss und Würdigkeit nur zu Recht (aufgrund von Würdigkeit) beigemessen und sich einer Beimessung nur zu Recht (aufgrund von Würdigkeit) enthalten werden darf, nicht aber vorab und im absoluten Sinne, dass dies auf Kriterien beruhen müsse, und erst recht nicht, auf welchen. Es spricht nichts gegen die Bereitschaft, solange das Subjekt lediglich nichts von Kriterien oder über sie weiß und nicht meint, es gebe tatsächlich keine, welche irgendein Gegenstand erfüllen könnte, und auf dieser Ebene kann das Subjekt eine solche Meinung nicht haben. Grundsätzlich erwächst die Notwendigkeit der Heranziehung und Erfüllung objektiver Kriterien erst aus der Würdigkeit des Würdigen überhaupt, und auch die Erkenntnis jener Notwendigkeit erst aus der (An-)Erkenntnis der Würdigkeit des Würdigen, und nicht umgekehrt. Dies ist offensichtlich. Diese Notwendigkeit nachträglich auf den Gegenstand der Urwertbeimessung zu beziehen, ist nicht zulässig, da dies durch die Infragestellung der Würdigkeit des Würdigen dem Ursatz widerspräche.

Durchaus kann der Mensch im Voraus der maximal abstrakten Kategorie eines durch nichts als eine Würdigkeitsqualifikation „spezifizierten“ Gegenstandes Würdigkeit beimessen. Angesichts der wahren Natur des Ursatzes genügt es für die Sinnhaftigkeit dieses Konzeptes, wenn sich die dem Ursatz entsprechende Urwertbeimessung in der kategorischen Bereitschaft niederschlägt, jeder Sache, die einem jemals mental begegnen könnte, welcher Art sie auch immer sein mag (Handlungen, physische Objekte, Zustände, Abstrakta, Konkreta, Entitäten, Idealitäten...), nicht mehr und nicht weniger Würdigkeit beizumessen als sie verdient hat.

Der Sphärenkomplex der sittlichen Ratio

[§44] Um  einen aus dem singulären Basissatz bestehenden Nukleus herum gruppiert sich in der ethischen Vernunft des Menschen, sofern sie und seine Natur intakt sind, auf diesem nach der in Eintrag §39 dargelegten Weise aufbauend, ein Sternenmeer aus ethischen Urteilen und folglich aus ethischen Werten. Diese bestehen im Sinne ihrer Darstellbarkeit aus mehreren, einander sozusagen schichtweise umgebenden Sphären, deren innerste die der primären Prinzipien ist.

Sphäre I: Die primären Prinzipien

Diese können so bezeichnet werden, weil sie alle oder alle handlungsbezogenen Urteile der nachfolgenden Schichten betreffen, sich auf Würdigkeiten (S) allgemein beziehen und für die gesamte Ethik ein rahmenkonzeptionelles Gerüst bereitstellen. Die Gültigkeit eines Primärprinzips ist grundsätzlich für jeden Menschen mit ausgereifter Vernunft einsehbar; ihm zuzustimmen kann sich nur jemand enthalten, dem nicht wichtig ist, was wahrhaft würdig ist und was nicht, und der somit bewusst in einen Widerspruch zum Ursatz der Ethik tritt. Die Sphäre der primären Prinzipien unterteilt sich in zwei Subsphären, nämlich a) die der unter Voraussetzung eines objektiv würdigen Gegenstands normativ formulierbaren Grundimplikationen aus Eintrag §39 und b) die einer u.a. koordinativen, konstellationsregulativen und formalethischen Charakter besitzenden Erweiterung der Grundimplikationen, zu welcher gehört:

  1. Ist unklar, wie einer Würdigkeit (S) gerecht zu werden ist, ist dies in Erfahrung zu bringen.
  2. Fehlen Mittel zu jenem Zweck, sind diese zu beschaffen oder herzustellen.
  3. Ist die Realisierung von etwas als würdig Erkanntem nicht möglich, ist das dieser Realisierung am nächsten Kommende133 zu tun, soweit dies nicht durch das Gewicht einer damit in Konflikt stehenden ethischen Anforderung  ganz oder teilweise obsolet wird (Approximationsprinzip).
  4. Der Grad der Würdigkeit (V) der Gesamtheit aller zur Verfügung stehenden Mittel und wissbaren Wege, die empirisch zur Erfüllung einer Pflicht existieren, ist vom Grad der Würdigkeit (V) jener Pflicht proportional abhängig.
  5. Von der Höhe der Wahrscheinlichkeit, dass er zur Erfüllung einer Pflicht führt, ist die Höhe der Würdigkeit des Weges proportional abhängig.
  6. Von zwei einander ausschließenden Würdigkeiten (S) das weniger Würdige trotz Gleichrangigkeit in jeglicher sonstigen Hinsicht (außer aus der Perpektive der niederen Neigungen) zu wählen, ist unwürdig.
  7. Je leichter (bzw. schwerer) die Vermeidung einer Unwürdigkeit (S), desto schwerer (bzw. leichter) wiegt ihre Begehung.
  8. Je größer (bzw. geringer) die Würdigkeit eines Gegenstands, desto größer (bzw. geringer) ist der im Rahmen einer Grundimplikation von ihr abgeleitete Wert.
  9. Ein abgeleiteter Wert ist aber stets geringer als der Wert, von dem er abgeleitet ist.
  10. Würdigkeitsgrade addieren sich im Konvergenzfall und heben sich im Konfliktfall im Maße ihrer Differenz gegenseitig auf.
  11. Unter Zwang Zustandekommendes ist ohne Weiteres indifferent.
  12. Die Unterlassung einer Pflicht ist unwürdiger als die Unterlassung einer Pflicht, die kleiner ist als sie.
  13. Von zwei gleich großen, nicht gleichzeitig erfüllbaren Pflichten, von denen nur eine durch ihre Erfüllung die Erfüllung der anderen ermöglichen würde, ist diese zuerst zu erfüllen, dann die andere.
  14. Zwei gleich große, nicht gleichzeitig erfüllbare Pflichten, von denen keine durch ihre Erfüllung die Erfüllung der anderen ermöglichen würde, sind in beliebiger Reihenfolge beide zu erfüllen.
  15. Von zwei gleich großen Pflichten, die sich gegenseitig ultimativ ausschließen, ist nicht mehr und nicht weniger als genau eine zu erfüllen.
  16. Die Durchschreitung eines Weges, der als einziger zu der Erfüllung oder Ermöglichung der Erfüllung einer Pflicht führt, ist ebenfalls eine Pflicht.
  17. Existiert neben ihm ein gleichermaßen dazu führender Weg, ist sie indifferent.
  18. Die Durchschreitung irgendeines von ihnen ist eine Pflicht.

Der besseren Verständlichkeit halber wurde hier in der Aufzählung weitgehend auf das ... ist würdig-Format verzichtet, dennoch steht hinter jedem Punkt eine Aussage in dieser Form, jeder Satz lässt sich theoretisch so formulieren.

In Vermeidung des Aufwandes und die allgemeine Evidenz dieser Sätze nutzend, sparen wir uns hier eine genaue Herleitung der Sätze der Subsphäre «b» aus Nukleus und Subsphäre «a» vorerst (oder sie sei dem scharfsinnigen Leser überlassen), mit Ausnahme von Punkten, bei denen doch ein nachvollziehbarer Erklärungsbedarf bestehen könnte. Ein solcher Punkt ist Nr. 3, da im Zuge der Alltagserfahrung das Urteilsvermögen vieler Menschen diesbezüglich getrübt ist: In dieser Erfahrung wird die Erfüllung nur der maximal möglichen anstatt aller Bedingungen oftmals mit der Erfüllung keiner einzigen Bedingung gleichgesetzt und somit der Erscheinung (V) als wertlos, mithin als indifferent, preisgegeben, sei dies nun bei der Führerscheinprüfung, beim Kauf eines Neuwagens, einem behördlichen Antrag oder bei etwas Anderem. Dies gilt auch für Ähnlichkeiten: Überall werden Banknoten, die den offiziellen nur sehr ähnlich statt mit ihnen in allen wesentlichen Merkmalen identisch sind, als wertlos abgelehnt. Es gibt zwar die Sprüche „(Wenig ist) besser als nichts“ und „Besser spät als nie“ einschließlich ihrer Anwendung im Alltag, doch wird die Schärfe ihrer Evidenz eben durch konkurrierende Alltagserfahrungen wie die genannten vernebelt. Den größten Anteil an dieser Vernebelung hat wohl das Denken in utilitaristischen Kategorien: Was keinen Nutzen hat, ist demnach wertlos, und komme es dem Nützlichen noch so nahe. Dabei ist Satz Nr. 3 als Teil der primären Prinzipien des ethischen Urteilsvermögens unverhandelbar, denn:

Auch Satz Nr. 6 könnte mit einem gewissen Klärungsbedarf einhergehen: Warum ist von zwei Würdigkeiten das geringfügig weniger Würdige trotz Gleichrangigkeit in jeglicher sonstigen Hinsicht (außer aus der Perpektive der niederen Neigungen) zu wählen gleich unwürdig, statt einfach weniger empfehlenswert? Die Antwort hierauf findet sich in Eintrag §32. Würdigkeit ist das genaue und volle Gegenteil von Unwürdigkeit, d.h. würdig ist die Willentlichkeit, die zu unterlassen unwürdig ist. Ist eine von zwei möglichen Willentlichkeiten würdiger als die andere, gleich ob geringfügig oder nicht, bleibt bei Bevorzugung der anderen eine ignorierte Restwürdigkeit, die zu ignorieren unwürdig ist.

Und lässt sich Satz Nr. 9 begründen, demzufolge ein abgeleiteter Wert stets geringer ist als der Wert, von dem er abgeleitet ist? Ja:

Diese erste Schicht des Sphärenkomplexes ist jedenfalls hinsichtlich ihres Umfangs konstant und wächst im ausgereiften Normalfall nie. Ihr potentielles Volumen ist endlich und verhältnismäßig klein.

Sphäre II: Die Zweckbestimmungen

Die zweite Sphäre ist die Schicht der Zweckbestimmungen, oder, ausführlicher bezeichnet, die der Zweck- und Unzweckbestimmungen. Sie ist zum großen Teil noch relativ allgemein und bewertet anhand der Sätze der vorigen Schicht und ihres Nukleus alle der erwachsenen Person bekannten Kategorien, Abstrakta und Ideen jenseits derjenigen der vorigen Schicht (welche dort ja zum Großteil in den allgemeinen Begriffen der Würdigkeit(en) (V/S) und Willentlichkeit(en) (V/S) bestanden) bzw. der Kategorien mit einem etwas geringeren Abstraktheitsgrad als die in der vorigen Schicht enthaltenen: Menschen, Tiere, Pflanzen, Materie, Leben, Frieden, Freiheit, Vergnügen, Leid, Nutzen, Schaden, Barmherzigkeit, Grausamkeit, Wahrheitstreue, Unwahrhaftigkeit, usw. ...

So bewertet in der idealen Ethik diese Sphäre beispielsweise das Leben als etwas Würdiges, u.a. weil Leben Voraussetzung für Willen und somit für die Berücksichtigung von Würdigkeiten ist. D.h. um des Würdigen des Ursatzes willen gilt: Leben ist würdig.. Frieden ist wiederum Voraussetzung für die Ausbreitung, Unversehrtheit und Vollkommenheit von Leben, weshalb sich in dieser Sphäre auch der Satz Frieden ist würdig. etabliert. Natürlich ist es aufgrund des Rahmens, der sonst mehr als gesprengt würde, unmöglich, alle weiteren Zweckbestimmungen hier vollständig aufzuzählen; nicht einmal sind die erwähnten Bestimmungsgründe der eben genannten Beispiele die einzig denkbaren. Diese und die Beispiele mögen aber vorerst ausreichen, um zu erahnen, wie die zweite Sphäre aus der ersten erwächst.

Aus den Sätzen der innersten Schicht und vor dem Hintergrund der uns bekannten Natur ergibt sich offensichtlich auch, dass den Werten und Unwerten dieser und der auf ihr folgenden Sphäre eine Gradualität zueigen ist, welche de facto ein hierarchisches Verhältnis aller Sätze untereinander konstituiert, das von größter Relevanz für den Umgang mit eventuellen Normkonflikten der folgenden Schicht(en) ist. Auch sie lässt sich in zwei Subsphären einteilen, nämlich die mit Entitäten oder möglichen Zuständen solcher als Gegenstand (Menschheit, Erde, Freiheit etc.) und die, deren Urteile kultivierbare Ideale i.S.v. Haltungen, insbesondere Tugendhaltungen als Gegenstand haben (Barmherzigkeit, Weisheit, Mut etc.), also a) die der Realismen und b) die der Idealismen, welche Ideale zum Gegenstand haben.135

Auch diese Sphäre ist hinsichtlich ihres Umfangs konstant und wächst kaum bzw. hört relativ früh weitgehend auf zu wachsen, wenn auch je nach Lebensgeschichte spätere Wachstumsschübe nicht ausgeschlossen sind. Ihr potentielles Volumen ist in gewisser Hinsicht endlich, aber dennoch enorm groß.

Sphäre III: Die derivativen Normen

Die dritte Schicht hingegen wächst permanent und widmet sich der Regulierung von Willentlichkeiten in Form derivativer Normen, die sich aus den vorigen Schichten ableiten bzw. aus der Anwendung der innersten Schicht auf die übrigen Schichten resultieren, wie z.B. Hungernde Menschen zu speisen ist würdigLästern ist unwürdig usw. - Als eine zweite Subsphäre konstituierend lassen sich Urteile ansehen, die Begriffe beinhalten, die nur einem Teil der Gesellschaften bekannt sind, oder die nur für einen Teil der Gesellschaften gilt, wie z.B. Hakenkreuze zur Dekoration zu verwenden, ist unwürdig, oder Urteile, die sogar nur für bestimmte Individuen oder Situationen eine Rolle spielen: Diskutiere nicht mehr mit Person X über Politik.

Diese Sphäre besitzt einen variablen, tendenziell zunehmenden Umfang. Ihr potentielles Volumen ist unendlich groß.

Überblick und Schlussbemerkungen

Während in feinen, kaum ins Gewicht fallenden Details der Bedarf an einer Modifikation oder wenigstens Ergänzung dieses unter Berücksichtigung didaktischer und ästhetischer Gesichtspunkte konstruierten Sphärenmodells nicht ausgeschlossen sein mag, ist seine Angemessenheit zumindest in den Grundzügen völlig unzweifelhaft, z.B. was den Nukleus und die Universalität der innersten Sphäre betrifft. Darum hier eine überblickartige Darstellung des Sphärenkomplexes der sittlichen Ratio:

Als angemessene Ergänzung ließe sich u.a. anmerken, dass die Abhängigkeit der Schichten voneinander dem Grunde nach durchaus monodirektional von außen nach innen verläuft, sich im Nachgang aber dennoch mitunter bidirektional und durch horizontale statt nur vertikale Abhängigkeit wie im Leben-/Frieden-Beispiel tridirektional ausprägt, zumal beispielsweise Gegenstände der Sphäre II nicht nur Zwecke, sondern auch Mittel zu Zwecken derselben Sphäre sein, ja sogar Normen der Sphäre III dienen können.

Das Wertegebilde und seine drei Formate und vier Versionen

[§45] Während sich die Struktur des Sphärenkomplexes aus den gegenseitigen Abhängigkeiten der Arten (Sphären) von Werten (S) bzw. der dazugehörigen Urteile ergibt und Abhängigkeiten zwischen diesen Arten ihr Kriterium sind, bildet sie keine auf den Abhängigkeiten zwischen den partikulären Werten beruhende Struktur ab. Hierfür ist der Sphärenkomplex in ein sphärenindifferentes Wertegefüge zu konvertieren. Auch seine Struktur ist eine der Abhängigkeit, jedoch nicht nur derjenigen der Sphären, sondern der Würdigkeiten (V) der Einzelwerte (S) untereinander. Sphärenkomplex und Wertegefüge lassen sich unter den Oberbegriff des Wertegebildes zusammenfassen. Ein dritter Vertreter des Wertegebildes, in den die anderen beiden ggf. zu konvertieren sind, ist die Wertehierarchie, deren Aufbau keine Abhängigkeiten, sondern die Höhe der Werte wiedergibt.

Schon im Format des Sphärenkomplexes, noch deutlicher aber im Format des Wertegefüges, ist zwischen vier Versionen des Wertegebildes zu unterscheiden:

a) Das reale individuelle Wertegebilde

Sein Konstruktionsmittel ist ein durchgehend reales, individuelles Faktorentriplett. Die Individualität des Tripletts beruht auf der Einbezogenheit der conditio personalis des betreffenden Individuums anstelle der conditio humana universalis als Komponente des Tripletts. Dies wiederum bewirkt die Individualisierung des Wertegebildes. Dieses ist als rein intellektuelle Entität zwar nicht mit dem aktualen Neigungsgefüge einer Person identisch, dennoch sollte dieses dazu tendieren, sich in seiner Struktur dem Wertegebilde in wesentlichen Aspekten langfristig anzugleichen. Da der menschlichen Natur gemäß von einer gewissen Dynamik des realen individuellen Wertegebildes auszugehen ist, dürfte das Neigungengefüge bei dieser Angleichung dem Komplex stets in einem gewissen Abstand hinterher laufen. Bei einem primitiven Hedonisten dürfte allerdings das Umgekehrte der Fall sein, nämlich dass sein Wertegebilde dazu tendiert, sich in seiner Struktur dem Neigungengefüge anzugleichen.

b) Das ideale universale Wertegebilde

Konstruiert wird dieser mittels des universalen Faktorentripletts, das durch die conditio humana universalis universalisiert wird. Letztere lässt sich als die Schnittmenge aller condiciones personales definieren. Für den Diskurs sowie für die Formung einer Gesellschaft ist unter den vier Versionen allein das ideale universale Wertegebilde relevant. Es kann als Kriterium zur Bewertung eines Individuums eingesetzt werden, jedoch nur im Modus einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung, da eine conditio personalis auch unverschuldet von der conditio humana universalis in einigen Punkten bis zu einem gewissen Grad abweichen kann. Diese Kategorie steht für das Gefüge der Wertbeimessungen eines idealen Menschen, und zwar eines idealen in zweierlei Hinsicht, nämlich zum einen dessen, wofür er verantwortlich ist - seine Urwertbeimessung und ihr Ausmaß -, und zum anderen seiner Natur. Abweichungen des individuellen vom universellen Wertegebilde sind also immer auf einen schuldhaften Mangel bezüglich des ersteren oder einen unverschuldeten Mangel bzgl. des zweiteren zurückzuführen.

c) Das ideale individuelle Wertegebilde

Hier kommt wieder ein durch die conditio personalis individualisiertes Faktorentriplett als Konstruktionsmittel zum Einsatz; das Wertegebilde erlangt hier jedoch (ungeachtet seiner Individualität) durch eine vollkommene Urwertbeimessung Idealform. Als Maßstab für die sichere und präzise Bewertung eines Individuums ist nur ein solches Wertegebilde relevant; die Bewertung besteht im Abgleich des realen individuellen Wertegebildes mit diesem idealen individuellen. Allerdings ist er aus recht offensichtlichen Gründen nur für einen allwissenden Bewerter nutzbar.

d) Das reale universale Wertegebilde

Dieses hat weder ein bestimmtes, einzelnes Faktorentriplett als Konstruktionsmittel, noch lässt es sich auf eine bestimmte Urwertbeimessung zurückführen. Vielmehr bildet es einfach nur die Schnittmenge aller realen individuellen Wertegebilde und repräsentierte hiermit einen Weltethos.

Der Sinn von Korrekturen am individuellen Wertegebilde

Wenn für den Diskurs und die Erziehung einer Gesellschaft nur das ideale universale Wertegebilde relevant ist, impliziert dies, dass das Individuum zumindest im sozialen Kontext stets mit dem Imperativ konfrontiert ist oder konfrontiert werden muss, sein eigenes bzw. reales individuelles Wertegebilde an jenes so weit wie möglich anzugleichen. Welchen Sinn aber hat dies und allein schon die Beschreibung eines Wertegebildes in irgendeinem seiner drei Formate, wenn das individuelle Wertegebilde grundsätzlich nur ein Resultat, nämlich das der persönlichen Urwertbeimessung ist? Wäre die Anpassung gewisser Einzelheiten nicht bloße Makulatur und Heuchelei, zumal die Urwertbeimessung sich durch eine solche Anpassung wohl kaum rückwirkend ändern wird? Welchen Sinn hat dann überhaupt irgendeine (meta-)ethische Diskussion? Dazu lässt sich sagen:

Die Säulen des Wertealls

[§46] Während das Ergebnis der in Eintrag §29 bewerkstelligten Herleitung des Ursatzes für sich unbezweifelbar ist, ist die Herleitung selbst fraglicher, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die sensible Stelle der Herleitung ist die Äquivalenzumformung des Satzes |X ist unwürdig.| (A) zu dem Satz: |Das Nichtsein von X ist würdig.| (B). Zwar wird im Allgemeinen niemand ernsthaft bezweifeln, dass zwischen den beiden Sätzen eine Art von Äquivalenz herrscht, weshalb die Umformung mindestens als Leitersprosse hin zum Ursatz hinreichend sein wird. Nach näherer Betrachtung ist allerdings zu befürchten, dass wir es mit einer Leiter zu tun haben, die womöglich schon nach ihrer ersten Benutzung für die weitere Verwendung unbrauchbar ist. Satz B steht nämlich nicht auf derselben Ebene wie A und kommt eher als Ableitung von ihm in Frage, noch dazu als eine auf Basis der in Eintrag §39 erwähnten, anthropologisch bedingten Grundimplikationen. Auf einer Ebene mit Satz B stünde nämlich vielmehr der folgende Satz und gälte offensichtlich mit höherem Anrecht als äquivalent: |Das Sein von X ist unwürdig.| Dass nun dieser Satz mit |X ist unwürdig.| nicht bedeutungsidentisch ist, sollte ebenfalls klar sein (ontologische Differenz).

Damit stellt sich die Frage nach der Bestimmung des Begriffs des Unwürdigen als noch zu lösendes Problem dar, denn seine Definition als „etwas, dessen Nichtsein würdig ist“, mag als für die meisten Zusammenhänge ausreichende Arbeitsdefinition dienlich sein, macht jedoch nicht das - zumindest nicht das gesamte - Wesen des Unwürdigen aus. Wir könnten nun der Versuchung ausgesetzt sein, das Würdige und das Unwürdige daher einfach als ebensowenig voneinander ableitbar zu deklarieren, wie sich in der Optik Magentarot und Cyanblau voneinander ableiten lassen. Doch legen nicht nur die sprachlichen Bezeichnungen Anderes nahe, sondern eine solcherart irreduzible Definition des Unwürdigen wäre zudem nicht intelligibel und stünde in einem Spannungsfeld mit dem Grundsatz der Singularität des Ursprungs der Ethik. Es wäre also zu schauen, ob sich anhand einer anders eingesetzten Negation sowie des Begriffs des Würdigen nicht doch noch der Begriff des Unwürdigen konstruieren lässt, oder anhand eines vermittelnden Begriffs, wie ihn z.B. in der Logik der Begriff des Möglichen darstellt, auf den sich alle drei Urteilsbegriffe der Logik zurückführen lassen (das logisch Unmögliche ist das, dessen Sein/Zutreffen nicht möglich ist; das Notwendige ist das, dessen Nicht-Sein/-Zutreffen nicht möglich ist; das Kontingente ist das, dessen Sein/Zutreffen und Nicht-Sein/Nicht-Zutreffen möglich ist). In der Ethik mag man den Begriff des Legitimen als einen in entsprechender Weise vermittelnden Begriff ausmachen, doch ist er auf die Beurteilung von Handlungen beschränkt und kann seine vermittelnde Funktion nur für die spezifischeren Urteilsbegriffe des Obligaten, des Verwerflichen und des in diesem Sinne Neutralen ausüben, während die Urteilsbegriffe der Ethik in ihrer allgemeinsten Form auch auf Entitäten anwendbar sind und der Begriff des Legitimen unter ihnen deplaziert anmutet. Bliebe noch, den vermittelnden Begriff unter den drei Urteilsbegriffen zu suchen, ohne ihn aus einem von ihnen zu extrahieren. Hierfür bietet sich nur der Begriff des Würdigen unmittelbar als geeignet an. Wie aber lässt sich der Begriff des Unwürdigen auf den des Würdigen zurückführen, und zwar so, dass das Spezifische am Begriff des Unwürdigen gewahrt bleibt, wozu das über bloße Negation hinausgehende und Indifferenz somit dezidiert Ausschließende gehört? Zur Beantwortung dieser Frage führt kein Weg daran vorbei, die Gedanken nochmals um das Konzept des Würdigen als solches kreisen zu lassen.

Wenn wir daher nun weiter davon ausgehen, dass es keinen anderen fundamentalen Urteilsbegriff der Ethik außer demjenigen des Würdigen gibt und zudem berücksichtigen, dass das Ausmaß von Würdigkeit nichts am Wesen des Trägers dieser besonderen Art von Eigenschaft ändert,136 Würdigkeit also keine einen Gegenstand wirklich beschreibende Eigenschaft ist, können wir beim Nachdenken darüber, was für eine Art von Eigenschaft sie sonst ist, und bei der Suche nach Analogien in physikalischen Sachverhalten zu der Auffassung gelangen: Würdigkeit ist in gewisser Weise eine Position. Nur kommt diese nicht Gegenständen in einem Raum materieller Objekte, sondern Gegenständen in einem geistigen Raum begrifflicher Objekte zu. Dort ist es ein vierdimensionaler Raum der Körper, hier ein gewissermaßen anderthalbdimensionaler137 Raum der Werte (S) (d.h. der Wertträger).

In einer konsequenten ontologischen Analyse stellt sich eine materieräumliche Position als die variable Anzahl spezieller, auf transzendente Weise mit der Substanz eines materiellen Objekts verknüpfter Entitäten dar, die sich als „Positionsquanten“ bezeichnen lassen.138 Auf die Dinge im Werteraum übertragen bedeutete dies, dass den Wertträgern, die dort als Begriffe vorliegen, im Allgemeinen immer eine gewisse Anzahl von Würdigkeitsinstanzen zugeordnet wird. Die Menge der einem einzelnen Begriff zugeordneten Instanzen des Archetyps der Würdigkeit konstituiert den Rang, der wie im Rahmen einer Punktevergabe zugesprochen wird.

Ein Problem, das sich dann stellt: Wie viele Punkte hat in dieser „Punktevergabe“ denn dann ein höchster Wertträger konkret, und wie viele der niedrigste? Der niedrigste mag noch einfach null Würdigkeitsinstanzen bekommen haben, doch wie viele hat im Idealfall der höchste Wertträger? Ein höchster Wertträger, der eigene und die höchste Würdigkeit besitzt, muss ja ohnehin angenommen werden. Alle anderen Werte leiten sich im Idealfall von seiner Würdigkeit ab, und abgeleitete Würdigkeit, wie ja schon festgestellt, ist immer geringer als die Würdigkeit der Ableitungsquelle. Werden hier numerische Absolutwerte oder doch so etwas wie Prozentwerte abgespeichert?

Für eine relevante Feststellung der Höhe oder Niedrigkeit des Ranges eines Wertes (S) hilft ein numerischer Absolutwert alleine natürlich nicht weiter. Von numerischen Werten ist schließlich bekannt, dass sich ein solcher zunächst nach viel anhören und dennoch verhältnismäßig extrem niedrig sein kann. Das nächste Problem: Wie soll man es sich in geistorganisatorischer Hinsicht konkret vorstellen, dass Würdigkeit nur als Anteilsverhältnis zugeordnet wird? Das Prozentkonzept ist ja bloße Konvention und wohl kaum Bestandteil der „Hardware“ des Geistes. Dass Würdigkeit oder irgendeine andere Eigenschaft als Archetyp in einer bestimmten Anzahl (z.B. 33333) vorliegt, so dass bei der Instantiierung ein passender Anteil dieser Anzahl kopiert würde, wird weder von einem relevanten Gefühl noch von irgendeiner Logik bestätigt, zumal das mehrfache Vorliegen ein und desselben Archetyps konzeptologisch sinnlos und damit effektiv ausgeschlossen ist. Die geistorganisatorische Abspaltung von genau 1, dem Zahlwert, der sich aus der totalen essentiellen Einheit des Archetyps ergäbe, ist ebenfalls nicht denkbar, da man nur etwas aufteilen kann, das hinsichtlich seiner internen Struktur bereits als Menge (größer als 1) vorliegt. Mit Absolutwerten lässt es sich ja einfacher vorstellen: Es würde einfach eine bestimmte Anzahl von Instanzen des Archetyps der Würdigkeit - also in mehrfacher Ausführung - an den jeweiligen Begriff geheftet.

Die Lösung ist, dass es in der Praxis zur Repräsentation von Rängen zwar durchaus sozusagen eine Vergabe von Punkten gibt (die natürlich nichts mit Punktförmigkeit zu tun haben), es aber von sekundärer Relevanz ist, welche Höchstanzahl an Rangeinheiten ein Individuum ansetzt, sondern die Hauptsache ist, dass es dem Urwertträger eine solch große Menge an Rangeinheiten einräumt, dass alles andere anteilsmäßig in der rechten Weise darunter passt. Wenn es ihm z.B. nur drei Rangeinheiten zuordnet, zugleich aber Zehntausende andere zu bewertende Begriffe besitzt, dann werden diese natürlich kaum in der rechten Weise darunter passen, weil drei Rangeinheiten dafür keine genügend feine Aufteilung bieten. Es muss (im Sinne einer geistorganisatorischen Bedingung) also eine so hohe Anzahl gewählt werden, dass die Ränge aller restlichen Dinge in korrekter Weise und die vom Individuum angedachten Rangverhältnisse korrekt wiedergebend darunter passen. Welche Anzahl das Individuum bei Erfülltheit dieser Bedingung genau und konkret wählt, ist sozusagen ihm überlassen.

Dann aber wäre das Problem bezüglich der Tatsache zu lösen, dass es ja sein kann, dass einem Wertträger unendliche Würdigkeit zugeordnet werden muss,139 wie es ja bei Gott aus der Perspektive des tiefgläubigen Theisten der Fall ist. Kein wahrhaft glaubender Monotheist mit ausgereiftem Intellekt würde nicht unmittelbar zustimmen, dass Gott eine unendlich große Würdigkeit zueigen ist. Das Problem besteht aus zwei Unterproblemen. Erstens: Wie lässt sich zum Zwecke einer Wertableitung ein Anteil aus einer unendlich großen Würdigkeit bestimmen? Was für eine Menge ergibt das, und warum ausgerechnet diese? Zweitens: Wie können wir Menschen als endliche Wesen in unserem Geist eine unendlich große Anzahl von Rangeinheiten an irgendeinen Begriff heften (ganz zu schweigen von der logischen Absurdität einer aktualen numerischen Unendlichkeit)?

Was die erste Frage betrifft: Die Lösung läuft analog zur oben genannten Lösung des geistorganisatorischen Problems der Zuordnung von Würdigkeit als Anteilsverhältnis allgemein. Es ist nämlich relativ unerheblich, welche endliche Menge an Rangeinheiten genau man einem Wertträger, dessen Wert sich von dem eines Inhabers unendlichen Werts ableitet, wenn er infolge der Ableitung der zweithöchste aller Wertträger ist, einräumt, solange alles andere in der korrekten Weise darunter passt. Damit das unendlich Würdige das höchste Würdige bleibt, muss nun mal alles andere allenfalls endliche Würdigkeit besitzen. Darum ist es dem Individuum – wenigstens zunächst – freigestellt, die Anzahl zu wählen.

Was die zweite Frage betrifft: Der Mensch – nicht nur hier, sondern allgemein bei allen Begriffen, die ein quantitativ variables Ausmaß mit sich bringen können (z.B. Kraft) – wird gewiss nicht jede einzelne Rangeinheit oder sonstige Instanz „pflücken“ und diese einzeln nacheinander zuweisen… Auch kann er sich schon in relativ geringen Zahlenmengen gruppierte Gegenstände kaum zahlgetreu vorstellen. Hat er die Möglichkeit, bei jedem für so etwas typischen Archetypen eine Art „Zahleninstanz“ an die von ihm eingesetzte Instanz zu heften? Dass wir zu solchen Eigenschaften nie spontan ein zahlenmäßiges Maß nennen können und die Sprache mancher Völker keine Zahlwörter für Zahlen größer als 2 vorhält, spricht allerdings nicht gerade dafür, dass es solche Mengenarchetypen gibt. Angeheftet wird stattdessen möglicherweise eine Komparativauszeichnung „[viel] größer als X“. Womöglich aber bleibt dieser Einzelaspekt vorerst einfach im Dunkeln. Es sollte dennoch nichts ernsthaft dagegen sprechen, im Sinne einer anschaulichen Vereinfachung des Prinzips von der Zuweisung einer bestimmten Anzahl von Instanzen des gleichen Typs auszugehen. Was das unendlich Würdige anbetrifft, so dürfte es in diesem vereinfachten Modell ausreichen, dass 1.) ihm die höchste Menge an Würdigkeitsinstanzen (Rangeinheiten) zugeordnet wird, 2.) diese Menge, so unscharf und endlich sie aufgrund der endlichen Natur des Subjekts sein mag, so groß gewählt ist, dass bei einem Vergleich die Würdigkeit alles anderen introspektiv (ebenfalls durch die Natur des Subjekts bedingt) verschwindet und 3.) das Subjekt zudem in sich gewissermaßen eine Routine bzw. Automatik etabliert, durch welche es, immer wenn es an jenen Wertträger denkt, sich quasi automatisch bemüht, ihm eben so viel mehr Rangeinheiten als allen anderen (auch den evtl. noch hinzutretenden) Wertträgern, wie hoch ihr Wert auch irgendwann sein mag, zuzuordnen. Diese drei Dinge zusammengenommen sollten, sobald sie in Bezug auf einen Wertträger vorliegen, es problemlos erlauben, über das Subjekt zu sagen, dass es ihm eine unendlich große Würdigkeit zuordnet. Ansonsten bliebe noch die Möglichkeit, dass das Subjekt in sich lediglich eine Automatik etabliert, durch welche es beim Gedanken an jenen Wertträger ihm den Wert 1 zuordnet und den Wert alles anderen temporär auf Null „schaltet“.

Wir müssen übrigens immer zwischen einerseits der Realität und Praxis des Menschen, wie er etwas in seinem Inneren an Würdigkeitszuordnungen und Rangabfolgen realisiert, und andererseits dem Ideal unterscheiden. Das Ideal ist statisch, im Unterschied zum Inneren des Menschen, welches dynamisch und bis zu einem gewissen Grad instabil und voller Fluktuationen ist. Sobald man nämlich eine Hierarchie (S) in sich etabliert hat, gleicht sie einer Sandburg, die permanent gepflegt werden muss, um ihre Form zu bewahren; Vieles ist ungenau, für Vieles müssen Behelfsmaßnahmen vorgenommen werden, ganz zu schweigen von der permanenten Optimierung und den häufigen, nachbessernden Optimierungen, die nötig sind. Davon zu unterscheiden ist nun mal die Idealhierarchie, die eine feste und klare Anzahl an Rangeinheiten für jeden Begriff vorhält, und in welchem der Wert des Wertträgers mit dem höchsten abgeleiteten Wert perfekt gewählt ist und der Begriff des Urwertträgers gegebenenfalls einfach das Etikett „unendlich würdig“ besitzt.

Mit diesem Konzept der idealen Wertehierarchie ist eine Definition des Würdigen möglich, welche das Problem der Äquivalenzumformung des Satzes  |X ist unwürdig.| löst oder wenigstens eine Grundlage liefert, auf welcher es sich lösen lässt. Es ermöglicht, sich eine Analogie zur Empirik zunutze zu machen bzw. eine solche herzustellen. Eine bereits bekannte Gemeinsamkeit haben Empirik und Ethik ja schon in der Gradualität bzw. Skalarität ihrer Urteilsbegriffe. Nun tritt in der Empirik das Unwahrscheinliche als bloße Subkategorie des Wahrscheinlichen auf, ja auch extreme Unwahrscheinlichkeit ist hier eine Subkategorie oder Form von Wahrscheinlichkeit, obwohl sie zugleich das Gegenteil von Wahrscheinlichkeit ist. Empirik stuft einfach das als unwahrscheinlich ein, was eine so geringe Wahrscheinlichkeit besitzt, dass es sich im unteren Drittel aller möglichen verhältnismäßigen Wahrscheinlichkeitsgrade befindet. Man kann hier also nicht nur sagen, es sei unwahrscheinlich, weil seine Wahrscheinlichkeit zu gering ist, sondern auch: Es hat als unwahrscheinlich zu gelten, obwohl es immerhin noch - wenn auch in sehr geringem Maße - wahrscheinlich ist.

Das Unwahrscheinliche ist insofern das Gegenteil des Wahrscheinlichen, als die Unterteilung der Wahrscheinlichkeitenskala dergestalt ist, dass einerseits allein das im oberen Drittel Befindliche als wahrscheinlich ausgezeichnet werden darf und muss, das im unteren Drittel Befindliche als unwahrscheinlich, und was sich dazwischen befindet, als „fraglich“. Auf dieser globalen Ebene hat das untere Drittel nur insofern etwas mit Wahrscheinlichkeit zu tun, als es das Gegenteil davon ist (und nicht im Geringsten damit, dass es eine Subkategorie des Wahrscheinlichen ist).

Andererseits: Dass sich überhaupt etwas im unteren oder einem anderen Drittel positionieren kann, ist ohne den Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht denkbar und muss mit dem großen oder kleinen Ausmaß der Wahrscheinlichkeit zu tun haben. Unwahrscheinlichkeit ist auf dieser lokalen Ebene einfach mangelhafte Wahrscheinlichkeit und keine genuin eigene Kategorie, sondern ein Begriff, der denjenigen der Wahrscheinlichkeit enthält (wobei das Umgekehrte nicht der Fall ist). Dies mag noch so stutzig machen, zumal die Begriffe des Nichtwahrscheinlichen und des Unwahrscheinlichen an sich keineswegs identisch sind, muss jedoch offensichtlich so akzeptiert werden. Das auf der globalen Ebene Würdige mit seiner polaren Würdigkeit lässt sich zum im Materialraum oben Befindlichen in Analogie setzen, das auf der lokalen Ebene Würdige mit seiner rein skalaren Würdigkeit zum einfach irgendeine Höhe Besitzenden (oben zu sein besitzt im Unterschied zum Besitz von Höhe, dessen Gegenteil nur seine Negation ist, zusätzlich zur bloßen Negation ein volles und diametrales Gegenteil). Dies bestätigt gewissermaßen den positionalen Charakter von Würdigkeit, zumal z.B. die Wärmeanalogie nicht ganz funktioniert.

Es wäre nun sehr natürlich und nur menschlich, als Epistemologe dazu zu tendieren, diese Paradoxie der „Würdigkeit in der Unwürdigkeit“ von der Ethik fernzuhalten. Bei mir jedenfalls beruhte diese Tendenz zum einen darauf, dass ich die bereits festgestellte Position der Ethik als die einer Synthese ähnelnde Mitte zwischen Logik und Empirik nur zu gerne in einem weiteren Aspekt erneut bestätigt gesehen hätte. In der Logik ist es ja offensichtlich völlig ausgeschlossen, Unmöglichkeit als einen bloßen Mangel an Notwendigkeit anzusehen, sondern allenfalls als vollkommenen Mangel an Möglichkeit. Zum anderen ist es sehr schwer zu akzeptieren, dass dezidiert Unwürdiges analog zu den Verhältnissen in der Empirik doch noch in irgendeinem Maße würdig sein könnte, ja es keine ganz eigene Kategorie des Unwürdigen gibt, sondern nur Würdigkeit in unterschiedlichen Graden. Man stelle sich vor, dass die Differenz im Ausmaß der Unwürdigkeit der Ermordung eines einzelnen anonymen Unschuldigen und derjenigen der eigenen unschuldigen Eltern und Kinder darauf beruhen könnte, dass einem der beiden Untaten mehr Würdigkeit als dem anderen zukommt!

Dennoch bleibt offenbar wohl oder übel nichts anderes übrig, als den beschriebenen Sachverhalt aus der Empirik auf den Würdigkeitenraum und die in ihm enthaltene Wertehierarchie (S) zu übertragen: Je nach dem,  was nach Etablierung dieser Hierarchie der Würdigkeiten der den höchsten endlichen Wert besitzende Wertträger für einen Wert bekommen hat, muss dieser nur noch in drei Bereiche aufgeteilt werden, einen höchsten für das Würdige, einen niedrigsten für das Unwürdige und einen mittleren für das Indifferente. Im untersten Bereich rangiert das, was schlicht zu wenig Würdigkeit hat. Wenn dies auf der theoretischen Ebene irritierenderweise zunächst impliziert, dass es noch eine Restwürdigkeit haben kann, weil es lokal keine negative Würdigkeit oder Inversion von Würdigkeit gibt, so ist dies vorerst hinzunehmen. Auch extrem Unwürdiges kann objektiv also noch eine Restwürdigkeit haben, wenn es keinen Rang von null hat.

Eine Versöhnung mit diesem Gedanken ist derweil einigermaßen möglich, wenn man bedenkt:

  1. Die wirklich schlimmen Dinge werden nicht nur geringe, sondern im Verhältnis zu den anderen Dingen verschwindend geringe Werte haben, so gering, dass ihr Wert im Gewöhnlichen unsichtbar ist.
  2. Außer einem Urwertträger kann nichts wirklich eigene (d.h. unabgeleitete) Würdigkeit haben, damit ist auch die Restwürdigkeit von etwas Unwürdigem in Wirklichkeit keine auf ihm selbst beruhende und nicht die seine, sondern eine notwendige Reflexion der Würdigkeit von etwas Anderem.
  3. Unwürdiges hat immerhin auch insofern überhaupt keine Würdigkeit, als es schlicht und einfach nicht in den oberen Bereich gehört.
  4. Ein Restwert wird erst in Entscheidungskonflikten sichtbar, in welchen aus irgendwelchen Gründen Unwürdiges unvermeidlich ist und klar sein muss, was das geringere Übel ist, um dem größeren von zwei großen Übeln auszuweichen, was natürlich impliziert, dass das kleinere bevorzugt werden muss, was nur denkbar ist, wenn sein fast nicht vorhandener Restwert sichtbar wird und größer als der des schlimmeren Übels ist. Denn dann erweist sich das kleinere Übel tatsächlich insofern als wertvoll, als durch dieses eine noch schlimmere Handlung verhindert werden kann.
  5. Da z.B. (materieller) Diebstahl und Menschentötung vollkommen gleichzeitig zu begehen in der Regel nicht möglich ist, könnte der spürchenhafte Restwert des Diebstahls auch allgemein und jenseits von akuten Entscheidungskonflikten u.a. darauf beruhen, dass effektiv dadurch die Tötung eines Menschen temporär unterlassen bzw. unmöglich gemacht wird, was unbestreitbar ein positiver, wenn auch im Normalfall (!) irrelevanter Aspekt ist. Auf den möglichen Einwand, ob nicht jene Unterlassung so weit oben in der Wertehierarchie rangiere, dass dadurch auch Diebstahl recht weit nach oben käme, ist zu entgegnen, dass dies schon insofern abwegig ist, als unzählige andere Handlungen ebenfalls diese verhindernde Eigenschaft haben, und vor die Diebstahl sich deswegen sicherlich nicht drängeln können wird; abgesehen davon ist es eine zeitlich extrem begrenzte Verhinderung. – Dieser Punkt liefert damit auch einen Ansatz zur Beantwortung der Frage, wo eine große Unwürdigkeit (S) ihren Restwert überhaupt her bekommen solle.
  6. Welche Handlungskategorie sich auch immer nah am Boden der Wertehierarchie eines winzigen Restwertes erfreuen mag – ihr Gegenteil wird, wenn es sich bei ihr um eine echte Unwürdigkeit (S) handelt, notwendigerweise extrem weit oben rangieren (z.B. |Menschenleben retten/schonen| versus |Menschenleben vernichten|). Eben in der Verknüpftheit mit einem solchen Sachverhalt besteht die Unwürdigkeit von etwas, bzw. ein solches Verhältnis lässt sich als Definitionselement für den Begriff des Unwürdigen einbringen („dasjenige, dessen Unterlassung in der Skala oben rangiert“).
  7. Es ist nicht zu befürchten, dass größere Unwürdigkeiten durch Vielzahl und die Summe ihrer Restwerte die Höhe kleinerer Unwürdigkeiten oder gar den Bereich der Indifferenz oder noch höhere Stufen erreicht. Denn die Behandlung von Würdigkeitswert ist nicht mit der Behandlung von Warenwert oder Verdienstlichkeit zu verwechseln (siehe auch §32). Während in der Wirtschaft defekte Fahrzeuge in extrem großen Mengen zusammen betrachtet durchaus mehr wert sein können als ein luxuriöser Neuwagen, und eine große Menge kleiner Verdienstlichkeiten eine einzelne große Verdienstlichkeit aufwiegen können, bedeutet der diskutierte Sachverhalt nicht, dass eine extrem große Menge verschiedenartiger Kapitalverbrechen aufgrund ihrer Menge jemals einer verhältnismäßigen Bagatelle vorzuziehen sein könnten, zumal der Restwert einer Unwürdigkeit abhängig davon ist, dass er eine schlimmere Unwürdigkeit verhindert, so dass auch dieser Restwert ohne diese Leistung verschwindet. Summierungen in Absehung von dieser Abhängigkeit sind sinnlos. Im Fall der erzwungenen Wahl zwischen einer Bagatelle und einer mit ihr konfligierenden exorbitanten Menge von Kapitalverbrechen würde die Bagatelle siegen, weil sie zu wählen zugleich eine Wahl der hochwürdigen Unterlassungen der Kapitalverbrechen ist, von denen die Bagatelle ein Gewicht bezöge, demgegenüber das zusammengenommene Gewicht der Menge verschwindend gering wäre, und gerade wegen dieses Prinzips des Gewichtsempfangs im Verhältnis umso geringer, je größer die Menge der in Betracht gezogenen Kapitaluntaten ist.
  8. Der winzige Restwert – so sehr er rein rational und objektiv feststehen mag – muss nicht unbedingt heißen, dass er dazu berechtigt, ihm im Rahmen einer Ästhetisierung oder gar Neigungskultivierung einen  dauerhaften positiven sinnlichen oder emotionalen bzw. subjektiven Wert zuzuweisen, sondern im Gegenteil: die Verabscheuung der Unwürdigkeit ist zu kultivieren. Hierauf übrigens dürfte die anfängliche Schmerzlichkeit der diskutierten Erkenntnis beruhen.

Somit gibt es in der Ethik wohl doch einen vermittelnden Begriff, der die Achse aller drei Urteilsbegriffe bildet, ohne mit einem von ihnen vollkommen identisch zu sein. Der skalare Begriff des Würdigen ist die Achse der drei polaren Begriffe des Würdigen, des Unwürdigen und des Indifferenten.

Einen Unterschied zur Empirik (zugunsten einer Gemeinsamkeit mit der Logik) muss es hinsichtlich der Unterteilung der Hierarchie der Elemente auf der Werteskala dann doch geben: Statt in drei gleichgroße Bereiche ist diese quasi in zwei Hälften des Würdigen und des Unwürdigen unterteilt, deren Treffpunkt in der Mitte der Skala das Indifferente beherbergt.140 Eine Würdigkeit von z.B. 60 Prozent kann ohne weiteres schließlich keine Indifferenz sein.

Es ist ohnehin von enormer Wichtigkeit, einen bestimmten essentiellen Unterschied des Begriffs des Würdigen zu dem Begriff des logisch Notwendigen, der in gewisser Hinsicht wohl auch zum Begriff des Wahrscheinlichen besteht, zu berücksichtigen: Der Begriff des Würdigen  bzw. die Zuschreibung von Würdigkeit ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn es (im Raum der Denkbarkeiten) etwas gibt, an dessen Würdigkeit die Würdigkeit von etwas gemessen werden kann. Es verhält sich hier wie beim ebenso skalaren und raumbezogen denkbaren Begriff der Größe. Gäbe es (im ganzen Weltraum) nur einen einzigen materiellen Körper, aus wievielen Molekülen in welcher Dichte er auch immer bestünde, wäre es unmöglich zu urteilen, dass er groß sei, wenn nicht gar notwendig, dass er klein sei. Wenn man kein auf einer relevanten Ebene existierendes Vergleichsobjekt hat, z.B. weil keines denkbar ist, z.B. wenn die gesamte existierende materielle Welt, zu der ja kein im selben  (hier absolut gedachten) Materieraum befindliches Vergleichsobjekt existiert, das zu beurteilende Objekt darstellt, lässt sich über dieses nicht zutreffend und einschränkungs- und spezifizierungsfrei sagen, es sei objektiv groß. Diese Unmöglichkeit besteht selbst dann, wenn man das Urteil mit der Vielzahl der immerhin denkbaren, möglichen kleineren Versionen des Objekts begründet (solange die Referenzmenge nicht passend eingeschränkt wird). Denn die Anzahl der denkbaren größeren Versionen ist erheblich größer, zumal nach oben hin die gleichmäßige Variation der Größe theoretisch unbegrenzt ist, nach unten hin aber begrenzt. Insofern ist ein physisches Objekt, zu welchem kein zweites existiert, grundsätzlich klein. Um dies aufzuheben, genügt es nicht, seine inneren Teile zu ihm in Bezug zu setzen, denn dies wäre die gedankliche Neukonstruktion eines zuvor ausgeschlossenen zweiten Objekts, und zudem eine auch insofern zweifelhafte, als dann etwas mit etwas verglichen würde, von dem es selbst ein Teil wäre und dieses damit ein Zweites und zugleich kein Zweites wäre.

Ein Berg, gemessen an einer Ameise, ist schwindelerregend groß, gemessen an einer Galaxie hingegen schon fast kleiner als klein. Das bedeutet, dass Körper X ist groß immer meint, er sei größer als ein ungenanntes Y, bzw. immer voraussetzt bzw. impliziert, dass es ein für das Größenurteil relevantes Y gibt (und zwar auf einer relevanten Ebene gibt), dessen Größe die Größe des Körpers X unterschreitet. Das ungenannte Y muss entweder vorab klar sein, oder es muss explizit referenziert werden („Gemessen an Y ist X groß.“). Gibt es mehr als nur einen Vergleichskörper, haben wir es mit einer Referenzmenge zu tun, die entweder ein Teil oder die Gesamtheit aller existierenden Körper ist. In jedem Fall muss (per expliziter oder stillschweigender Konvention) klar sein, ob ein Teil, und dann welcher, oder eben die Gesamtheit aller existierenden Körper dem Größenurteil als Referenzmenge zugrunde liegt. Wenn auf dieser Grundlage dann die Aussage, Körper X sei groß, geäußert wird, genügt, damit die Aussage zutrifft, nicht mehr unbedingt nur die Existenz irgendeines Körpers, der die Größe von X unterschreitet. Wenn Objekt X nämlich hinsichtlich der Größe unter zehn die Referenzmenge konstituierenden, allesamt unterschiedlich großen Objekten lediglich den vorletzten Platz einnimmt, ist die Aussage, es sei groß, entweder falsch oder irreführend (mindestens jedenfalls unbrauchbar), oder die Referenzmenge wurde willkürlich verändert und auf z.B. zwei Objekte, X und das noch kleinere Objekt, eingegrenzt. Damit sie stimmt, muss es ein Kriterium geben, das X erfüllt, und das im Kern, da das Große das genaue Gegenteil des Kleinen ist, in der Überschreitung irgendeiner Art von Mitte (z.B. zwischen zwei Halbmengen oder Hälften) bestehen muss, deren Unterschreitung ihm in gleicher Weise das Attribut der Kleinheit einbringt. Anders gesagt: Wenn „groß“ nicht immer nur das jeweils Allergrößte sein soll, sondern im Einklang mit dem Sprachgebrauch ein Spektrum verschieden großer, als groß klassifizierbarer Gegenstände zulassen soll, müssen für die Feststellbarkeit von Größe die Faktoren, welche für seine Größe sprechen, gegenüber den Faktoren, die für seine Kleinheit sprechen, überwiegen, ohne dass eine der beiden Faktorenarten völlig fehlen muss, und gleichermaßen umgekehrt. Ohne das Element der Mittigkeit verlöre das Kriterium seine Objektivität; je nach der Richtung der Abweichung von der Mitte würde entweder dem Begriff der Größe oder dem der Kleinheit Unrecht getan, es sei denn, für die Kriterien von Beidem würde zu ihrer Festlegung in entgegengesetzten Richtungen gleichermaßen von der Mitte abgewichen, so dass ein Überschneidungsbereich der Indifferenz entstünde, der für jede Bereichsbreite größer 1 Element (wenn nicht gar für jede größer 0) willkürlich, da kontingent und somit nicht objektiv wäre. Für die Auffindung eines solchen objektiven Kriteriums der Größe könnten die folgenden Situationen in Betracht gezogen werden:

Die Größe des zu beurteilenden Objekts überschreitet...

  • das einseitige Bereichsmittel
  • das beidseitige Bereichsmittel
  • den Median ...
  • das arithmetische Mittel ...

... der Größe aller anderen Objekte.

Hierbei meint das einseitige Bereichsmittel den Durchschnitt zwischen 0 und der Größe des größten anderen Objekts, also die Hälfte der Größe des größten anderen Objekts, das zweiseitige Bereichsmittel den Durchschnitt der Größen des größten anderen und des kleinsten anderen Objekts. Diese beiden ersten Situationen scheiden als Lieferanten eines allgemeingültigen Kriteriums aus, denn in einer Welt, die aus nur zwei verschieden großen Objekten besteht, von denen eines nur knapp mehr als die Hälfte der Größe des anderen Objekts besitzt, wäre es allein hierdurch bereits als „groß“ zu bezeichnen, und es gäbe keine kleinen Objekte, bzw. die Begriffe des Großen und des Kleinen würden ihren Sinn verlieren bzw. aufgrund fehlender Unterscheidungskraft unbrauchbar werden, zumal über eine Welt, über die gesagt werden kann, sie bestehe nur aus großen Objekten, mit gleichem Recht anhand eines analogen Kriteriums gesagt werden kann, sie bestehe nur aus kleinen. Es bestünde in der Zweiobjekte-Welt gewissermaßen ein Konflikt zum oben erwähnten Grundkriterium, welches lautet, dass der Einordnung als groß bzw. klein ein einfacher Vergleich mit einem ungenannten Y zugrunde liegt, von der bloßen Hälfte von Y war nicht die Rede. Ein zweiter Eiffelturm in Paris, dessen Größe diejenige des ersten Eiffelturms nur um ein Drittel unterschreitet, könnte hingegen durchaus als der kleine Eiffelturm (nicht nur „der kleinere“) bezeichnet werden, obwohl er deutlich mehr als halb so groß wäre. Eine 2-Cent-Münze ist größer als eine 1-Cent-Münze, doch unabhängig von ihrem Währungswert zählt sie für uns unter den Münzen eindeutig zu den kleinen Münzen, obwohl sie weder hinsichtlich ihres Durchmessers noch hinsichtlich ihrer Fläche die Hälfte der größten Münze (2 Euro) unterschreitet. Es wäre offensichtlich absurd, über ein fast nur noch wie die Hälfte seines Nachbargebäudes großes Haus nicht sagen zu können, dass es gemessen an dem Gebäude tatsächlich klein sei...

Die Überschreitung des Medians würde bedeuten, dass das Objekt zu derjenigen Teilmenge der größten aller existierenden Objekte gehört, deren Kardinalität 50 % der Kardinalität der Gesamtmenge beträgt. Doch der Median wird dem arithmetischen Mittel zugunsten das Feld räumen müssen, denn anders als dieser repräsentiert er nicht die gesamte, sondern eben nur in etwa die Hälfte der Menge der anderen Objekte, und nur die Gesamtmenge eignet sich als Extrapolation des Einzelobjekts Y aus der Zweiobjektewelt. Den Median zugrunde zu legen, erscheint schon intuitiv zweifelhaft, denn wenn die einzigen existierenden Tiere fünf Kaninchen, ein Katze und vier afrikanische Elefanten wären, wären wir nicht sehr geneigt, die Katze als ein großes  Tier zu beurteilen. Die Ermittlung des Medians dient ohnehin weniger dazu, Dinge miteinander zu messen, als vielmehr für Wahrscheinlichkeits- und Stichprobenbetrachtungen, in denen der Median so etwas wie einen groben Erwartungswert darstellt: Wenn man in einem Dorf, in welchem acht der zehn Haushalte ein monatliches Einkommen von 2.000 Euro haben, ein Haushalt eines von 1.000.000 Euro und einer eines von 1.500 Euro, zufällig einen Menschen trifft, in der Nähe welches Wertes wird das Einkommen seines Haushalts höchstwahrscheinlich liegen? (Antwort: 2.000 Euro.) Es ist hingegen der arithmetische Mittelwert, dessen Ermittlung sich zur kontingenzbereinigten Messung zweier Mengen (als Ganzheiten) miteinander hinsichtlich der Leistung eignet. Die für ein objektives und allgemeingültiges Kriterium unabdingbare Kontingenzbereinigung ist beim Konzept des arithmetischen Mittels prinzipiell gegeben und besteht in der Beseitigung der Kardinalitätsdifferenz. So lässt sich das Dorf mit einem zweiten hinsichtlich der Einkommensleistung vergleichen und sich angeben, welches Dorf die höhere hat, ohne dass diese Angabe auch nur im Geringsten die (kontingente) Anzahl der Haushalte enthält. Da mathematisch betrachtet beim Vergleich von Objekt X mit der Menge aller anderen Objekte ebenfalls zwei Mengen verglichen werden (von denen eine die Kardinalität 1 besitzt), lässt sich das Prinzip in der Vorgehensweise zur Größenbeurteilung übernehmen. Demnach ist ein Objekt objektiv groß, wenn sein Volumen das arithmetische Mittel des Volumens aller anderen Objekte übersteigt, und klein, wenn es dieses unterschreitet. Dieses Definitionsmuster lässt sich auf alle skalaren Eigenschaften übertragen, z.B. Höhe oder Gewicht, so auch auf Würdigkeit (es sei denn subjektive Eigenschaften wie Wärme oder Kälte).

Einiges von der subjektiven Plausibilität unserer problematisierten Äquivalenzumformung beruht darauf, dass das ihr zugrunde liegende Muster für Logik oder Empirik nicht zu beanstanden gewesen wäre und ihrem Bereich sogar unbedacht entlehnt wurde. Dort, wenigstens in der Empirik, ist das Umformungsmuster unproblematisch und auch kein anderes denkbar. In der Empirik ist nämlich X in |X ist unwahrscheinlich| grundsätzlich eine Seinsaussage oder als eine solche darstellbar (|Dass X ein Faktum ist, ist unwahrscheinlich|), sprachlich ist X hier immer ein Satz. Eine Äquivalenz wahrende Repositionierung des Negationselements gestaltet sich hier entsprechend einfach; es wird das in X immer enthaltene Sein (oder Haben) oder das Faktsein verneint (|Dass X kein Faktum ist, ist wahrscheinlich|). Aber in |X ist unwürdig| kann X häufig gar nicht direkt als seinsreferentieller Satz dargestellt werden, weil es sich auch um eine(n) Entität(sbegriff) handeln kann, z.B. |Hakenkreuzfahnen sind unwürdig|. Also kann eine Verneinung von X auch nicht prinzipiell als verneintes Sein dargestellt werden. Somit kann das Negationselement an X höchstens auf die potentielle Entität X selbst bezogen werden, d.h. im Falle einer Entität ist an ihr zur Umformung kein ihren Begriff als äußerste Hülle umgebendes Sein zu verneinen, sondern die Entität selbst - sofern ein sinnvolles und relevantes Konzept der „Verneinung einer Entität“ überhaupt denkbar ist. Falls Letzterem so ist, stellt sich die Frage: Was ist unter einer Negation von X, wenn X auch eine Entität sein kann, überhaupt zu verstehen?

Da sich X stets als „(ein) X Seiendes“ (z.B. ist eine Tasse ein eine Tasse seiendes Ding) bezeichnen lässt, lässt sich an X in gewisser Hinsicht doch ein Sein negieren, so dass im Falle einer Entitätnatur von X ein „Nicht-X“ ein „nicht/kein X Seiendes“ ist, d.h. etwas, das nicht X ist, also alles andere als X, bzw. die Gesamtheit (S) seiner Alternative(n) (lat. alter = „anderes“ = Nicht-X). Besteht die Säule einer Wertehierarchie nur aus zwei Elementen, d.h. neben X nur noch aus einem weiteren Element - was in Entscheidungssituationen effektiv übrigens durchaus der Fall sein kann - bedeutet |X ist unwürdig|: „Was nicht X ist, ist würdiger“ bzw. „X ist weniger würdig als seine Alternative“. Analog verhält es sich bei Volumenbeurteilungen in einer Welt, die nur aus zwei räumlichen Objekten besteht, X ist klein bedeutet hier: „Das andere Objekt (Nicht-X) ist größer als X.“ oder: „X hat eine geringere Größe als das andere Objekt (Nicht-X).“ Bezogen auf Säulen beliebig mächtiger Wertehierarchien und somit auch auf die Idealsäule aller Werte bedeutet es: „Die Würdigkeit von X ist kleiner als das arithmetische Mittel der Würdigkeit aller anderen Elemente der Wertehierarchie“, bzw. in räumlicher Redeweise ausgedrückt: „X liegt in der Wertehierarchie (u.U. weit) unterhalb der Grenze des arithmetischen Mittels der Würdigkeit aller anderen Elemente.“ Hier wird übrigens die Ungeeignetheit der auf das Konzept des Bereichsmittels zurückgreifenden Kriterien besonders sichtbar, da die Negation (S) von X offensichtlich alle anderen Gegenstände umfasst und nicht zu sehen ist, in welcher Hinsicht diese Art des Mittelwerts alle anderen Gegenstände zu repräsentieren vermag. Jedenfalls ist die zuvor fehlende, über ein bloßes Negationsverhältnis hinausgehende und zwischen den Begriffen des Würdigen und des Unwürdigen feststellbare Gegensätzlichkeit nun mit der Groß-klein-Dichotomie, in welcher das arithmetische Mittel als Nullpunkt auftritt, endlich gegeben.

Kurioserweise findet das Konzept des Bereichsmittels über eine „Hintertür“ in dieses metaethische Feld zurück. Denn dass das herkömmliche arithmetische Mittel so noch nicht die ultimative Lösung ist, macht sich bei der Überlegung bemerkbar, was passiert, wenn sich extrem viele Werte in einer unverhältnismäßigen Weise auf einen extrem hohen Rang konzentrieren: Es kann dazu kommen, dass dadurch der „Nullpunkt“ so stark in die Höhe gezogen wird, dass auch nur knapp unter dem höchsten Rang positionierte Werte als niedrig und somit unwürdig zu gelten hätten. Während bei drei über die Stufen 12, 11 und 1 verteilten Werten das arithmetische Mittel bei Stufe 6 liegt und somit nur der auf Stufe 1 positionierte Wert als niedrig zu gelten hat, erhöht sich bei einer Konzentration von 1000 Werten auf Stufe 12 das arithmetische Mittel auf rund 11,99, und der Wert auf Stufe 11 ist plötzlich allein deswegen nun niedrig, obwohl er sozusagen schon das Dach berührt... Dies ruft geradezu nach einer Verminderung der Einflussfaktoren um denjenigen der Konzentration: Es gilt anstelle des gewöhnlichen arithmetischen Mittels lediglich das arithmetische Mittel aller besetzten Ränge. In unserem Beispiel liegt dieses auf Stufe 8. Diese Modifikation ist unabdingbar und legitim, denn:

  • Genauso wie, dass von der physischen Masse eines würdigen materiellen Objekts (also von der Anzahl seiner Atome) die axiologische Polarität anderer Werte nicht abhängen darf, ist es evident, dass sie nicht von der numerischen Masse gleichrangiger Objekte einer bestimmten Werthöhe abhängen darf.
  • Mit Gleichrangigkeit in der Würdigkeit geht weder in jedem Fall einher, dass sich die Würdigkeit auf die gleichrangigen Werte (S) verteilt, noch in jedem Fall, dass sie sich mit ihrer Anzahl multipliziert (je nach Kontext können sie nämlich konfligieren oder auch nicht).
  • Da Werthöhe, d.h. der bloße wertmäßige Abstand eines Wertes (S) zu einem anderen, für die Definition von Unwürdigkeit das allein entscheidende Kriterium ist, verhalten sich gleichrangige Werte (S) einer bestimmten Werthöhe wie ein singulärer Wert (S).

Sind in einer Hierarchie alle Ränge bis zu dem des höchsten Bewertungsgegenstands durchgehend besetzt, liegt der Sonderfall vor, in welchem diese Variante des arithmetischen Mittels zugleich ein Bereichsmittel ist. In einer idealen Wertehierarchie, welche alle möglichen Eventualitäten berücksichtigt, ist genau dies der Fall.

Sofern X eine Handlung und keine Entität ist, ergibt die Äquivalenzumformung schlicht, dass das Nichttun der Handlung würdiger als die Handlung selbst ist, z.B. lässt sich |Stehlen ist unwürdig| direkt umformen in |Nicht zu stehlen ist würdig(er als zu stehlen)|, was besonders in der entsprechenden Entscheidungssituation impliziert: Es ist notwendig, das Nichtstehlen dem Stehlen vorzuziehen. Dieses einerseits geradezu selbstverständliche Prinzip könnte andererseits unser analytisches Misstrauen erregen; liegt wirklich dieselbe Art von Negation vor, wenn mit einer Entität als Negationsgegenstand ein Bezug zu allen anderen Gegenständen bzw. Entitäten entsteht, mit einer Tunsart als Gegenstand aber außer ihrem Nichttun nichts sonst - weder direkt noch indirekt - referenziert zu werden scheint? Anders ausgedrückt: wenn das Konstrukt der Negation eines Tuns im Gegensatz zu dem der Negation einer Entität nicht weiter individuierbar erscheint? Wenn wir vor einem konkreten Baum stehen, ist das dieser Baum nicht Seiende141 u.a. die ganze materielle Welt abzüglich des Baums - nicht zu schwimmen ist für uns aber einfach nur, nicht zu schwimmen, und es drängt sich dem Sinn keine konkrete Alternative auf, sondern allenfalls die Implikation des Ausbleibens142 dieser Tunsart. Schon gar nicht erscheint es erforderlich, darunter, nicht zu schwimmen, die Gesamtheit aller anderen Taten oder gar auch der Entitäten zu verstehen. Schleicht sich hier bei einem der beiden Gegenstandskategorien klammheimlich ein Unterschied in der Art der Negation ein, der sich unzulässigerweise auf die damit verbundene Schlussfolgerung auswirkt?

Dem muss keineswegs so sein. Der Grund, aus dem wir das vielleicht nicht unberechtigte Gefühl haben, dass das Konstrukt der Negation eines Tatbegriffs keine anderen Tatkategorien oder zumindest nicht die Gesamtheit aller anderen möglichen Taten referenziert, lässt sich nicht nur damit angeben, dass die Negation sich auf das in der Tat enthaltene Sein bezieht (nicht schwimmen = nicht schwimmend zu sein, i.S.v. kein Schwimmender zu sein, i.S.v. ein Schwimmender nicht zu sein), und nicht auf den aktionalen Aspekt des Seins (das wäre: ein Nicht-Schwimmender zu sein, i.S.v. etwas Anderes als ein Schwimmender zu sein), zumal das Seinsmerkmal den Begriff für X, wenn Tun eine Seinsart ist, so umhüllt, dass sich die Negation zunächst auf das Sein bezieht. Der Grund steht darüber hinaus damit in Zusammenhang, dass sich Tatkategorien begrifflich prinzipiell weit weniger gegenseitig ausschließen bzw. ersetzen als Entitäten. Schlafen schließt Sitzen nicht aus, ein Schlafender ist nicht unbedingt kein Sitzender, im Sitzen zu schlafen ist der Erfahrung nach vorstellbar. Stehlen schließt Rennen nicht aus, ein Stehlender ist nicht unbedingt kein Rennender,  im Rennen zu stehlen ist der Erfahrung nach vorstellbar. Dass Manches aus diesem Feld sich der Erfahrung nach hingegen doch ausschließt - so wird es bisher wahrscheinlich noch niemand hinbekommen haben, im Rennen zu schlafen - hat hier keinen relevanten analytischen Einfluss. Darum ist zwar einleuchtend, einen Felsen als der „Kategorie des Kein-Baum-Seienden“, subjektiv weniger aber, die Tätigkeit des Rennens (des Rennend-Seins) als der Kategorie des Nicht-Stehlend-Seins angehörig einzuordnen. Zu sagen, ein Rennender zu sein, gehöre zu der Kategorie, kein Stehlender zu sein, mutet zu viel gesagt an, eben weil jemand während des Rennens auch stehlen könnte.

Der Grund für dieses analytische „Phänomen“ ist, dass in einem bloßen Tatbegriff häufig nicht wie in einem hinreichend präzisen Begriff zu einem materiellen Objekt ein komplexes Bündel von Eigenschaften instantiiert wird, aufgrund schon deren Vielzahl es recht unwahrscheinlich ist, dass keine Eigenschaft darunter ist, welche irgendeiner der vielen Eigenschaften des anderen Objekts widerspricht. Unter den Eigenschaften eines Baums befindet sich beispielsweise zweifellos diejenige, pflanzlich zu sein, wohingegen auf den Felsen das damit unvereinbare Gegenteil zutrifft bzw. ihm die das Gegenteil implizierende Eigenschaft der (echten) „Steinigkeit“ zukommt. Bei Individualbegriffen ist dies noch stärker der Fall, selbst wenn sie sich auf eineiige Zwillinge beziehen, denn solche Begriffe werden gerade erst durch die Instantiierung mindestens einer Eigenschaft(enkombination), die mit mindestens einer Eigenschaft(enkombination) eines jeglichen anderen Individuums in Konflikt steht (z.B. beim eineiigen Zwilling minutenpräzises Alter in Kombination mit der mütterlichen Abstammung), zu brauchbaren Individualbegriffen. Nach der Negation einer Entität X tritt automatisch alles an seine Stelle, was sich mit X nicht vollständig vereinigen lässt, und das ist tatsächlich alles Andere. Nach der Negation eines Tuns X bleibt allerdings vieles übrig, was an sich zwar - der Negation entsprechend - etwas Anderes als X sein muss, sich aber durchaus mit ihm kombinieren lässt und es somit nicht zu ersetzen vermag. Das Negationalkonstrukt hat in diesem Fall keine klare Entsprechung, weshalb wir uns mit der Implikation des Ausbleibens der Tat begnügen müssen. Oder: Unser Fokus richtet sich bei der Negation von Tatbegriffen hauptsächlich auf die wenigen Alternativen, die sich der Erfahrung nach nicht gleichzeitig mit der jeweiligen Tat kombinieren lassen (z.B. hat Schreien die Alternativen des Schweigens, des Flüsterns und des Redens in normaler Lautstärke, wohingegen Autofahren oder Tennisspielen aufgrund ihrer empirischen Kombinierbarkeit mit der Tat des Schreiens irrelevant sind, auch wenn sie an sich völlig andere Taten als zu schreien sind).

Dies bedeutet, soweit der diskutierte Sachverhalt nicht auf einen willkürlichen Unterschied in der Negation zurückgehen soll, einen der beiden folgenden Punkte:

  • Wenn X für ein Tun oder ein sonstiges Sein steht, stellt seine Negation dennoch die Referenzierung aller anderen Elemente der Wertehierarchie dar, denn die Eingeschränktheit auf wenige Alternativen ist eine empiriebedingte Illusion, zumal die empirische Kombinierbarkeit oder Nichtkombinierbarkeit von Taten hier keine Rolle spielt.
  • Das Negationalkonstrukt betrifft unabhängig von der Natur von X grundsätzlich nicht unbedingt die Gesamtheit der Elemente der Wertehierarchie außer X. Dass sich die in dem Konstrukt enthaltene Negation im Fall der Entitätnatur von X dennoch so auswirkt, dass es jene Gesamtheit betrifft, ist ein Sonderfall, bedingt durch die typische Struktur eines Entitätbegriffs. Primär und grundsätzlich geht es bei dem Konstrukt nicht um alles Andere außer X, sondern ausschließlich um das, was die Negation von X, egal welche Natur X hat, gebührend repräsentiert. Im Falle seiner Entitätnatur ist dieses gebührend Repräsentierende nun mal die Gesamtheit alles anderen außer X.

Dass die Art der Negation sich nicht klammheimlich verändert, lässt sich unabhängig davon, welcher der beiden Punkte zutrifft, folgendermaßen demonstrieren: Ein Baum als Kategorie lässt sich bezeichnen als „was (den eigenschaftlichen Faktor) Baumsein hat“143. Dementsprechend lautet seine Negation: „was (den Faktor) Baumsein nicht hat“ (also alles außer Bäume). Die Tat des Schwimmens lässt sich demgegenüber „schwimmend zu sein“ nennen, und somit auch „die Eigenschaft144 des Schwimmens zu haben“. Entsprechend lautet ihre Negation: „die Eigenschaft des Schwimmens nicht zu haben“. Offensichtlich gilt sowohl im Fall der Entität als auch im Fall der Aktivität die Negation dem Haben. Und für die Frage nach der Art der Negation ist es irrelevant, dass das Haben sprachlich hier im Infinitiv und dort im Indikativ auftritt. Ein Einwand könnte nämlich lauten: Zwar wird auf der formalen Sprachebene in beiden Ausdrücken das Verb des Habens verneint. Könnte es aber nicht sein, dass auf der semantischen Ebene vielmehr das verneint wird, was auf der formalen Ebene durch den Indikativ repräsentiert wird, während das Haben selber von der Verneinung unbetroffen bleibt? Das aber erscheint unerheblich, wenn man bedenkt, dass Indikativ und Verb sich folgendermaßen trennen lassen: "wofür feststeht, (den Faktor) Baumsein nicht zu haben".

Ein zweiter Weg der Demonstration ließe sich auf der Benennbarkeit jedes Seins (V) als Sein Seiendes aufbauen - Sein muss immerhin Sein sein, ist also Sein Seiendes, und kann nicht kein Sein sein, ist also kein Sein-nicht-Seiendes. So lauten die Negationalkonstrukte im Ergebnis „was kein ein Baum Seiendes ist“ und „was kein Schwimmendsein Seiendes ist“.145 Auch hier ist kein Unterschied in der Negationsart festzustellen.

Bleibt noch zu prüfen, ob die Herleitung des Ursatzes unter den neuen Prämissen möglich ist. Als Ausgangspunkt nehmen wir wieder: |Unwürdiges ist unwürdig.| Dies ist äquivalent zu: „Etwas, dessen Würdigkeit nicht geringer als das arithmetische Mittel der Würdigkeit ist, ist würdiger (als Unwürdiges).“ Die Gültigkeit dieses Satzes ist nicht denkbar ohne die Gültigkeit des Satzes: |Würdigeres ist würdiger.| Dieser wiederum ist offensichtlich äquivalent zu: |Würdiges ist würdig.|.

Ein anderer Ansatz: |Unwürdiges ist unwürdig.| ist äquivalent zu: „Was in der Würdigkeit unten ist, ist in der Würdigkeit unten.“ Dies wiederum ist äquivalent zu: „Was in der Würdigkeit weder unten noch in der Mitte ist, ist in der Würdigkeit oben.“ Die Voraussetzung hierfür ist die Gültigkeit des Satzes: „Was in der Würdigkeit oben ist, ist in der Würdigkeit oben.“ Da per Festlegung das in der Würdigkeit oben Positionierte das Würdige zu nennen ist, gilt: |Würdiges ist würdig.| .

Die Paradoxie der gleichwertigen Wege

Nehmen wir eine wahrhafte Pflicht X an, zu deren Erfüllung nur zwei Wege hinführen, Weg A und Weg B, und zwar beide genau gleich effektiv und effizient, und, dass es jenseits von Effektivität und Effizienz keinerlei Faktoren gebe, die auch nur den geringsten Rangunterschied zwischen den beiden Wegen begründen könnten. Beide Wege sind rein aktionaler Natur, sind also Handlungen. Nun ist unbestreitbar, dass untrennbar damit verbunden gewissermaßen eine zweite Pflicht festzustellen ist, nämlich einen der beiden Wege zu durchschreiten. Nicht zustimmungswürdig erscheint hingegen weder die Behauptung, Weg A zu durchschreiten sei Pflicht, noch die Behauptung, Weg B zu durchschreiten sei Pflicht, denn keiner der beiden Wege ist ja alternativlos. Soweit scheint alles konsensfähig.

Das Paradoxe: Auf Weg A, welcher ohne diesen Kontext wertneutral wäre und genau auf der Linie des arithmetischen Mittels der Hierarchie läge, müsste schon allein dadurch, dass er zielführend ist, etwas von der Würdigkeit von X abstrahlen, so dass er wenigstens etwas über jene Linie gehoben würde, und das Gleiche gilt für Weg B. Dies hätte zur Folge, dass beiden Wegen polare Würdigkeit zukäme - sie befänden sich ja über der Mittellinie und somit in dem Gebiet, das dem der Unwürdigkeiten gegenübersteht. Sowohl Pflicht X ist eine Handlung, welcher polare Würdigkeit zukommt, als auch z.B. Weg A. Würden wir darum nun sagen, dass Weg A (oder Weg B) zu durchschreiten eine Pflicht sei, wäre dies aber etwas, das oben bereits als nicht zustimmungswürdig erschien.

Erklärung: Die Paradoxie ist durch eine Missachtung der Feinstruktur des Pflichtbegriffs (Kategorie der Handlung, deren Vollzug würdig ist) bzw. durch eine unzureichende Differenzierung der Bewertungsgegenstände verursacht. Zur Bewertung stellen sich nämlich nicht nur |Handlung X|, |Weg A| und |Weg B|, sondern auch, davon zu differenzieren: |Durchschreitung von Weg A| (=|Ad|), |Durchschreitung von Weg B| (=|Bd|) und |Durchschreitung eines der beiden Wege A und B|. Die Wege A und B werden tatsächlich über die Mittellinie gehoben, und erst recht |Durchschreitung eines der beiden Wege A und B|, nicht aber |Durchschreitung von Weg A| oder |Durchschreitung von Weg B|. Der Grund hierfür ist, dass in der Durchschreitung jedes der beiden Wege gewöhnlich die Verhinderung der Durchschreitung des anderen enthalten ist. Ohne diese Implikation stünde sie oberhalb der Neutrallinie. Da diese Implikation zugleich aber dem Wert der Durchschreitung des anderen Weges zuwiderliefe, verharrt sie ob dieser Neutralisation auf der Linie. Weg A mag kraft seiner Eigenschaft als Weg zur Erfüllung der Pflicht X Aufmerksamkeit, Benennung etc. verdient haben, doch dass er seine Durchschreitung verdiene, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; das Gleiche gilt für Weg B. Das bedeutet nicht, dass sie tatsächlich eine bloße Neutralität (S) ist, es lässt sich lediglich nicht sagen, dass sie eine Würdigkeit sei, oder dass sie eine bloße Neutralität (S) sei. Diese Situation lässt sich als Schrödingerkatze der Ethik betrachten: Pflicht X vererbt Weg A Würdigkeit, dieser vererbt sie Ad, die in ihr enthaltene Verhinderung der ihr gleichwertigen Bd entzieht ihr die Würdigkeit wieder, und vice versa, d.h. auch Bd fällt zurück auf die Neutrallinie; der Grund der Entziehung existiert insofern gar nicht, d.h. unter diesem Gesichtspunkt befindet sich Ad doch oberhalb der Neutrallinie, und vice versa, d.h. auch Bd kehrt zurück zu ihrem Rang oberhalb der Neutrallinie, so dass der Grund, Ad ihre Würdigkeit zu entziehen, wieder gegeben ist, usw. Anders dargelegt: Mit  Ad geschieht das Beiseitelassen von Weg B um Pflicht X willen, so dass von der Würdigkeit des Letzteren auf das Beiseitelassen soviel abstrahlt, dass es die Würdigkeit von Bd aufwiegt und neutralisiert, und vice versa. Anders dargelegt: Die wertvolle Ad behindert die wertvolle Bd - das erniedrigt Ad; damit behindert es aber etwas, das etwas Wertvolles (nämlich Ad selbst) behindert - das erhöht Ad;  damit behindert es aber etwas, das etwas behindert, das etwas Wertvolles (Bd) behindert - das erniedrigt Ad; usw. bis ins Unendliche. Weder Ad noch Bd befinden sich eindeutig oberhalb oder auf der Neutrallinie, und erst eine aktuale Durchschreitung (wie in Schrödingers Gedankenexperiment das Öffnen und Hineinschauen in die Kiste) entscheidet die Situation: Einer der beiden Wege wird vorerst obsolet, und der durchschrittene Weg gewinnt den „Ruhm“ des Weges, der zur Erfüllung einer Würdigkeit geführt hat, so dass seine Durchschreitung höher als die des anderen steht. Derweil steht |Durchschreitung eines der beiden Wege A und B| nicht in einem derartigen Zusammenhang der gegenseitigen Neutralisierung und verbleibt daher eindeutig oberhalb der Linie, d.h. bleibt eine eindeutige Pflicht.

Diese Erklärung wird weder von einer höheren Anzahl der gleichwertigen Wege beeinträchtigt146, noch von einer Berücksichtigung ganz anderer, vermeintlich verhinderter Handlungen aus dem Rest der Gesamtwertehierarchie147. Sie impliziert allerdings, dass wenn Weg A und Weg B so beschaffen sein sollten, dass die Durchschreitung des jeweils einen die des anderen nicht stört, behindert oder verschlechtert, sondern beide gemeinsam durchschritten werden können, und so beschaffen, dass die Beschreitung beider gemeinsam zu keiner Wertminderung gegenüber der Beschreitung nur eines der beiden Wege führt, dann die Beschreitung von Weg A tatsächlich eine eindeutige Pflicht wäre, und so auch die von Weg B, d.h. beide gemeinsam durchschritten werden müssten. Dies erscheint zunächst kontraintuitiv, zumal scheinbar mit einer gewissen Sinnlosigkeit verbunden, weil der pragmatische Vorteil nicht zu sehen ist. Nutzenerwägungen sind aber bekanntlich kein unbedingter Bestandteil korrekter apriorischer Ethik; der Sinn läge in der angemessenen Praktizierung der Anerkennung einer Würdigkeit. Gleichwohl ist die Befremdlichkeit wohl viel mehr darauf zurückzuführen, dass das Vorkommen einer solchen Konstellation, in der zwei Wege zu einer Pflichterfüllung nicht nur im exakt gleichen Maße zielführend sind, sondern auch noch mit demselben Ergebnis gemeinsam beschritten werden können und obendrein diese gemeinsame Beschreitung nicht im Geringsten effektiver und effizienter oder weniger effektiv und effizient ist als die Beschreitung eines einzelnen von den beiden, einfach extrem selten und unwahrscheinlich ist.

Als Variante der im Grunde selben Erklärung sei alternativ ins Feld geführt, dass in der Durchschreitung jeweils eines der beiden Wege die Aufhebung der Eigenschaft des anderen Weges, ein Mittel zur Erfüllung der Pflicht X zu sein, enthalten ist, da es kein Mittel zur Erfüllung einer bereits erfüllten Pflicht geben kann. Durch die Aufhebung der besagten Eigenschaft wird die Grundlage des Wertes der Durchschreitung des jeweils anderen Weges annulliert.

Die Symmetrie der idealen Wertehierarchie

These: Die Unterlassung einer wahren Pflicht ist grundsätzlich nicht nur insofern unwürdig, als sie in der Hierarchie niedriger ist als ihre Handlung durchzuführen, sondern auch, als sie unter der Mittelachse der Gesamthierarchie positioniert ist, und zwar so, dass Durchführung und Unterlassung denselben Abstand zur Mittelachse besitzen; d.h. es gibt

  • oberhalb der Mittelachse keine in Relation zu ihrer Durchführung niedrigere Unterlassung einer Handlung
  • unterhalb der Mittelachse keine in Relation zu ihrer Durchführung höhere Unterlassung einer Handlung
  • keine Unterlassung einer Pflicht, die in der Hierarchie niedriger ist als die Unterlassung einer größeren Pflicht

Aufzeigung: Gegeben sei eine (vielleicht noch leere) Wertehierarchie, und sodann die Feststellung der aus irgendeiner Quelle abstrahlenden Würdigkeit einer Ad (der Durchführung einer Handlung A), die hierdurch die Wertstufe 1 erhält. Ihre Unterlassung hat keinen Wert, den nicht auch ihre Durchführung ohne jene Quelle gehabt hätte (Stufe 0, alternativ 1 für Au und 2 für Ad). In jedem Fall ist Au vorerst niedriger als Ad, da für Au keine Feststellung wie für Ad vorliegt. Nun gerate eine Bd in den Blick, im Zuge dessen für sie eine aus derselben Quelle abstrahlende Würdigkeit festgestellt werde, die größer ist als diejenige von Ad, d.h. Bd liegt in der Hierarchie höher als Ad. Jedoch darf Bu in Relation zu Au nicht gleich niedrig und schon gar nicht höher sein, da im Konfliktfall Bu anstelle Au vorzuziehen der Würdigkeit von Bd widerspräche und dies kategorisch nicht sein darf, also eben nicht so indifferent wäre, wie es der Gleichstand implizierte. Bzw.: Im Konfliktfall zwischen Au und Bu wird Au zu einem notwendigen Bestandteil, wenn nicht gar zu einer Form von Bd und muss darum vorab höher stehen als Bu. (Solche Konfliktfälle zwischen Verwerflichkeiten können ungeachtet der im ersten Moment vielleicht schwierigen Vorstellbarkeit übrigens durchaus vorkommen, z.B. wenn jemand aus Not vor der Entscheidung steht, zu betteln oder zu stehlen. Außerdem: Es muss ohnehin von dem a priori bestehenden Wert (S) ausgegangen werden, demzufolge man Quellwerten (S) möglichst exakt angemessen gerecht werden muss, und diesem apriorischen, ebenfalls als Quellwert fungierenden Wert (S) ist die weniger wertwidrige Au trotz all ihrer Wertwidrigkeit zweifellos näher als Bu und ist schon deswegen höher zu stufen, gemeinsam mit den anderen Bewertungsgegenständen.) - Bu tritt zwar wie zuvor Au mit einem Niedrigstwert aufgrund des Fehlens einer Grundlage für jeglichen darüber hinaus gehenden Wert in die Hierarchie ein, doch aufgrund des beschriebenen Sachverhalts rücken die anderen Elemente um eine gewisse Anzahl a von Rangstufen nach oben.

Nun zur Bestimmung dieser Anzahl: Da Au im Konfliktfall eine Form von Bd ist, hat es in dieser Hinsicht gegenüber Bu dieselbe Höhe, wie Bd sie gegenüber ihr hat. Zugleich ist im besagten Konfliktfall Bu auch eine Form von Ad, so dass Bu in dieser Hinsicht gegenüber Au dieselbe Höhe, wie Ad sie gegenüber ihr hat. Diese Höhe ist daher von der anderen abzuziehen. Aus dieser Subtraktion ergibt sich die Anzahl der Rangstufen, um die sich die Elemente der Wertehierarchie gegenüber der eintretenden Bu erhöhen. Dies läuft letztlich hinaus auf die Formel: a = h(Bd) - h(Ad). Die sich ergebende Konstellation nach Anwendung dieser Formel ist eindeutig symmetrisch. Es ist leicht zu sehen, dass aufgrund der Gültigkeit dieses Prinzips für jede weitere Handlungsdurchführung, deren Wert noch vor der Unterlassung der Handlung feststeht (so dass die Durchführung also zunächst als würdiger als ihre Unterlassung anzusehen ist), die Symmetrieachse erhalten bleibt, egal wieviele neue Gegenstände eintreten und egal wie hoch oder niedrig ihre Ränge sein mögen.

Allerdings stellt sich, da die Symmetriebetrachtung bisher Handlungen galt, die ja durchgeführt und unterlassen werden können, hernach die Frage, ob die Symmetrie erhalten bleibt, wenn auch Non-Aktionalitäten (wie womöglich jene ominöse Quelle in unserem Beispiel eine ist) zugelassen werden, und falls ja, ob die Indifferenzlinie weiterhin mit der Symmetrieachse identisch bleibt. Eine Möglichkeit einer Antwort wäre die einer ausweichenden: Ob dem so ist oder nicht - für Diskurszwecke ist eine Beschränkung auf eine aus der Gesamthierarchie extrahierten aktionalen Wertehierarchie, in welcher spätestens infolge der Extraktion die Symmetrieachse eine Indifferenzlinie darstellt, ausreichend. Alternativ könnte man mit zwei Hierarchien operieren, einer Quellhierarchie der Nonaktionalitäten und einer Zielhierarchie der aktionalen Haltungen. Die andere Möglichkeit einer Antwort beruht darauf, dass eine ideale Wertehierarchie alle Eventualitäten a priori integriert, seien sie aktionaler oder non-aktionaler Natur, und da diese unendlich an der Zahl sind, lässt sich getrost davon ausgehen, dass sie alle Positionen von der untersten bis zu derjenigen des höchsten Trägers eines endlichen Wertes besetzen werden, so dass sich hier auf das de-facto-Bereichsmittel zurückgreifen lässt. Dies erscheint besonders vor dem Hintergrund evident, dass sich wohl sowohl zu jeder nicht indifferenten Handlung, als auch zu jeder nicht indifferenten Non-Aktionalität etwas hinreichend Bestimmbares denken lässt, dass die genau entgegengesetzte Polarität besitzt. Zur Bestimmung eines solchen axiologischen Antagoniums eines Gegenstands ist seine (gleich ob ontische oder kontextuelle) Eigenschaft zu betrachten, welche die Grundlage liefert, auf welcher ihm sein Wert oder Unwert zukommt (z.B. bei einer Reanimationsambulanz ihr Zweck, Menschenleben zu retten, in Kombination mit ihrer Aufnahmeleistung). Sein axiologisches Antagonium ist dann ein realer oder gedachter Gegenstand mit genau der entgegengesetzten Eigenschaft (z.B. eine Hinrichtungskammer mit ihrem Zweck, Menschenleben zu vernichten, in Kombinaton mit ihrer Aufnahmeleistung). Es genügt, diesen Gegenstand nur genau so weit zu bestimmen, auch wenn er ansonsten völlig unbestimmt bleibt.

Sprengung der Indifferenzachse durch Wertunendlichkeiten?

Da sich vom Gegenstand einer vollkommen gerechten Urwertbeimessung alle anderen Werte ableiten, steht er immer über jeder anderen Würdigkeit (S), egal welche Höhe sie in der Hierarchie erreichen mag. Das Ausmaß seiner Würdigkeit ist also unendlich.

Was macht das mit der Indifferenzlinie? Würde sie durch die Berücksichtigung eines Bewertungsgegenstandes von unendlicher Würdigkeit nicht ins Unendliche nach oben gezogen werden, so dass außer der ultimativen Wertquelle alles andere, selbst die sonst würdigsten Dinge, die ja hierdurch unter der Linie verblieben, unwürdig wären? Oder haben diese noch eine Chance dadurch, dass zumindest die ideale Wertehierarchie zwar einen Boden hat, aber nach oben hin unendlich ist?

Und brächte Letzteres nicht noch ein weiteres Problem mit sich, nämlich wie man sich in einer solchen Hierarchie eine in einer Art des arithmetischen Mittels bestehende Indifferenzachse zu denken hat bzw. ob eine solche dann überhaupt möglich ist? Mit diesem weiteren Problem ist folgendermaßen umzugehen: In einer unendlich hohen Säule der Werte ist das Quasibereichsmittel unendlich weit vom Boden entfernt. Vom Boden aus erscheint die Säule also „mittellos“. Umgekehrt ist dann der Boden unendlich weit vom Mittel entfernt. Vom Mittel aus erscheint die Säule bodenlos. Die beiden Perspektiven sind gleichwertig, und erst der legitime Zweck entscheidet, welcher der beiden der Vorzug zu geben ist. Da es in der Ethik hinsichtlich der Werthöhe eines Gegenstands ohnehin meist im Grunde nur darum geht oder zumindest ausreicht zu betrachten, wie hoch er in Relation zu dem eines Referenzgegenstands oder einer Menge von Referenzgegenständen ist, wird es zumeist genügen, sich die Wertehierarchie von der Indifferenzlinie ausgehend und sich um diese herum gruppierend zu denken, ohne Ende nach oben und ohne Ende nach unten. Das willensfähige Geschöpf kann sich in seiner Begrenztheit ohnehin nur auf einen Ausschnitt, eine injektive Inversprojektion der Wertehierarchie beziehen, bzw. seine Wertehierarchie besitzt eine geradezu winzige Rangauflösung: Beim durchschnittlichen, sittlich wohl ausgerichteten Menschen könnte die Auflösung statt der unendlichen Menge 40 bis 80 Ränge betragen, während eine ambitionierte Moraltheorie vielleicht 1000 bis 2000 Ränge sinnvoll zu berücksichtigen vermag.

Wie steht es nun um die Indifferenzlinie? Befindet sie sich bei Berücksichtigung eines unendlich Würdigen unermesslich weit oberhalb der Symmetrieachse, oder wird der Status der Symmetrieachse als Indifferenzachse durch die unendliche Höhe der Säule des Wertealls gerettet? Nun, eins ist unumstößlich: Bei aller Unendlichkeit der Kardinalität der Wertehierarchie - der Wert eines jeden ihrer Elemente ist endlich. Folglich beinhaltet sie kein einziges Element, dessen Wert demjenigen des unendlich Würdigen auch nur nahe kommt. Unter diesem Aspekt wird die Höhe des unendlich Würdigen vonseiten der Säule des Wertealls niemals erreicht. Das sollte insofern nicht verwundern, als Unendlichkeit weder eine Zahl ist noch als Inbegriff der Unbestimmtheit, der sie ist, die Bestimmung einer Position in irgendeinem Raum sein kann. Es ist also sinnlos - und zudem des unendlich Würdigen offensichtlich unwürdig -, es hinsichtlich der Position quantifizierend zu den Elementen der Wertehierarchie in derselben Weise in Relation zu setzen, wie sie zueinander in Relation zu setzen sind. Jede Quantifizierung der Würdigkeit der Quelle aller Werte ist sinnlos, da Quantifizierung der Differenzierung von Relationen dient und Relationen begrenzter Werte zu einem unendlichen Wert untereinander nicht differenzierbar sind. Während es in der Relation der anderen Bewertungsgegenstände untereinander verschiedene Höhen von Würdigkeit geben kann, ist in der Relation zwischen ihnen und der Quelle aller Werte die Existenz verschiedener Höhen von Würdigkeit nicht denkbar. Zugleich gibt es in ihr nichts Ferneres als ihre axiologische Gleichsetzung miteinander. Die Nichtexistenz verschiedener Höhen und die axiologische Ungleichheit sind derweil gemeinsam nur so denkbar, dass während in dieser Relation die Quelle quantitätsfreie Würdigkeit besitzt, alles Andere in ihr einfach überhaupt keine Würdigkeit hat. Man kann auch sagen: Das Andere hat in ihr keinen Rang, oder: keine Position, oder: Es gibt für sie in ihr keinen Platz. Axiologisch existiert außer dem Urwertträger also gewissermaßen nichts, jedenfalls nicht so, dass es gemeinsam mit ihm eine Hierarchie der Werthöhe bildet, es sei denn so, wie etwas nicht Reales mit etwas Realem eine Hierarchie der Realitätshöhe bildet, nämlich gar nicht oder allenfalls in einer äußerst ambivalenten Weise148.

Durch die Unendlichkeit, in welche die ideale Wertehierarchie vom Boden aus emporragt, wird zwar die trügerische Hoffnung geweckt, dass sie hierdurch die Höhe der Quelle erreicht, doch ist dies nichts als eine Bestätigung des eben Festgestellten aus einem anderen Blickwinkel. Denn zugleich bleibt ja jedes Element der Säule unendlich weit von der Quelle entfernt, somit erreicht nichts von ihr die Höhe der Quelle, was zeigt, dass in einer solchen Relation die Wertehierarchie ein widersprüchliches Konzept ist, was ihre axiologische Nichtexistenz in ihr bzw. die Unmöglichkeit einer axiologischen Relation zwischen ihr und der Quelle bestätigt.

Anders herum: Die Quelle aller Werte ist kein Element ihrer Hierarchie. Wie denn auch: Die ideale Wertehierarchie füllt ja alle denkbaren Ränge bzw. Positionen mit den Trägern der begrenzten Werte vollständig aus. Eine weiter darüber hinaus gehende Position ist undenkbar; eine quantitative unendliche Wertgröße ist ein Widerspruch in sich, zumal „unendlich“ keine Zahl ist. Also kann kein Rang der Hierarchie der abgeleiteten Werte eine unendliche Wertgröße repräsentieren. Aus diesem Grund verschiebt sich die Indifferenzachse im Angesicht der Wertequelle nicht, denn die Indifferenzachse konstituiert die Polarität der abgeleiteten Werte, während die Wertequelle selbst frei von axiologischer Polarität ist.

Die Würdigkeitsabsolutheit der Quelle verbietet allerdings nicht die Rhetorik, in welcher ihr Höhe zugeschrieben wird oder sie als das Höchste bezeichnet wird, denn:

  • Der Begriff der Würdigkeit ist trotz der Absolutsetzung letztlich auch in ihrem Fall im Grunde mit demjenigen identisch, aufgrund dessen man bei den anderen Gegenständen sozusagen Höhenunterschiede feststellt. Wenn Würdigkeit in der abgeleiteten Wertehierarchie relative Höhe ist, dann lässt sich die Würdigkeit der Quelle eine absolute Höhe nennen.
  • Eine solche Rhetorik eignet sich bestens, um Gleichrangigkeit mit Anderem oder gar Niederrangigkeit auszuschließen.
  • Gerade durch ihre mit nichts und niemandem geteilte Würdigkeit hat nichts so sehr wie sie eine Weise der Rede verdient, welche Verehrung evoziert (Grundimplikation). Dazu gehört die Höhenrhetorik.
  • Auch in der Mathematik sind komparative Aussagen zwischen positiven Werten und Nullwerten möglich.

Es ist übrigens nicht zu befürchten, dass die Summierung der Werte der idealen Wertehierarchie aufgrund ihrer unendlich großen Kardinalität einen unendlich großen Wert ergibt, der sie in Konkurrenz zur Wertequelle setzte. Denn ganz zu schweigen davon, dass triviale Aufsummierungen von Wertzukommnissen in der Wertehierarchie ohnehin am Wesen dieser Zukommnisse vorbeigehen, ist die Summe aller Elemente einer unendlichen Zahlenmenge ein Widerspruch in sich, da sie etwas Unabgeschlossenes als etwas Abgeschlossenes behandelt (zu Zwecken mathematischer Betrachtungen, z.B. Grenzwertbetrachtungen, kann man natürlich dennoch so tun, als ob dies möglich wäre). Möglich ist daher immer nur die Betrachtung eines Ausschnitts der Wertehierarchie, und die Summe der Werte einer solchen ist immer endlich, wie umfangreich der Ausschnitt auch immer sein mag, und somit im Verhältnis zum Träger des unendlichen Wertes gleich Null.

Der begriffliche Selbstverlust

[§47] Statt bloß aus einem zufälligen Affekt wie z.B. dem des Mitleids heraus kann eine moralische Handlung auf einer fundamentalen persönlichen Maxime, die man im Voraus angelegt hat, beruhen.

Die Anlegung einer fundamentalen Maxime ist nichts anderes als eine Formung der eigenen Wesensart durch die bewusste Hinzufügung eines praxisbezogenen Wesenszugs. Somit geht die Maxime in den Individualbegriff ein, den eine Person von sich selbst konstruiert, so dass dezidierte Verletzungen der Maxime mit einer Verringerung oder gar Aufhebung der eigenen Existenz äquivalent sind. Die Aufhebung vollzöge sich freilich nicht auf ontologischer, sondern auf begrifflicher Ebene, darum ginge mit ihr sozusagen ein begrifflicher Tod der eigenen Person einher. Immerhin ist man in voller Inkaufnahme in einen Widerspruch zu dem getreten, womit man sich identifiziert.

Die praktische Wirksamkeit der Anlegung solcher Maximen dürfte darauf zurückgehen, dass dem Menschen begrifflicher Selbstverlust naturbedingt eine gewisse Art von Pein bereitet.

Die Absicht II: Feinanatomie und Entschleierung

[§48] Nachdem schon zuvor die Dreidimensionalität der Absicht ersichtlich gemacht werden konnte (s. Eintrag §11), kann nun im Lichte der weiteren gewonnenen Einsichten eine entschleiernd wirkende, elementarisierende Einordnung jener drei Dimensionen in das Wertbeimessungskonzept vorgenommen werden und außerdem eine für manchen vielleicht überraschende Komplexität der Dimension des Vorhabens sowie in jenen Einsichten referenzierte Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten als zwischen den einzelnen Dimensionen herrschend aufgezeigt werden. Die Gegenstände der Absicht (hier in einer leicht modifizierten Reihenfolge), von denen jedes sowohl singulär als auch als Pluralität (S) vorliegen kann, sind, zur Erinnerung:

  1. ein finaler Wertträger (Fürgrund)
  2. ein Vorhaben (S)
  3. eine Motivation (S)

Die Absicht (V) selbst besteht in der...

  1. Ausrichtung (V) auf den Fürgrund
  2. Fassung (V) des Vorhabens (S) (Sichvornehmen)
  3. Vergegenwärtigung (V)Wirkenlassen / Wirken der Motivation[en] (S)

Kurz und umgangssprachlich sind dies:

  1. Gesinnung
  2. Vorsatz
  3. Hoffnung

Mit den Einsichten der vorangegangenen Kontemplationen können wir diese drei Elemente so einordnen, dass sich uns im Rahmen einer begrifflichen Identifikation sozusagen ihr Wesen enthüllt oder sie sich zumindest in das metaethische Gesamtkonzept harmonisch einfügen. Für die Ausrichtung des Subjekts auf den Fürgrund bietet sich nämlich kaum eine bessere Interpretation an als die Wertschätzung des Fürgrunds (in ausschlaggebendem Ausmaß) zu sein, und ebenso wird die Fassung des Vorhabens im Wesentlichen darin bestehen, dem Handlungsbegriff, in welchem das Vorhaben (S) besteht, in ausreichendem Maße Würdigkeit zuzuordnen, bzw. ihn mit einem Würdigkeitscharakteristikum zu versehen. Aus diesem Grund, d.h. gemäß §21, lassen sich dieses oder auch diese beiden Elemente zusammengefasst als Wille bezeichnen, während hingegen die Vergegenwärtigung bzw. das Wirken der Motivation zwar wertgeschätzt werden kann, selber aber keine Wertschätzung ist, denn Motivationen (S) haben subjektiv ihren Wert meist schon im Voraus, wobei dieser nur ein scheinbarer, d.h. nur ein Neigungs- bzw. sinnlicher, rational nicht herleitbarer Wert ist. (Dieser Sachverhalt ist übrigens die Erklärung dafür, dass es hier an der Zeit war, für die Aufzählung der drei Dimensionen eine etwas andere Reihenfolge zu wählen als bei ihrer ersten Vorstellung in Eintrag §11, wo die Reihenfolge sich u.a. danach richtete, worin gewisse Einstellungen realitär münden sollten, nämlich in der Verwirklichung des Vorhabens).

Die beiden Dimensionen des finalen Wertträgers und des Vorhabens sind zudem nicht nur deswegen das Eigentliche an der Absicht, weil beide durch Wertbeimessung eingebunden werden, sondern auch, weil der Wert des Vorhabens (welches man alltagssprachlich ja „beabsichtigt“) im Wert des finalen Wertträgers wurzelt, d.h. sich von ihm  ableitet (vgl. Eintrag §39). Hat dann die Dimension der Motivation überhaupt keine Relevanz?

Die Relevanz der intentionellen Motivation

Doch, und zwar besitzt die intentionelle Motivation, wie sich anhand von Gedankenexperimenten untermauern lässt, sowohl eine ontologische, als auch eine evaluative Relevanz.

Eine im weitesten Sinne ontologische Relevanz besitzt die Komponente der Motivation insofern, als sich naturgesetzlich bedingt ethisch bewertbare Handlungen erst durch sie überhaupt in der Realität zustande kommen können. Damit ist auch eine ethische Relevanz verbunden: Wenn die realitäre Existenz der Entsprechung eines Vorhabens Würdigkeit besitzt und ihr Eintritt ohne eine richtige und hinreichende Motivation nicht zu erwarten ist, folgt daraus, dass das Individuum auf die Motivation zu achten hat (z.B. richtig und ausreichend motiviert zu sein).

Eine evaluative Relevanz besitzt sie insofern, als Motivationen als Indiz bzw. zur Vergewisserung dienlich sind, dass das Individuum sich tatsächlich auf das Richtige als finalen Wertträger ausrichtet bzw. ausgerichtet hat. Schließlich lässt sich das Bestehen einer Ausrichtung auch lediglich einreden, weder sie an sich noch ihr Zustandeankommen an sich sind sensuell direkt wahrnehmbar, weder introspektiv noch extrospektiv, und ebenso nicht, dass diese Ausrichtung die Grundlage einer bestimmten Handlung ist. Letzteres begründet die Insuffizienz des Verweises auf bloße positive Empfindungen beim Gedanken an den Wertträger, ganz abgesehen davon, dass zu klären wäre, ob diese Empfindungen in letzter Konsequenz dem Wertträger selbst, oder aber eigentlich etwas anderem gelten, dem der jeweilige Wertträger lediglich dient, zusammenhängen. Motivationen hingegen sind hierfür, wenn zwar nicht immer, so doch häufig gut geeignet. Denn viele Motivationen passen nur zu einem bestimmten Wertträger: Zum Beispiel motivieren uns Freudenausdrücke uns wichtiger Individuen (bzw. die Aussicht auf sie) mehr als solche uns weniger wichtiger Individuen. Es sind außerdem auch Motivationen (S) möglich, bei denen man die Erwartbarkeit ihres Eintreffens aus der hohen Wertschätzung gegenüber dem sie in Aussicht Stellenden heraus annimmt und sie aus dieser Wertschätzung heraus nicht in Frage stellt, d.h. ohne die Höhe des Wertes, den man ihm beimisst, könnte man sie nicht als Motivationen haben.

Ontologische Relevanz der Motivation

Gedankenexperimentell erfahrbar wird das Prinzip anhand eines Beispiels, in welchem eine Person in ihrer Lebenslaufbahn vor der Entscheidung steht, entweder Berufssänger(-in) oder medizinische Fachkraft in einem Blutspendezentrum zu werden. Bei diesen handele es sich mit Abstand um ihre Traumberufe. Die Parameter mögen hierbei die Unterschiedslosigkeit der beiden Berufe in allen relevanten Aspekten repräsentieren: Das zu erwartende Gehalt habe in beiden Berufen genau dieselbe Höhe; in beiden Berufen sei keinerlei Ruhm oder Dank zu erwarten (weil sie als Berufssänger aus vertraglichen Gründen immer nur Studioaufnahmen mache, die ausschließlich anonym oder unter dem Namen eines anderen, prominenten Künstlers verbreitet würden und im anderen Fall die Empfänger der Spende nicht einmal den Spender kennen würden, geschweige denn das Fachpersonal bei der Blutabnahme); die Tätigkeiten an sich stelle sie sich als beide gleichermaßen erfüllend bzw. Vergnügen bereitend vor (sie singe ebenso gerne, wie sie schon als Kind gerne Blutabnahme gespielt habe). Es gibt also zunächst keinerlei sinnlich definierte Motivation, den einen Beruf dem anderen vorzuziehen. Hat die Person jedoch die Grundeinstellung eines Philanthropen mit dem Mitmenschen als persönlichem Hauptwert, wäre es merkwürdig, wenn sich dies nicht als das Zünglein an der Waage auswirken und sie sich nicht aufgrund dessen für den Beruf der medizinischen Fachkraft im Blutspendezentrum entscheiden würde. Andererseits würde sie sich auch unter dieser Voraussetzung unterhalb einer Mindesthöhe des Gehalts - diese bzw. die mit ihr einhergehenden Möglichkeiten wären die Motivation - wohl keinen der beiden Berufe zu ergreifen sich durchringen und stattdessen bis auf Weiteres vielleicht lieber weiter bei den Eltern leben oder sich mit Nebenjobs über Wasser halten und im Rahmen ihrer Philanthropie einige Stunden pro Woche bei der freiwilligen Feuerwehr o.ä. betätigen. Ob wir hier trotzdem zumindest von einer möglichen Entscheidung für einen der beiden Berufe sprechen können oder nicht: ihre Leistungsfähigkeit wäre sicher umso geringer, je weiter das Gehalt die gewisse Mindesthöhe unterschreitet, im Extremfall tritt sie trotz unterschriebenem Arbeitsvertrag vielleicht erst gar nicht an (soweit sie das Prinzip der Vertragstreue nicht ausreichend verinnerlicht hat).149 Falls doch eine anfänglich hohe Leistung überhaupt möglich ist, dann höchstwahrscheinlich nur eine solche, die schon bald in einen Burn-out mündet... Das Beispiel macht übrigens nicht nur bewusst, welche Relevanz die Motivationsdimension dafür haben kann, ob und in welcher Weise die Ausrichtung auf den finalen Wertträger in der Realität ihren Widerhall finden kann, sondern auch in welcher Weise diese Ausrichtung allgemein in einer Entscheidung präsent sein kann. - Auch eröffnet es, ergänzend zu den Ausführungen in §22 bzw. diese konkretisierend, eine Perspektive für die Eingliederung des Konzeptes echter Willensfreiheit in das Handlungengefüge des Menschen, bzw. bietet eine recht konkrete Lokalisierung hierfür. Es veranschaulicht nämlich, wie zwar die Situation einer freien Entscheidung nicht unabhängig von Motivation oder sonstigen naturalen Faktoren zustandekommen können mag, eine wahre Entscheidung selber jedoch keine weitere Energie benötigt, so dass ihre ethische Relevanz in dieser Hinsicht gesichert ist.

Als alternative Plastifikation des Sachverhalts denkbar wäre auch das (hier der Einfachheit halber stereotyp gehaltene) Beispiel einer bestens situierten, aus natürlichen Gründen heiratswilligen männlichen Person, die mit zwei für sein Empfinden äußerlich und in den Umgangsformen gleichermaßen sehr angenehmen, heiratswilligen und nichtsdestotrotz beide gleichermaßen zurückhaltenden weiblichen Personen konfrontiert ist. Auch sonst seien alle typischerweise für die Heirat bzw. längerfristige Beziehung relevanten Faktoren gleich. Alternativen zu diesen beiden gebe es auf absehbare Zeit nicht, alle anderen Frauen seien bereits vergeben. Als echter idealistischer Philanthrop wird er, falls eine der beiden wohlhabend und die andere wirtschaftlich bedürftig ist oder in ihrem Elternhaus derzeit in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung unterdrückt wird, eben diese letztere wählen, und als glühender Nationalist wird er, sobald er irgendwann erfährt, dass eine der beiden als einzige von ihnen auch nur geringfügig, geschweige denn in hohem Maße nationalistisch eingestellt ist, eben diese wählen usw. Es sei betont, dass wirklich schwerlich etwas anderes denkbar ist, da die umgekehrte Entscheidung im Angesicht der sonstigen Unterschiedslosigkeit der beiden Optionen nicht anders denn als unnachvollziehbarer Verrat an seinen Grundwerten zu interpretieren wäre. Es ist nicht so, dass ein Verrat hier völlig undenkbar wäre, doch wäre er um so weniger denkbar bzw. wahrscheinlich, je höher der Rang ist, den seine Grundwerte bei ihm einnehmen. Hat für ihn jedoch keine der beiden im geringsten, weder äußerlich noch in den Umgangsformen, etwas sinnlich Ästhetisches oder Attraktives an sich, wird er sich möglicherweise dafür entscheiden, sich vorerst gar nicht zu liieren. (Zwar kann seine Befürwortung der ideellen Einstellung einer von ihnen dafür sorgen, dass dies ihrer Erscheinung subjektive Ästhetik unbemerkt hinzufügt,150 doch unter der Annahme, dass diese nicht nur wie die Andere nicht attraktiv, sondern auch leicht abstoßend auf ihn wirkt, so dass diese Hinzufügung zu einem subjektiven Gleichstand führt, dürfte tatsächlich keine Entscheidung für eine der beiden zustandekommen.)

Nach dem gleichen Prinzip wird ein überzeugter Sozialist, der Durst verspürt und in einem Geschäft vor der Wahl steht, entweder einen Erdbeer-Softdrink einer Marke aus einem kapitalistischen Land oder den gleichen Softdrink einer Marke aus einem sozialistischen Land zu kaufen, wenn sich die beiden Produkte seinem Wissen nach weder qualitativ, noch geschmacklich, noch in der Preisgünstigkeit unterscheiden, für den Kauf der Marke aus dem sozialistischen Land entscheiden (solange kein weiterer Faktor eine Rolle spielt), um den Kauf zu einer Förderung des Sozialismus werden zu lassen und zu vermeiden, seine Konkurrenz zu fördern. Ohne die klassenlose Gesellschaft oder einen dem nochmals zugrunde liegenden Wert als finalen Wertträger ließe sich dies nicht mit dieser Sicherheit sagen. Ohne die Aussicht auf den Wohlgeschmack und die Linderung des Durstes würde er wiederum überhaupt keine Wahl zwischen den beiden treffen (solange kein weiterer Faktor eine Rolle spielt).

An diesen Beispielen mag man das folgende kritische Unbehagen äußern: In ihnen ist der Anlass stets etwas, was weder der Fürgrund ist noch mit ihm direkt etwas zu tun hat (also auch nicht die Ausrichtung auf ihn), sondern nur mit der Motivation. Der finale Wertträger scheint nie von Beginn an angeblickt zu werden. (Wenn z.B. das Vorhaben darin besteht, den eigenen Durst zu löschen, was hat das mit dem Ideal der universalen Gleichheit zu tun?) Sind die Beispiele dann noch repräsentativ und signifikant? Und ist es nicht zu wenig, wenn vollständige Absichten nur in motivationalen Pattsituationen existieren oder aus solchen hervorgehen können? Diese stellen doch allenfalls einen Bruchteil aller Entscheidungssituationen in unserem Leben dar. Und wieso soll die Ausrichtung auf den finalen Wertträger immer nur in Entscheidungskonflikten zwischen mindestens zwei Optionen zutage treten, d.h. wieso kann es nicht schlicht darum gehen, direkt eine Tat um des Fürgrunds willen anzugehen?

Nun, da nichts und auch nicht das geäußerte Unbehagen radikal dagegen spricht, müssen wir uns womöglich einfach mit dem Gedanken abfinden - und schon der naturkausale Begriff des Anlasses in der metaethischen Forderung nach einer bestimmten Individuierung (S) eines solchen legt dies nahe -, dass es für den Menschen ontologisch bedingt keine Möglichkeit gibt, aus dem Stegreif und außerhalb des Rahmens einer von der Ausrichtung auf den finalen Wertträger potentiell unabhängigen Motivation um seinetwillen etwas vorzuhaben. Ist nicht das ganze willentliche bzw. aktive Leben eine Aneinanderreihung von Entscheidungen zwischen „egoistischen“ bis animalischen Motivationen statt direkt zwischen dem begrifflichen und dem jeweiligen sinnlichen Wertträger? Wirklich schlimm wäre dies nicht, solange der Egoismus nur der natürliche der sekundären und nicht der gewählte der primären Selbstheit ist. Demnach würde der kategorische Imperativ des moralischen Lebens lauten: Wähle so weit wie möglich stets den würdigeren von zwei oder mehr Wegen des Trachtens nach deiner Glückseligkeit.

Freilich gestaltet sich dies in der Realität häufig weit subtiler und teils tiefschichtiger als in den plakativen Beispielen dieses Kapitels. Ethisch relevante Entscheidungen und mit ihnen potentiell einhergehende Motivationsgleichstände können beim Menschen bereits rein mentale und innenwirkliche Vorgänge und akteursystemische Einstellungen betreffen: Welchen Gedankenstrang verfolge ich jetzt weiter? Worauf konzentiere ich mich jetzt? Welchem Problem leihe ich mehr Aufmerksamkeit? Welche Neigung kultiviere ich zum Nachteil anderer Neigungen? Welche Begriffe und Konzepte (de-)ästhetisiere ich? Was gewöhne ich mir an? Nach welcher Maxime lebe ich? - Eine hierauf basierende Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen ist natürlich ein Boden für die Entstehung von Sorten von Entscheidungssituationen, die weit weniger primitiv und von animalisch oder egoistisch erscheinenden Beweggründen geprägt scheinen als diejenigen in unseren Beispielen.

Was den Anteil der besonderen Situationen angeht, in denen sich der Mensch überhaupt ethisch bewähren kann und sein Wille überhaupt Gelegenheit bekommt, sich aufs völlig Neue zu  äußern, so könnte es eben sein, dass solche Situationen tatsächlich dünn über seine Lebenszeit gesät sind, ja vielleicht sogar nur ein bis zwei Mal im Jahr eintreten.151 Warum sollten es auch mehr sein? Denn sogar nur mehr als einmal neu zu „würfeln“ hätte nur Sinn, wenn der Wille stochastischen Gesetzmäßigkeiten unterläge und somit ein naturaler Faktor wäre. Demnach ist fast jede Entscheidung eines Erwachsenen im Sinne von Initialität nicht wirklich willentlich, sondern muss in den meisten Fällen betrachtet werden als unwillentliche Folgeentscheidung am Ende einer Kette von Entscheidungen, die zu einer u.U. weit zurückliegenden Abzweigung zurückreicht, deren Grad der Ablenkung vom natürlichen Verlauf auf eine Willensentscheidung zurückgeht bzw. in der Ausrichtung auf einen finalen Wertträger verankert ist.

Die andere Möglichkeit ist, dass motivationale Pattsituationen einfach viel häufiger vorkommen, als man sich im ersten Moment zu denken getraut. Dies liegt insofern nahe, als in Entscheidungssituationen die schiere Unübersichtlichkeit der Menge der möglichen Konsequenzen aller Optionen (einschließlich derjenigen des Nichtstuns) und die kapazitätsbedingte Unberechenbarkeit jener Konsequenzen durchaus häufig vorkommen und diese der sekundären Selbstheit eine motivationale Abwägung unmöglich machen und diese Unabwägbarkeit eine Pattsituation begründet. Damit würde sich die Menge der denkbaren Pattsituationen dadurch erhöhen, dass sich zu den auf Bewertung beruhenden Gleichständen die auf Unbewertbarkeit beruhenden Gleichstände hinzugesellen.

Zu der hier zugrundeliegenden Tatsache, dass der Mensch im Vergleich zu den anderen neigungsbeeinflussten Wesen auf diesem Planeten besonders fähig oder besonders darauf konditioniert ist, die Konsequenzen einer Handlung zusammen mit dieser im Blick zu haben, kommt hinzu, dass durch sein besonderes Vorstellungs- und Abstrahierungsvermögen sich ihm unermesslich mehr Zielvertreter präsentieren, zumal er, anders als Tiere, beispielsweise zur Hoffnung auf ewige Glückseligkeit nach dem Tod sowie zur Befürchtung ewiger nachweltlicher Pein fähig ist. Prima facie (ohne Offenbarung und Indizien für die Authenzität dieser) sind für die meisten Menschen überaus große Glückseligkeit in einer Welt von aktuell geringer Sichtbarkeit und überaus kleine Glückseligkeit in einer Welt von aktuell großer Sichtbarkeit sinnlich gleichwertig, weshalb aufgrund der Konsequenzen (Beeinträchtigung der einen Glückseligkeit infolge der Verfolgung der anderen auf ihre Kosten) die Motivation zu den innerlichen Akten der Anerkennung und Nicht-Anerkennung des Jenseits als Realität für sie zunächst gleich ist, während sich diese beiden Akte offensichtlich zugleich ausschließen.152

Würde das dann aber nicht bedeuten, dass der Mensch in sehr vielen, wenn nicht gar in den meisten Fällen, in denen er den unwürdigeren von zwei Wegen wählt, für diese bewusste Entscheidung nicht verantwortlich wäre? Besonders kontraintuitiv und unbehaglich ist der Anschein, dass sich nach diesem Modell auch ein Mensch mit sehr guter Grundausrichtung ungeheuer häufig in Unwürdigkeiten verfängt, da motivationale Pattsituationen trotz allem wahrscheinlich nicht die Mehrheit aller Entscheidungssituationen stellen. Wenn der Mensch meistens automatisch und unweigerlich von zwei Wegen denjenigen wählt, den zu wählen seine Sekundärselbstheit das stärkere konative Motiv hat, sind aufgrund der scheinbaren Entkoppeltheit von ethischen, neigungs- und interessenunabhängigen Maßstäben einfach zu viele Unwürdigkeiten zu erwarten.

Außerdem scheint im Widerspruch dazu zu stehen, dass die meisten Menschen sich tendenziell doch relativ „vernünftig“ zu verhalten scheinen. Letzteres ist aber das geringere Problem, schwerer wiegt der scheinbare Konflikt mit der ethischen Anforderung, anzunehmen, dass der Mensch prinzipiell für alle seine bewussten Entscheidungen voll verantwortlich ist.

Und noch mehr: Grundsätzlich, geschichtlich jedenfalls schon vor Kant, wenn auch von ihm besonders in den zentralen Fokus gerückt und theoretisch unterbaut, ist intuitiv die ethisch optimal agierende Person diejenige, die sich notfalls auch gegen die eigene Motivation für das Richtige entscheidet. Auf der Karte des vorliegenden Modells, jedenfalls sofern man es ausschließlich aus den Beispielen konstruiert, stellt dieses Ideal jedoch einen leeren Fleck dar und wäre damit gewissermaßen das Einhorn der Moralphilosophie. Denn das Modell scheint es auszuschließen, dass der Mensch sich notfalls gegen seine Neigungen und Interessen stellt, indem er sich für die unangenehmere, aber würdigere von zwei Optionen entscheidet.

Dazu ist zu sagen:

Es stimmt, dass auch bei einer sehr guten Grundausrichtung nach diesem Modell viele Unwürdigkeiten zu erwarten sind. Doch dies ist sowohl ethisch als auch empirisch unproblematisch. Was die ethische Bewertung des Modells angeht, so wird die Problematik dadurch entschärft, dass durch die zumindest im Laufe von Jahren zustandekommende Vielzahl von Pattsituationen auf mentaler und sonstiger Ebene der Mensch genügend Gelegenheiten bekommt, sich für bestimmte Arten der Selbstkonditionierung zu entscheiden und auf diese Weise im Voraus immer größeren Einfluss auf zukünftige Entscheidungssituationen zu nehmen, von denen eine einzelne dadurch nicht mehr nach dem primitiven Grundprinzip verlaufen muss. In dem späteren Moment, in dem man sich infolgedessen für das mehr Nachteile in Aussicht stellende Würdigere entscheidet, wäre dies lediglich die Folgeentscheidung einer viel älteren Entscheidung, die durchaus eine zwischen zwei verschiedenen, motivational gleichwertigen Wegen zur Glückseligkeit war.

Was den empirischen Aspekt betrifft, so beobachten wir ja in der Tat, dass wir Reifephasen durchlaufen bzw. durchlaufen haben, in denen unsere ethische Unvernunft größer ist als in späteren Phasen. Hierbei sind besonders die Lebensabschnitte der Kindheit und der Pubertät (man denke an die Thematik der „Jugendsünde“) zu nennen. Es entspricht sogar unserer Intuition oder zumindest den Konventionen der meisten Gesellschaften der Menschheit (oder wenigstens ihrer vernünftigeren Anteile), ethisch inakzeptabel agierende Kinder und Pubertierende nicht als die Inkarnation des Bösen einzustufen, sondern ihr Verhalten zum größeren oder kleineren Teil auf ihr junges Alter zurückzuführen. Und dies wiederum begründet eine ethische Anforderung, das Modell so anzunehmen, zumal sonst ein Verrat an den Prinzipien der Menschenfreundlichkeit, der Barmherzigkeit und der Hoffnung droht.

Für die Einzelsituation schließt das Modell also Entscheidungen gegen die eigenen Neigungen und Interessen also nicht unbedingt aus. Und falls es dies doch tut, ist dies in dieser allgemeinen Form irrelevant. Denn es genügt, wenn es nicht die Entscheidung vor dem Hintergrund einer Motivation ausschließt, deren Typus auf eine gute Finalausrichtung schließen lässt, bzw. wenn es niedere Motivationen (z.B. Gier, Wollust, Rachedurst, Geltungssucht) nicht als zwingend für jede Entscheidung betrachtet. Ansonsten bleibt nichts gegen die Annahme einzuwenden, dass immer, also auch in jeder einzelnen Entscheidungssituation irgendeine in Neigungen oder Interessen allgemein verankerte Motivation die Überhand gewinnen muss, da bereits die Aussicht auf die Freiheit von Gewissensbissen u.a. eine solche Motivation ausüben kann.

Auf den Punkt gebracht: Die wegen der langen Reifezeiten und aus stochastischen Gründen zu erwartende lange Reihe motivationaler Pattsituationen bis zum Ende der Reifezeit bietet dem Menschen, der eine gute Grundausrichtung hat, zusammen mit seinem in die Innenwirklichkeit weit hinein reichenden Aktionsraum genügend Gelegenheiten, sich zu jemandem zu erziehen, welcher prinzipiell der würdigeren Option den Vorzug gibt, auch wenn die andere Option mehr sinnliche oder nutzenrationale Vorteile verspricht - besser: versprechen würde, wenn er sich nicht erzogen hätte.

Ein Beispiel, in welchem der Protagonist unterwegs einen Bettler sieht und sich dafür oder dagegen entscheidet, ihm etwas zu spenden, hätte sicherlich den Anschein der größeren thematischen Angemessenheit gehabt und diese Entscheidung eher danach ausgesehen, von der Ausrichtung auf den Fürgrund direkt veranlasst worden zu sein bzw. dass es in ihm hauptsächlich um eine genuin ethische Erwägung gehe, statt um eine egoistische Erwägung lediglich mit ethischer Dimension. Doch gerade Letzteres ist das universalere Konzept, das auch der Situation mit dem Bettler gegenwärtig wäre, nur eben in ihr nicht so deutlich zu erkennen gewesen wäre wie in den obigen Beispielen. Demnach steht infolge des Anblicks des Bettlers der potentielle Spender vor zwei tatsächlich egoistischen Optionen: Sein Vermögen in vollem Umfang zu wahren, indem er den Bettler ignoriert, und zum anderen, seine Gewissensruhe zu wahren, indem er ihm etwas spendet. In dieser Perspektive würde das Beispiel lediglich einen Sonderfall desselben Konzepts abbilden, das den anderen Beispielen zugrundelag. Andernfalls ist die darin enthaltene Entscheidung lediglich eine für sich allein betrachtet irrelevante Folgeentscheidung, die auf eine frühere Richtungseinnahme aus einer vormaligen motivationalen Pattsituation zurückgeht und hier nicht aus einem Gleichstand, sondern aus einer klaren motivationalen Differenz hervorgeht.

Plausibel mutet also die These an: Eine ethisch relevante Entscheidungssituation ist eine Situation der Entscheidung zwischen der Verfolgung der einen Motivation (S) und der nicht damit vereinbaren Verfolgung einer anderen, auf den Akteur gleich stark wirkenden Motivation (S). In einer solchen Situation entscheidet sich der verantwortungsfähige Akteur grundsätzlich für die Verfolgung derjenigen Motivation (S), deren Verfolgung der von ihm angenommenen Würdigkeit des präetablierten Fürgrundes subjektiv eher als die Verfolgung der anderen Motivation gerecht wird.

Evaluative Relevanz der Motivation

Modifizieren wir jedoch das erste Beispiel folgendergestalt, bringt es nahe, dass die Art der Motivation (S) mindestens ansatzweise auf die der Handlung zugrunde liegende Finalausrichtung schließen lässt: Als Sänger bestehe nun die Aussicht auf Ruhm und Bekanntheit, weil es auch um öffentliche Auftritte usw. geht, und als medizinische Fachkraft Aussicht auf das Erleben tiefer Dankbarkeit, weil es sich diesmal um eine karitative Arbeit in einer Hilfsorganisation für ausländische Notgebiete mit direktem Kontakt zu notleidenden Waisenkindern handele. Das Gehalt sei wieder bei beiden gleich hoch und hoch genug, und die erwartete Freude an der Tätigkeit selber und das Talent dazu sei ebenfalls nicht ausschlaggebend, da bei beiden gleich hoch oder gleich moderat oder neutral (wie sich die Haare zu kämmen etc.). Der einzige in den Sinn kommende Unterschied sei eben: Beim Singen ist zusätzlich Ruhm, beim Helfen das Erleben tiefer Dankbarkeit im Sinne des Zeichens für die erfolgreiche Linderung  oder Verhinderung von Leid, außerdem auch das Kennenlernen fremder Kulturen erwartbar. Da absichtsvolle Aktivität, wie zur ersten Beispielvariante bereits nahegelegt, ohne irgendeine Motivation kaum denkbar ist, wird, sobald sie nun mit der Ergreifung eines der beiden Berufe oder zu Zwecken seiner Ergreifung tatsächlich aktiv wird, eine der beiden genannten Motivationen dahinter stehen (Ruhm und Bekanntheit vs. Dankbarkeit und Kulturerfahrung). Und da für öffentliche Gesangsauftritte im populären Sinn in der Regel vielleicht Danksagungen zu erwarten sind, tiefe Dankbarkeit aber eher selten, wird hier im Falle der Ergreifung des Sängerberufs für seine Bevorzugung kaum eine andere Motivation als die Aussicht auf Ruhm und Prominenz eine Rolle spielen, indem ihr subjektiver Wert denjenigen des Kennenlernens und der Dankbarkeit überwog. Evident dürfte nun sein, dass bei Vorliegen allein einer solchen Motivation unter Berücksichtigung aller Parameter des Beispiels bei der Ergreifung dieses Berufs quasi unmöglich auf den Mitmenschen, dafür aber viel eher auf die eigene Person als finalen Wertträger in der Absicht geschlossen werden kann.

Die Durchringung zum Antritt der Laufbahn als medizinischer Entwicklungshelfer würde in Anbetracht der Parameter des Beispiels zur Motiviertheit durch die Erwartbarkeit aufrichtiger Dankbarkeit und/oder des Kennenlernens fremder Menschenkulturen passen, weniger zu Ruhm und Prominenz als Motivation, was wiederum nahelegt, dass hier, wenn nicht klar der Mitmensch, so doch zumindest nicht unbedingt die eigene Selbstheit der finale Wertträger in der Absicht ist. Zugegebenermaßen kann auch der Motivation durch die Aussicht auf Dankbarkeit die eigene Person als Wertträger zugrunde liegen, z.B. bei manchen von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Individuen, die lediglich eine Selbstbestätigung und Selbstaufwertung suchen. Doch da in diesem Gedankenexperiment letzteres genauso gut und leicht/schwer durch die Laufbahn des Künstlers erreichbar gewesen wäre, muss bei der Bevorzugung der Laufbahn des medizinischen Entwicklungshelfers eine Motivation den Ausschlag gegeben haben, die nicht der Selbstbestätigung und subjektiven Selbstaufwertung dient. Wem dies nicht genügt, der mag alternativ die Motivation durch die Aussicht auf Linderung des Leids, das die Person im Bewusstsein um die Lage vieler Menschen in der Welt mit ihnen empfindet, anstelle der Dankbarkeit einsetzen, die ja ohnehin auch schlicht als Indikator für die erfolgreiche Verringerung des Leids und somit als Anlass zur Verringerung des Leids des Helfers und folglich zur Erhöhung seiner Wohlseligkeit fungiert. Freilich käme diese Motivation „Mitleid“ im Endeffekt einer bloßen Umbenennung der Motivation „Dankbarkeit“ nahe. Oder der geneigte Mitdenker mag davon ausgehen, dass es die Person gleichermaßen glücklich macht und sie gleichermaßen motiviert ist, ob nun die Dankbarkeit, die sie in Folge ihrer Beteiligung an den humanitären Aktivitäten erleben darf, an sie persönlich gerichtet ist, oder ob ihr lediglich gegenüber ihren Kollegen Ausdruck gegeben wird.153

Hierbei soll nicht ausgeschlossen werden, dass der Beispielperson Ruhm und Prominenz nicht genauso gefallen würden und sie auch hierum weiß. Doch sofern der Mensch kein zu wahrer Ethik unfähiger Automat ist, wird sich die Person je nach finalem Wertträger in Bezug auf die eine Option selbst demotivieren, indem sie ihren Blick mental auf ihre Nachteile (z.B. bei der Sängerkarriere zu befürchtender enormer Verlust von Privatsphäre) richtet, während sie die - und sei es genauso gravierenden - Nachteile der anderen Option ausblendet oder mental marginalisiert (Heimweh, Fehlen von Komfort, Sicherheitseinschränkungen etc.). Dies ist eine natürliche und zur Sicherung der notwendigen Handlungsstabilität meist unabdingbare Vorgehensweise, die - so suspekt sie in der allgemeinen Betrachtung sein mag, und so wenige sie sich eingestehen mögen - in den Entscheidungsprozessen wohl aller Menschen Anwendung findet und erst unwürdig wird, wenn sie zur Rechtfertigung und Zementierung unethischer Entscheidungen missbraucht wird. Darum können wohl alle ethisch Wohlgesinnten gut nachvollziehen, wie jemand, der in die Versuchung gerät, sich unrechtmäßig zu bereichern oder eine Affäre zu beginnen und weiß, dass dies (zumindest nach dem von ihm vorab anerkannten Maßstab) unmoralisch ist, sich zur Unterlassung motiviert, nicht nur, indem er innerlich zu sich spricht: „Das werde ich vor lauter Gewissensbissen nie wirklich genießen können“, sondern auch: „Das bringt doch früher oder später sowieso nur einen Haufen Ärger.“ Solche Ein- und Ausblendungen (oder besser: Hin- und Wegblicke) lassen sich ebenfalls als aus motivationalen Gleichständen hervorgehende Richtungseinnahmen betrachten.

Dies bereichert das Nachdenken über das Konzept der Willensfreiheit um einen weiteren Aspekt: So sehr das Akteursystem des Menschen mitsamt all seinen Aktionen im Geflecht der Naturkausalitäten gefangen sein mag;  er kann zu einem gewissen Grad doch selbst wählen, wovon und wofür es motiviert wird, und somit, welche einer variierenden Anzahl sich bietender Naturkausalitäten sich ausschlaggebend auswirken soll. Das gilt umso mehr, als man zu Beginn in einer Situation wie derjenigen der Beispielperson häufig gar nicht abschätzen kann, welche Motivation (S)  mit all ihren Implikationen und Konsequenzen der Wohlseligkeit in höherem Maße als die andere zuträglich wäre, so dass beide Motivationen an sich gleich effektiv sind, was nahelegt, dass letztlich die Motivation an sich in solchen Fällen nicht ausschlaggebend ist, sondern auf welchen finalen Wertträger man sich in der Absicht ausrichtet, bzw. sich eine Motivation erst infolge dieser Ausrichtung als ausschlaggebend erweist oder auswirkt. Je nach dem, auf welchen Fürgrund sich eine Person ausrichtet, schwächt sie durch die Einblendung von Gegenmotivationen die eine Motivation und stärkt durch die Ausblendung von Gegenmotivationen die andere Motivation.

Signifikanz des Gedankenexperiments

Jedenfalls besteht die Signifikanz des Gedankenexperiments darin, dass durch dieses zu ahnen ist, dass ohne eine Betrachtung der Motivation der tatsächliche finale Wertträger, der für die Handlung übrigens stets auch der potentielle Wertgeber ist, im Dunkeln bleiben kann - und dies sogar für das Auge des Akteurs selbst. Schließlich kommen beide im Beispiel genannten Berufsoptionen in irgendeinem Sinne Mitmenschen zugute, beide Handlungen bestehen rein äußerlich in einer Bezugnahme auf Mitmenschen, das Vorhaben in beiden ist es, Menschen etwas von ihnen als gut Empfundenes zu tun, und dennoch lässt sich für die eine Option der Mitmensch als eigentlicher Fürgrund mit großer Sicherheit ausschließen, während er sich in Bezug auf die andere Option zumindest nicht ausschließen lässt.

Es gibt eine große Menge von Handlungen, bei denen der Art ihres vordergründigen Vorhabens nach zu urteilen einfach zu Vieles als Fürgrund in Frage kommt und sich der Akteur selbst nicht im Klaren ist, um welcher Sache oder wessentwillen er einen Akt zu vollbringen vorhat. Geht er aber in sich und beobachtet seine innere Motiviertheit in Bezug auf ein Vorhaben je nach dem, welche Motivation (S) durch die Verwirklichung des Vorhabens zu erringen er sich vorstellt, kommt er der Beantwortung seiner Frage zumindest näher (auch wenn letztlich wohl keine Motivation alleine mit ihrem Wirken die Richtigkeit des Fürgrunds garantiert und lediglich das Wirken der einen Motivation eher als das Wirken der anderen für einen bestimmten Fürgrund spricht.): Empfindet die obige Beispielperson, die sich für die humanitäre Option entscheidet und mal als männlich und ihre zu erwartende Aufgabe als ausschließlich auf junge Frauen bezogen gedacht sei, in sich ein Verschwinden der Motiviertheit, wenn sie sich vorstellt, dass sich die Aufgabe ausschließlich auf eine andere Menschenkategorie bezieht, muss sie davon ausgehen, dass ihrem Vorhaben lediglich die eigene Person als Fürgrund zugrunde liegt.

Ein alternatives Beispiel: Ein junger Mann sitzt mit seiner Verlobten gemütlich in der Herbstsonne auf einer Parkbank. Nach einigen Minuten des zunehmend behaglichen Beisammenseins sieht er, wie in 15 Metern Entfernung außerhalb des Blickwinkels seiner Verlobten im Schatten eines großen Baumes ein Kind fernab von seinen Eltern hinfällt, sich eine kleine Wunde am Knie zuzieht und unhörbar wimmernd das Gesicht vor Schmerz verzerrt. In ihm entsteht ein Konflikt (!) zwischen den Neigungen, in der angenehmen Situation und Unterhaltung zu verbleiben einerseits und aufzustehen und das Kind zu trösten andererseits. Zum Hineilen motiviert die Aussicht auf: a) Freiheit vom empathischen Unbehagen (oder Bewahrung der eigenen Person vor dem begrifflichen Selbstverlust154?) b) Sympathie vonseiten der Verlobten. Zur anderen, unterlassenden Handlung motiviert die Aussicht auf: a) Fortbestehen der physischen Behaglichkeit der Situation. b) Sympathie vonseiten der Verlobten. - Eilt er zu Hilfe, erntet Lob von seiner Verlobten, frage er sich, ob er es auch dann getan hätte, wenn er erwartet hätte, dass sie ihn dafür, dass er sie allein ließ, getadelt und ihre Sympathie signifikant abgenommen hätte. Lautet die Antwort Nein, ist der Fürgrund wahrscheinlich falsch und könnte in ihrer oder seiner eigenen Person bestehen, zumal nicht die Aussicht auf Freiheit vom empathischen Unbehagen die ausschlaggebende Motivation war, sondern die Hoffnung auf die Steigerung der Sympathie der Verlobten zu ihm. Das Gefühl der Reue ist ebenfalls ein dienlicher Indikator: Dasselbe Ergebnis wäre zu konstatieren, wenn er tatsächlich Tadel erntet und darum seine Hilfeleistung im Nachhinein schmerzhaft bereut. - Das bedeutet übrigens nicht, dass die empathische Motivation die Richtigkeit des Fürgrunds garantiert.

Der Nutzen einer solchen Überprüfbarkeit der Intention anhand der Motivation bzw. ihrer Überprüfbarkeit überhaupt dürfte darin bestehen, dass sie dem an einem ethisch einwandfreien Leben interessierten Individuum die Möglichkeit gibt zu erkennen, wie dringend und in welcher Hinsicht noch Vervollkommnungsbedarf besteht, um gezielt an der eigenen ethischen Grundausrichtung arbeiten zu können. Die Überprüfung anhand einer Analyse der (den Entscheidungskonflikt „beseitigenden“) Motivation dürfte derjenigen anhand der Betrachtung des Vorhabens überlegen sein, worauf weiter unten eingegangen wird. Gleichwohl liegt es natürlich nahe, zum besagten Zweck beides, sowohl Vorhaben als auch Motivation, unter die Lupe zu nehmen.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass dennoch Unsicherheiten in der Identifikation des Fürgrundes anhand der Motivation bestehen können. Allerdings ist zu hoffen (und, so Gott will, auch zeigbar), dass eine oder mehrere bestimmte Kategorien von Motivationen eine eindeutige Rückführbarkeit auf den Fürgrund, der ein solcher zu sein stets berechtigt ist, mit sich bringen.

Die Vorhaben-Dimension

Sodann ist die Absicht nicht nur deswegen komplexer aufgebaut als üblicherweise angenommen, weil sich zum Vorhaben zwei weitere Dimensionen hinzugesellen, sondern auch - was die Komplexität erhöht -, weil auch schon die Dimension des Vorhabens für sich eine vielschichtige Komponente darstellt und oft genug nicht trivial strukturiert ist. Denn ein direkt bevorstehendes Vorhaben dient häufig dazu, ein „eigentlicheres“ Vorhaben zu verwirklichen. Sich zu einem Einkaufsladen zu begeben, mag eine Person durchaus vorhaben. Es wird jedoch kaum ihr „eigentliches“ Vorhaben sein, da solches ja immer nur zur Realisierung eines dahinter stehenden, anderen Vorhabens dient, hier z.B. dort Mehl zu kaufen. Auch dieses Vorhaben kann noch nicht das eigentliche sein, denn auch dieses dient dazu, sich etwas anderes zu ermöglichen, z.B. nach der Ankunft zu Hause einen Kuchen zu backen usw. Oftmals also - wenn nicht immer - besteht das Vorhaben aus einer Vorhabenkette. Es liegt auf der Hand, dass zur näherungsweisen Bewertung einer Absicht anhand des Vorhabens als Indikator immer nur das jeweilige letztliche Vorhaben betrachtet zu werden hat (soweit die Problematik von Inkaufnahmen nicht involviert ist, s.u.).155 D.h. es hat gefragt zu werden: Was will sich der Akteur mit der Realisierung des vordergründigen Vorhabens ermöglichen oder herbeiführen, und was will er sich mit dessen Ermöglichung oder Herbeiführung wiederum ermöglichen oder herbeiführen, usw.?

Beispiel: Jemand hat vor, ein Gebäude zu errichten. Solches ist praktisch nie ein ultimativ-eigentliches Vorhaben. Oft ist nämlich das, was hinter einem solchen Vorhaben steht, das eigentlichere Vorhaben, sich einen besseren oder überhaupt einen Lebensraum zu verschaffen. Statt des letzteren ließe sich aber auch das Vorhaben denken, obdachlose Flüchtlingskinder unterzubringen. Und auch dies lässt sich nie als ultimativ eigentliches Vorhaben identifizieren. Denn auch hier wird ein eigentlicheres Vorhaben dahinter stehen, und sei es auch z.B. das Vorhaben, sich eine Verbesserung des eigenen Rufs und Ansehens in der Stadt zu verschaffen.

Wie weit lässt sich eine solche Kette theoretisch zurückverfolgen? Ist die Anzahl der möglichen Vorhaben(-kategorien), in denen alle Ketten enden, begrenzt oder unbegrenzt? Worin bestehen diese typischen ultimativen Vorhaben? Zumindest im Falle der Ausrichtung auf die eigene Person als finalen Wertträger in der Absicht stehen sicher viele oder jedes Vorhaben stellvertretend a) für das ultimative Vorhaben, sich eine Erhöhung oder Beibehaltung der Wohlseligkeit zu verschaffen (bei lustethisch bzw. neigungsbedingten Ketten) oder b) für das ultimative Vorhaben, das eigene Handlungspotential zu erhalten oder zu erweitern (bei nutzenethisch bzw. interessengeleiteten Ketten). Hierbei erscheint es allerdings fraglich, ob etwas, das ohnehin ein Grundmodus des Menschen ist, überhaupt als Vorhaben im Sinne einer Absicht zählen kann. Sollte aber nichts Essentielles dagegen sprechen, wird hier ein sich aus einem Grundmodus ergebendes Streben in den Status eines Vorhabens erhoben, indem dieses zuvor wertfreie Streben zumindest temporär mit einem Würdigkeitscharakteristikum versehen wird, so dass es nicht als bloßer Grundmodus, sondern als für würdig befundener Akt in die Absicht aufgenommen wird. Andernfalls ist das ultimativ-eigentliche Vorhaben hier entweder stets mit dem jeweils letzten Kettenelement „vor dem Grundmodus“ zu identifizieren, so dass bei neigungsbestimmten Absichten das Ultimativvorhaben grundsätzlich ist, einen direkten Zielvertreter (wie in §15-§18 definiert) anzugehen oder ihn herbeizuführen; oder einfach damit, diesem Grundmodus Geltung zu verschaffen.  Derweil könnte im Falle der Ausrichtung auf etwas anderes als die eigene Person das ultimative Vorhaben des Akteurs schlicht die Erfüllung eines Rechts sein, das der finale Wertträger in seinen Augen besitzt, und zwar abseits vom eigenen Grundmodus und mit diesem in direktem Zusammenhang Stehendem.

Diese Überlegungen dürften nicht ganz unwichtig sein. Denn falls sich auf der metaethischen Ebene feststellen lassen sollte, dass alle ungültige Ethik letztlich in Selbstbezogenheit wurzelt bzw. dass der Falschheit jeder falschen Ethik in irgendeiner, und sei es noch so versteckten Weise Egoismus zugrunde liegt, würde die folgende These passend erscheinen: eine objektiv wertvolle Absicht ist an einem Ultimativvorhaben erkennbar, mit dem sich der Akteur nichts (mehr weiter) ermöglichen oder verschaffen will (was hingegen an früheren Stellen der Kette auch in einer objektiv wertvollen Absicht doch der Fall sein kann) und es dabei in dem Ultimativvorhaben um keinen typischen Zielvertreter geht; andernfalls erweist sich die Absicht samt der dazugehörigen Aktion als ethisch wertlos. Sollte demnach also in dem eben genannten Beispiel des Hausbaus das ultimativ-eigentliche Vorhaben lediglich darin bestehen, sich Ansehen und Zuspruch zu verschaffen, so geht es hier offensichtlich lediglich um die Herbeiführung eines neigungsgemäßen Zieldirektvertreters, und im Falle seiner Realisierung ist das Werk wertlos. Schließlich würde die Person anstelle des Kinderheims auch ein Kasino bauen, wenn sie zu wissen glaubte, dass sie nur dadurch Ansehen und Zuspruch erlangen würde. Steht hingegen hinter dem Vorhaben, Flüchtlingskindern Obdach zu verschaffen, nur noch das eigentlichere Vorhaben, das Recht von jemandem oder von etwas zu erfüllen, d.h. der Würdigkeit von etwas gerecht zu werden, bzw. auf beste Weise zu vermeiden, das Recht von etwas zu vernachlässigen, erscheint es nun möglich, das entsprechende Werk als wertvoll zu beurteilen. - Nebenbei bemerkt, kann das Vorhaben, sich Ansehen und Zuspruch zu verschaffen, auch ein nicht-eigentliches sein. In einem solchen Fall hätte das Werk durchaus noch eine „Chance“, wertvoll zu sein, abhängig von dem alternativen Ultimativvorhaben.

Es gibt übrigens nicht nur bloß kausale Vorhabenkaskaden, sondern auch kategoriale oder solche mit kategorialen Anteilen. Einem Bräutigam, bei dem man 1000 Taler Schulden hat, auf seiner Hochzeit wortlos 50 Taler in einem Beutel zuzustecken, mag man vorhaben, doch kann dies an sich kaum als das ultimativ Eigentliche am Vorhaben gelten, denn was man eigentlich vorhat, ist hier wohl entweder, dem Bräutigam ein Hochzeitsgeschenk zu machen, oder einen Teil der Schulden zu begleichen. Die Geldübergabe verhält sich zum eigentlicheren Vorhaben diesmal nicht wie ein kausales Mittel zu seinem unmittelbaren Zweck, sondern wie eine Subkategorie zu seiner Oberkategorie.

Bewertung der Vorhaben-Dimension als Fürgrund-Indikator

Im Vergleich zu Motivationen sind zumindest vordergründige Vorhaben und die Arten, denen sie angehören, im Allgemeinen ein weniger, wenn überhaupt irgendwie zuverlässiger Indikator dafür, auf welchen finalen Wertträger sich ein Akteur mit seiner Absicht ausrichtet. Allein Vorhaben zu diesem Zweck heranzuziehen kommt eher dem Fällen reiner Vorurteile (und sei es über sich selbst) gleich. Dies ist keineswegs ein Widerspruch zu den im Eintrag „Vom Phänomen zur Norm“ etablierten Prinzip, dass Wertschätzungen bestimmter Gegenstände natürlicherweise spezielle Folgewertschätzungen und Verhaltensweisen nach sich ziehen, denn dies bedeutet nicht, dass sich von einer Verhaltensweise immer zuverlässige Rückschlüsse auf die Identität des ursprünglich wertgeschätzten Gegenstandes ziehen lassen. Gewiss führt z.B. die Wertschätzung, die ein Mann seiner Frau entgegenbringt, zu irgendeiner besonderen Leistung seinerseits, sei es in Form von Handlungen oder Sachgegenständen wie Geschenken, z.B. dem klassischen Blumenstrauß, sei es spontan oder zu bestimmten Anlässen. Und gewiss würde das Fehlen jeglichen Leistungsvorhabens seinerseits im Normalfall auf das Fehlen seiner Wertschätzung hindeuten. Aber: Das Vorliegen eines Leistungsvorhabens allein lässt nicht auf das Vorhandensein der angenommenen Wertschätzung schließen. (Dies war auch nicht der Zweck der Etablierung des erwähnten Prinzips und ist vom Zweck der Ermöglichung der Konstruktion eines Normengefüges zu unterscheiden.) Der Ehefrau vor den Augen ihrer Kinder einen Blumenstrauß zu überreichen vorzuhaben, kann dem Wert entspringen, den ihr der Ehemann beimisst, genauso aber auch dem Wert, den er seinen auf diese Weise erfreubaren Kindern beimisst, während sein Verhältnis zu ihr vielleicht längst erkaltet ist. Oder er erhofft sich, kühl berechnend, lediglich eine Sicherstellung ihres Fleißes im Haushalt, d.h. seiner Freiheit von lästigen Arbeiten. Die Betrachtung der Motivation führt hingegen etwas weiter: Ist seine Hauptmotivation allein ihre (aufgrund einer ihr zukommenden Zieldirektvertreterschaft eine Hauptmotivation zu sein geeignete) Freude über seine Leistung, wird eher ihre Person der Fürgrund sein; besteht sie allein in der Freude der Kinder, dann wohl eher die Kinder; ist es seine eigene Freiheit (durch Sicherung derselben), dann wohl eher nur seine Selbstheit.

Es sei allerdings nicht verschwiegen, das Ultimativvorhaben Ähnliches leisten oder zur Identifikation des Fürgrundes zumindest besser geeignet sind als sonstige Vorhaben, wie weiter oben schon angesprochen. Denn soweit ein Ultimativvorhaben in nichts als der Angehung oder Herbeiführung einer Motivation (S) besteht, gibt es keinen wesentlichen Unterschied in der Rede von der Überprüfung des Fürgrundes anhand der Motivation und der Rede von der Überprüfung anhand des Ultimativvorhabens. Dennoch ist deutlich, dass die Motivation hier der Angelpunkt ist. Hier wäre die Untersuchung u.U. noch zu vertiefen, und zwar auch im Hinblick darauf, ob Ultimativvorhaben nicht manchmal noch mehr leisten, da diese anscheinend nicht nur in der Angehung oder Herbeiführung von Motivationen bestehen können (s.o.), sondern auch in der Erfüllung eines Rechts. Falls dem so ist, stellt sich die Frage, welche Rolle Motivationen in solchen Absichten der Rechtserfüllung überhaupt haben können, zumal sie mit dem Vorhaben keinen direkten Berührungspunkt hätten und folglich fraglich erschiene, wie sie dann irgendeinen zweckdienlichen Effekt auf die Aktion haben könnten. Eine Antwort könnte lauten, dass sich der Akteur eine passende Motivation eigens zu diesem Zweck quasi nachträglich vergegenwärtigt. Eine andere wäre, dass in solchen Absichten die Motivation möglicherweise das Vorhaben zwar nicht direkt befeuere, dafür aber innere, neigungsmäßige Hemmnisse und Hürden neutralisiere.

Da Wertschätzungen für ihren Gegenstand typische postnaturale Ästhetisierungen nach sich ziehen, dürfte es Motivationen geben, die mehr oder weniger direkt vom Fürgrund abhängen. Besteht in solchen Absichten das Ultimativvorhaben in der Angehung oder Herbeiführung der Motivation und führt das Wegdenken der Motivation zum Wegfall des Vorhabens, lässt sich auf diese Weise häufig der Fürgrund identifizieren, wieder hauptsächlich anhand der Motivation anstelle des Vorhabens.

Damit liegen bezüglich der Dimension des Vorhabens zwei konkurrierende Modelle der Absicht vor. Im einen sind Ultimativvorhaben möglich, die funktionell keinerlei Motivation (S) ansteuern; dies wären wohl die einzigen, die in einem ethisch wertvollen Werk zu münden eine Chance haben. Im anderen sind solche Ultimativvorhaben unmöglich, und der Wert des Werks bestimmt sich hier danach, ob das Vorhaben von einer Motivation befeuert wird, welche ohne die Ausrichtung auf einen objektiv würdigen Fürgrund als Motivation hier keinen Bestand hätte (bzw. wegen ihrer Abhängigkeit auf einen solchen schließen lässt), oder von einer anderen Motivation.

Eine annähernde Harmonisierung der beiden Modelle ist möglich, indem das erste leicht angepasst dem zweiten subkategoriell untergeordnet wird. Demnach sind vorhabensfremde Motivationen ausgeschlossen, ausnahmslos jedes Ultimativvorhaben hat eine Motivation (S) zum Gegenstand, und aufgrund des Prinzips der postnaturalen Ästhetisierung kann auch die Idee von der Rechtserfüllung in der Motivation als Zielvertreter, dessen Inangriffnahme die Wohlseligkeit zu fördern verspricht, definiert sein. Je höher entwickelt und reifer die Moral einer Person, desto eher und häufiger ist dies bei ihr der Fall. Allerdings sind solche Absichten im Idealfall dann nicht die einzigen wertvollen möglichen, da auch sie ihren Wert nur daher haben, dass die in ihnen enthaltenen Motivationen von der Wahl des finalen Wertträgers abhängen und somit jede andere Motivation, bei der solches der Fall ist, die Absicht ebenfalls aufwertet.

Das harmonisierte Modell harmoniert wiederum mit denjenigen Ausführungen in diesem Eintrag, die sich mit der möglichen Kritik an der Auswahl der Beispiele auseinandersetzen. Falls gefragt wird, wie es sich vereinbaren lässt, dass zu Beginn des Eintrags die Fassung des Vorhabens als intellektuale Aufwertung einer Handlungskategorie interpretiert wurde, mittlerweile aber mindestens die Fassung des Ultimativvorhabens eher nach der Neigungsausrichtung auf einen vorab als sinnästhetisch wertvoll feststehenden Gegenstand aussieht: Die relevante Absicht ist diejenige, welche die Festlegung des Verlaufs an Verzweigungen in motivationalen Pattsituationen repräsentiert. Diese sind die Stelle, an welcher zusätzlich zum sinnlichen Wert die intellektuale Bewertung des Vorhabens hinzukommt. Dies ist aber wohl nicht die einzige Möglichkeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Dennoch möge es hierbei vorerst sein Bewenden haben, um den Ausflug in den kognitionstheoretischen Teil der Metaethik, der gewiss nicht das Hauptthema der vorliegenden Schrift ist, nicht zu sehr ausschweifen zu lassen.156

Abhängigkeiten

Nun lassen sich in Absichten ethisch relevanter Handlungen resümierend mehrere Abhängigkeitsverhältnisse feststellen:

Eine ethisch relevante Handlung ohne eine alle drei Dimensionen einbindende Absicht ist undenkbar. Die Aktion bildet zusammen mit der dreidimensionalen Absicht eine ethisch bewertbare Handlung, passend zu einer Bezeichnung als Werk.

Werk =

Fürgrund
Begriffliche Dimension


+ Aktion

Motivation
Sinnliche Dimension
Vorhaben
Realitäre Dimension

Das Vorhaben ist hinsichtlich seines Gegenstandes vom finalen Wertträger, hinsichtlich seiner Realisierung von der Motivation abhängig; die Motivation157 ist hinsichtlich ihrer Art vom finalen Wertträger abhängig.

Intentio generalis und Intentio specialis

Wenn auch vielleicht nur unter Rücksichtnahme auf die methodisch-systemkognitive Ebene relevant, kommen Absichten häufig, wenn nicht gar allermeistens, scheinbar mit einem Fürgrund daher, dessen wertträgerschaftliche Finalität nur eine relative ist, da sich sein Wert im Subjekt eigentlich von einem anderen, eigentlichen Wertträger ableitet, diese Tatsache auf kognitiver Ebene jedoch allenfalls schwach präsent ist. Diese Auftrittsweise des sekundären Wertträgers ist wohl darauf zurückzuführen, dass die in der betreffenden Absicht enthaltene Motivation (S) von ihrer Natur oder Umständen her typischerweise eher von ihm als von dem eigentlichen finalen Wertträger abhängt. Dem einen oder anderen bezahlten Bodyguard mögen im Zuge einer zynischen Grundhaltung Leben und Unversehrtheit seines wohlhabenden Schützlings an sich weitestgehend egal sein, dennoch wird er vorhaben, sich für diesen Wert (S) so einzusetzen, als sei der Schützling der hinter diesem Vorhaben stehende finale Wertträger, auch wenn sich sein Wert (V) - was sich der Bodyguard vermutlich nicht jeden Augenblick ins Bewusstsein ruft - lediglich vom Wert des Lebensunterhalts und dieser wiederum von Anderem ableitet. Für ethische Bewertungen relevant ist vor allem diejenige Absicht, mit der sich der Akteur auf einen absolut finalen statt nur einen relativ finalen Wertträger ausrichtet. Diese ist die intentio generalis, die von der intentio specialis zu unterscheiden ist. Indes ist allerdings das Etablieren jeder intentio specialis als Werk zu betrachten, für welches das Individuum Verantwortung trägt.

Für die moralanalytische Praxis problematisch ist, dass sich aus der Rekonstruktion einer intentio specialis, insbesondere ihres relativ-finalen Wertträgers anhand der Motivation, nicht unbedingt die der intentio generalis ergibt, ja letztere der ersteren allzu oft gar nicht anzusehen ist. Mögliche Lösungen sind für das Problem, weniger die typische intentio specialis als die mit der Etablierung ihres Fürgrundes zusammenhängende Intention in den Blick zu nehmen, sowie aus den Entscheidungen im (und sei es nur gedachten) Fall des Konflikts zwischen zu unterschiedlichen vorläufig als solche zu bestimmenden Fürgründen gehörenden Vorhaben entsprechende Schlüsse zu ziehen.

Inkaufnahmen

Ein besonderes und vielleicht auch recht heikles Konzept im Zusammenhang mit der Absicht ist das Konzept der Inkaufnahme. Eine Inkaufnahme (S) steht mit der Dimension des Vorhabens gewiss in einem engeren Zusammenhang als mit denen des Fürgrundes und der Motivation. Die Gemeinsamkeit zwischen Vorhaben und Inkaufnahme ist, dass der Akteur für beides die Rolle einer kausalen Ursache spielt (ungeachtet der Frage nach der Länge der erwarteten oder realen Kausalkette zwischen Akteur und Inkaufgenommenem bzw. Vorhaben). Zudem sind beide dem Akteur beim Sichvornehmen des Vorhabens oder seiner Aufrechterhaltung mental präsent, und sei es auch beim einen oft flüchtiger als beim anderen. Bei der Inkaufnahme kommt noch hinzu, dass sie sich im Bewusstsein des Akteurs als mit dem Vorhaben im Sinne einer Wirkung kausal verknüpft darstellt. Und doch sind Inkaufnahmen begrifflich vom Vorhaben auch über Letzteres hinaus zu unterscheiden. Grob gesagt: Für die Herbeiführung eines Vorhabens (S) hat der Akteur eine Motivation, nicht aber für die Herbeiführung einer Inkaufnahme (S). Präziser: Dem Vorgehabten ordnet der Akteur einen sinnlichen Wert zu, der sich von dem sinnlichen Wert der Motivation ableitet, und einen transzendentalen Wert, den er vom Wert seines Fürgrundes ableitet, dem Inkaufgenommenen hingegen ordnet er keinen Wert zu, jedenfalls nicht in nennenswertem Maße.

Das thematisch relevante Inkaufgenommene ist hier übrigens ausschließlich das, dessen Begriff die kausale Involviertheit des Akteurs als begrifflichen Bestandteil einschließt. Denn es kann z.B. durchaus sein, dass jemand dem Ableben des Nachbarshundes einen großen Wert beimisst, ohne aber einen auch nur annähernd so großen Wert darin zu sehen, ihn höchstpersönlich beim morgendlichen Ausparken aus der Garage zu überfahren. Beginnt eine solche Person eines Morgens rückwärts aus der Garage zu fahren, und zwar unter Umständen, aufgrund derer sich ihr das Vorhaben als mit dem Totfahren des Hundes ursächlich verknüpft darstellt und fährt ihn dann beim Hinausfahren tot, ist die thematisch relevante feststellbare Inkaufnahme daher nicht der Tod des Hundes (welcher im allgemeineren Sinn natürlich schon inkaufgenommen wurde), sondern die für den Tod des Hundes bestehende Ursächlichkeit des Akteurs im Zuge der Umsetzung des genannten Vorhabens. Und dem wäre auch dann so, wenn die Person seinem Tod keinen Wert beigemessen hätte. - Ohne das Bewusstsein um die genannte ursächliche Verknüpfung läge keine (jedenfalls keine bloße) Inkaufnahme vor, ob er dem höchstpersönlichen Überfahren einen Wert beigemessen hätte oder nicht, und erst recht, ob er dem reinen Ableben einen Wert beigemessen hätte oder nicht. Dem Konstrukt einen Wert beizumessen, würde es aber zu einem Vorhaben machen.

Trotz des fundamentalen Unterschieds stellt sich die Frage, ob und inwiefern Inkaufnahme und Vorhaben zu Zwecken einer ethischen Bewertung äquivalent sind, zumal für die Intuition dieses oder dem Nahekommendes durchaus der Fall zu sein scheint. Zumindest dürfte sich sagen lassen, dass Inkaufnahmen in diesem Zusammenhang uneigentlichen Vorhaben gleichkommen. Denn wie der Akteur, wenn er wüsste, dass er sein Vorhaben ohne irgendeine Aufwandserhöhung und ohne Abstriche auch ohne die Inkaufnahme verwirklichen kann, dies höchstwahrscheinlich auch ohne sie tun würde, genauso würde er auch sein eigentlicheres Vorhaben unter Auslassung des weniger eigentlichen angehen, wenn er wüsste, dass dieses zur Umsetzung des eigentlicheren nicht im Geringsten erforderlich ist. Ansonsten spielt das Inkaufzunehmende zwar die Rolle einer unvermeidlichen Begleiterscheinung, während das vordergründige Vorhaben hingegen die einer unverzichtbaren Voraussetzung spielt, doch ist es die ihnen gemeine, in der Unvermeidlichkeit und der Unverzichtbarkeit enthaltene empirische Notwendigkeit, die zur Inkaufnahme wie zur Fassung des vordergründigen Vorhabens führt und dem Akteur zur Legitimation von beidem dient.

Ohne Weiteres wäre eine Inkaufnahme ethisch äquivalent zur Fassung eines direkt bevorstehenden, vordergründigen Vorhabens. Allerdings ist diese Feststellung aufgrund von zweierlei Faktoren einzuschränken. Zum einen ist bei der Angehung eines Vorhabens häufig eine höhere Hemmschwelle zu überwinden als bei einer Inkaufnahme, da man mit letzterer erheblich weniger direkt konfrontiert ist. Für die Überwindung der Hemmschwelle ist ein gesondertes vermittelndes Vorhaben nötig, was die moralische Schwere der Gesamthandlung normalerweise erhöht. Als in einer solchen absichtsvollen Ignorierung gewisser Imperative bestehend lässt sich eine Inkaufnahme (V) grundsätzlich betrachten. Desweiteren liegt das Inkaufgenommene meist lediglich in Form eines Risikos vor. Darum kommt einer Inkaufnahme die Schwere der Fassung eines Vorhabens maximal im prozentualen Maße dieses Risikos zu. Maßgeblich ist allerdings das subjektive Risiko, nicht das objektive.

Bereitschaft

Eine spezielle Art des Vorhabens oder direkt auf sie bezogen ist die Bereitschaft. Bereitschaft ist nämlich das Gefasstsein eines bedingenden Vorhabens, bzw. eines Vorhabens, das bewusst so konstruiert ist, dass es erst unter bestimmten Umständen umgesetzt würde. Ein bedingtes Vorhaben, das nicht wie z.B. „Falls mein Schwager mich heute Abend anruft, werde ich mich mit ihm versöhnen“ wesentlich auf Individualbegriffen beruht, sondern auf Allgemeinbegriffen, lässt sich als Maxime bezeichnen, z.B.: „Falls mich eine notleidende Person um Hilfe bitten sollte, würde ich ihr (diese nicht vorenthalten, sondern) helfen.“ Zur Messung der Schwere der Schuld, falls der Gegenstand einer Bereitschaft etwas Negatives ist, ist das Gesamtkonstrukt des bedingten Vorhabens zu betrachten, zumal die Bedingung häufig eine Begrenzung des Vorhabens darstellt, ohne welches dieses umfangreicher wäre und somit womöglich schwerer wöge. Andererseits wirken sich manche Bedingungen kaum oder gar nicht aus, insbesondere, wenn sie lediglich zeitliche Terminierungen darstellen. In letzterem Fall unterscheidet sich eine Bereitschaft in der Bewertung gar nicht von einem normalen Vorhaben.

Jedenfalls sollte nicht übersehen werden, dass in rein intellektbasierter, dezidierter Bereitschaft (bei Auffassung von Vorhaben als intellektuale Wertbeimessungen) stets ein echter Wille enthalten ist, der lediglich in seinen realitären Auswirkungen, aber nicht an sich dem Verlauf der Zukunft überlassen wird. Insofern macht ihn die Bedingung, die ihn zur Bereitschaft macht, nicht zu einem (darin, ein Wille zu sein) bedingten Willen. Denn die Umsetzung des Vorhabens, sich mit dem Schwager zu versöhnen, mag ein Akteur zwar von dessen Anruf am Abend abhängig machen, was seinem Vorhaben eben die Eigenschaft verleiht, eine Bereitschaft zu sein. Doch eben dies ist unmöglich, wenn er nicht dem Inhalt der Idee, in welcher der Schwager am Abend mit ihm telefoniert und er sich währenddessen mit ihm versöhnt, also der Idee von einer Versöhnung seiner Person mit dem am Abend mit ihm telefonierenden Schwager vorab und absolut entschieden Würdigkeit beimisst. Somit liegt mit einer echten, rein intellektbasierten Bereitschaft in jedem Fall ein Wille vor.

Begrüßung

Es gibt Handlungen anderer, sowie Vorgänge und Ereignisse, die kein Verantwortungsträger aktuell herbeiführt oder herbeigeführt hat, zu denen ein Akteur aber dennoch eine schuldhafte Beziehung haben kann. Misst er ihnen nämlich einen Wert bei und lässt innerlich bewusst seine positiven Gefühle zu ihnen sich frei entfalten, ist dies als Begrüßung zu bezeichnen. Eine Begrüßung geht in Richtung eines Vorhabens, ist in der Bewertung meist jedoch schwächer. Dennoch ist sie nicht zu unterschätzen, denn sie kann im Wesentlichen mit einer vollen Bereitschaft identisch sein.

Revision des Imperativkonzepts als Fundort des Würdigkeitsbegriffs

[§49] Auch wenn das Imperativkonzept, wie sich herausstellt158, nicht der einzige mögliche Fundort des Würdigkeitsbegriffs ist, sei im Folgenden eine kritische Ergänzung zur im Eintrag §14 versuchten Analyse des Imperativkonzepts dargeboten.

Konsekutiv angeschlossene Imperative

Obgleich die Analyse des Imperativkonzepts nicht mehr allzu unabdingbar erscheint, stellt sich aufgrund eines bemerkenswerten Phänomens die folgende Frage: Ist der Begriff des Würdigen bzw. des Wichtigen wirklich in einem zur sprachlichen Imperativformulierung gehörenden Korrelat enthalten und mit dem Imperativcharakteristikum identisch? Wenn dem so ist, wie kommt es, dass sich eine Äußerung wie die folgende sinnvoll anhört? Dass du mir den Ring gibst, ist wichtig (a). Also gib mir den Ring (b). Die besagte Identität angenommen müsste es doch irritieren, dass wegen dieser Annahme Satz „a“ und Satz „b“ einerseits vollkommen bedeutungsgleich sein müssten und andererseits die Konsekutivverknüpfung offenbar möglich ist und einen natürlichen Eindruck macht, was nur passt, wenn die beiden Sätze eben nicht bedeutungsgleich sind. Weniger sinnvoll erscheint nämlich die folgende Äußerung: Deine Abgabe des Rings an mich ist wichtig, also ist deine Abgabe des Rings an mich wichtig.. Dergestalt auf sich selbst lässt sich nichts aufbauen. Dass die Sätze des ersten Beispiels sich mittels der „also“-Verknüpfung aufeinander aufbauen ließen, legt nahe, dass in ihnen nicht ein und derselbe Satz auf sich selbst aufgebaut wurde, sondern zwei verschiedene Sätze. Wenn das „also“ hier ein logisches ist, müsste es in mengenlogischer Perspektive auf eine Art Beinhaltungsverhältnis zurückgreifen, so wie auf ein solches zwischen Sokrates und der Menge der Menschen zurückgegriffen wird, wenn es heißt: Alle Menschen sind sterblich. Also ist Sokrates sterblich. Der problematisierten Äußerung ist ein solches Verhältnis jedoch nirgends anzusehen.

Zur Erklärung lässt sich der Imperativ jeweils alternativ betrachten als:

a) Wertkorrelat abbildend: Liegt der Schlüssel zur Lösung dieses Problems in den Ausführungen zur Wahrheitsfähigkeit im Eintrag §14 sowie zur Natur ethischer Korrelate im Eintrag §36, insbesondere im Abschnitt „Ethikurteile als Tatsachen“? Im Unterschied zu seinem Folgesatz „b“ greift Satz „a“ immerhin auf eine Syntax zurück, die üblicherweise die Abbildung von Faktualkorrelaten zum Zweck hat, und könnte gemäß dem besagten Eintragsabschnitt eine stillschweigende Bezugnahme auf eine Anerkenntnis sein, die von jeder intakten Vernunft vollzogen werde, während der Folgesatz hingegen das von ihm abgebildete Wertkorrelat gewissermaßen „unangetastet“ lässt. Dann müsste das konsekutive Konstrukt äquivalent zu diesem sein: Jede intakte und hinreichend informierte Vernunft würde die Abgabe des Rings als wichtig anerkennen. Also ist seine (deinerseitige) Abgabe wichtig.. Besonders überzeugend ist dies allerdings  nicht, denn offensichtlich liegt in dieser Variante keine Verknüpfung logischer, sondern lediglich empirischer Art vor, oder es fehlen Voraussetzungen für eine Evidenz der Folgerichtigkeit wie diejenige, die der Verknüpfung im ursprünglichen Konstrukt innewohnte. Doch womöglich ist das „also“ tatsächlich nur empirischer Art, wie in: Der Fuchs zittert. Also ist ihm kalt. Allerdings hat das „also“ des ursprünglichen Konstrukts nicht den Anschein, empirischer Art zu sein...

b) Reiner Akt: In der Annäherung an ein besseres Verständnis sollte jedenfalls im Blick behalten werden, dass ein Imperativ schon von seinem hauptsächlichen Zweck her überhaupt keine Mitteilung ist, sondern zunächst ein mitteilungsfreier, bloßer Akt, gewissermaßen also ein verbales „Anschubsen“, das an die Stelle eines motorisch ausgeführten Anstoßes tritt. Das in Bewegung zu setzende „Material“ wird allerdings nicht direkt angestoßen; vielmehr hat die verbale Imperativform die Funktion eines Schlüssels, welcher eine bare Proposition mit sich bringt. Der von einem mit dieser Proposition beschriebenen Zettel begleitete Schlüssel öffnet im Adressaten denjenigen Behälter, dessen von ihm aufgenommene Inhalte direkt ab ihrer Ankunft darin das Akteursystem grundsätzlich zu verwirklichen zu beginnen programmiert159 ist. Gemäß dieser Analogie ist ein Befehl im Wesentlichen der Einwurf eines „Zettels“ in einen hinsichtlich seiner Funktion speziellen Behälter, mit der grammatischen Form als Form des Schlüsselbarts. Imperativformulierungen nutzen nun mal eine spezielle, ihre syntaktische Form betreffende Empfänglichkeit und Sensibilität des Adressaten aus. Die Etymologie des Verbs „befehlen“ passt denn auch bestens zu der vorgenannten Verbildlichung des Befehls als Versenkung einer Proposition in einen an einen bestimmten Mechanismus angeschlossenen Behälter sowie auch zu Ausführungen, wie sie im ersten Eintrag zur Analyse des Imperativkonzepts vorkommen.160 Anders gesagt: Die sprachliche Form nutzt einen Automatismus im Adressaten aus, durch welchen sein Akteur- bzw. Verarbeitungssystem automatisch einen sinnlichen Wert mit der von dieser Form transportierten Proposition (wohl eher: sinnlichen Vorstellung!161) verknüpft, die wenn sie „erblickt“ wird, ihn auf die so ausgezeichnete Proposition/Vorstellung zusteuern lässt. Hinsichtlich der Wirkung ist es, als injiziere der Befehlsgeber dem Adressaten eine schon im Voraus mit einem Wertcharakteristikum versehene Vorstellung, oder als füge er Vorstellung und Wertcharakteristikum im Empfänger operativ eingreifend zu einem neuen Produkt zusammen, was denn auch zu den Etymologien des lateinischen Imperativlexems und des dem Verb des Befehlens wortgeschichtlich, semantisch und konzeptionell nahe stehenden Verbs des Empfehlens gut passt.162 Diese Verknüpfung einer Proposition bzw. der entsprechenden Vorstellung mit sinnlicher „Würdigkeit“ (= Schönheit) oder ihrer Negation mit sinnlicher „Unwürdigkeit“ (= Hässlichkeit) ist das erste, was beim Empfang eines Imperativs geschieht. - In dieser Perspektive bilden Imperativformulierungen zunächst eben doch kein intelligibles Korrelat ab, so dass die Nicht-Identität der beiden Sätze in der Natur der Sache läge. Das „also“ bezöge sich nicht direkt auf das ihm Nachfolgende, sondern wäre ein abkürzender Ausdruck für: „Also bin ich berechtigt, dir zu befehlen: ...“ oder: „Darum befehle ich dir: ...“ oder: „Darum ist es wichtig, dass du dem folgenden Befehl Folge leistest: ...“ Kommunikative Imperative als mitteilungsfreie Akte betrachtet, wäre auch ein Vergleich mit einer Situation zulässig, in welcher jemand sagt: „Dieses Gerät da gehört mir, also“ ... und den betreffenden Gegenstand wortlos an sich nimmt, und gemeint wird sein: „... also/darum tue ich das Folgende...“ Das „Folgende“ wäre hier die Ansichnahme des Gegenstands und oben der im Befehlsakt bestehende verbale Anstoß.

(Es liegt andererseits ein gewisser, begriffsorganisatorischer Reiz darin, Imperative prinzipiell als eine Subkategorie ethischer Korrelate aufzufassen, bzw. dieser den Terminus des Imperativs vorzubehalten. Demnach ist ein Imperativ prinzipiell ein ethisches Korrelat, dem - auf welche Weise auch immer - die empirische Wirkung eines Imperativs zueigen ist, und das sich hierdurch von anderen ethischen Korrelaten, welche auch ohne diese Wirkung denkbar sind, abhebt. Eine davon nicht weit entfernte Alternative, welche das eben genannte Spezifikum höchstens - aber immerhin - indirekt einschlösse, wäre, Imperative als eine Subkategorie ethischer Korrelate anzusehen, die sich durch die Einbindung des Adressaten als Individualbegriff in seinem Rumpf von den anderen abhebt. Tatsächlich erscheint es natürlich, zu einem beliebigen ethischen Korrelat, das eine Handlung bewertet, eine Imperativformulierung zu bilden: Bescheidenheit ist würdig. => Menschen müssen bescheiden sein. => Herbert, sei bescheiden! Der umgekehrte Weg erscheint hingegen falsch, aus der Anweisung Steh auf, Herbert! lässt sich nicht der Satz Aufstehen ist würdig. folgern...)

c) Korrelat provozierend: Dennoch wäre es auch unter dieser Voraussetzung merklich rational zulässig und legitim (wenngleich dem ursprünglichen Zweck von Befehlen zuwiderlaufend), als Empfänger beim Empfang eines Befehls auf diesen mit der Frage zu reagieren: „Warum soll ich das tun? Warum ist es wichtig, das zu tun?“ Und auch jenseits aller Launen und Neigungen ist es fühlbar, dass es folgerichtig ist, zu sagen: „X zu tun ist wichtig. Also tue X.“ Der Wunsch des Adressaten und seine Natürlichkeit sprechen dafür, dass hier entweder nicht oder nicht nur sinnliche, sondern intelligible (transzendentale) Schönheit im Spiel ist. Der empirisch feststellbare Zweck einer Imperativformulierung mag also die Verknüpfung (V) eines sinnlichen Wertes sein, doch trotzdem geht mit ihr beim wachen, intellektbegabten Adressaten offenbar die Entstehung eines rein rationalen Korrelates einher, zusätzlich zu der anderen Verknüpfung (S), die aber kein epistemisches Korrelat ist, denn weder wird sie mit solchen Korrelaten ohne Weiteres abgespeichert, noch kann man etwas auf sie wie auf solche aufbauen. Vielmehr ist sie bloß ein Element in einem rein automatischen, wenn nicht gar mechanisch zu nennenden Prozess, und sinnliche Würdigkeit wie folglich auch die aus ihr und der Proposition/Vorstellung bestehende Kombination (S) ist im Unterschied zur transzendentalen Würdigkeit kein Begriff (auch wenn man freilich von ihr einen Begriff haben kann).

Auffallen sollte im Rahmen dieser Betrachtungsweise die Harmonie mit dem im Eintrag §39 etablierten Dualismus: Den dortigen Ausführungen gemäß geht die Zuordnung transzendentaler Würdigkeit mit einer Zuordnung sinnlicher Würdigkeit einher und zieht diese gewissermaßen nach sich, wodurch das Akteursystem überhaupt erst im Sinne der ersten Zuordnung aktiviert wird. Hier hingegen, beim kommunikativen Imperativ, ist die Reihenfolge allerdings umgekehrt: Erst wird mit dem Truncus oder der ihm entsprechenden Vorstellung ein sinnlicher Wert verknüpft, und vielleicht (!) folgt danach die Transzendentalverknüpfung. Dies sollte nicht allzu sehr verwundern, denn kommunikative Imperative haben ja sozusagen den Zweck, den Verstand zu „umgehen“ (um nicht zu sagen: „zu ‚hintergehen’“) und wenden sich auf subtile Weise zuerst und direkt an die Sinnlichkeit des Empfängers, um das System seiner Neigungen und Reflexe auszunutzen. Darum sind kommunikative Imperative als auf subtiler Ebene immer einen vielteiligen Prozess in Gang setzende Faktoren etwas, dessen Umsetzung stets abgebrochen werden können muss, wenn auch nie schon im Ansatz verhindert werden kann, es sei denn allenfalls, es besteht im Voraus eine bewusste Konditionierung auf einen dem zuwiderlaufenden Reflex. (In dieser initialen Unverhinderbarkeit haben kommunikative mit Neigungsimperativen eine essentielle Gemeinsamkeit.)

Für die Sicherung dieser Ingangsetzung ist es übrigens nicht notwendig, dass der Imperativ die Vorstellung mit Schönheit versehen zu werden evoziert; es ist davon auszugehen, dass durch denselben, unveränderten Imperativ - mal stattdessen und mal daneben - ihre Negation (S) mit Hässlichkeit behaftet wird. Abhängig ist dies sicherlich insbesondere von der Art der Erziehung, die dem jeweiligen Individuum zuteil wurde. Beruhte diese eher auf Belohnung für Gehorsam, werden Imperative eher Zuordnungen von Schönheit evozieren, und beruhte sie eher auf Bestrafung für Ungehorsam, eher Zuordnungen von Hässlichkeit, und sei es auch bei zugleich unveränderter Neutralität der unnegierten Verknüpfung (S).

d) Angehung bewertend: Nicht vernachlässigt werden sollte bei der Interpretation der „also“-Verknüpfung aber auch nicht der bereits in Eintrag §39 (Sektion „Überbrückung des Unüberbrückbaren“) als vital festgestellte Unterschied zwischen der Würdigkeit einer Handlung(skategorie) und ihrem Getanwerden-Müssen. Wenn imperative Sprachkonstrukte nun üblicherweise dasjenige Konzept ausdrücken, das in dieser Abhandlung mehrfach unter der Bezeichnung des „Angehens“ zur Sprache kam und in diesem das Getanwerden besteht, dann dürfte sich der Befehl „Trink!“ verlustfrei umformulieren lassen mit: „Es ist wichtig, dass du die Handlung des Trinkens angehst.“ Schauen wir uns nun, darauf aufbauend, die folgende Konsekutivkonstruktion an: Es ist wichtig, dass du die Handlung des Trinkens angehst. Also trink! Mit dem speziellen Konzept der Angehung, wie es im Laufe dieses Kontemplariums vorgestellt wurde, im Sinn, wirkt die Konsekutivverknüpfung bemerkenswerterweise nicht mehr so plausibel bzw. natürlich wie die eingangs zur Diskussion gestellte. Wenn diesem Fehlen der Natürlichkeit eine semantische Identität der beiden miteinander verknüpften Sätze zugrunde liegt - und diesen Eindruck kann man hier durchaus bekommen -, ist klar, dass sprachliche Imperativkonstrukte üblicherweise durchaus intelligible Wichtigkeits- oder Würdigkeitszuordnungen repräsentieren. Das Problem schiene nicht nur weitgehend gelöst, sondern auch die zusätzliche Erkenntnis gewonnen, dass zu den Besonderheiten kommunikativer Imperative ihr Abzielen auf Angehung anstelle der bloßen Handlungskategorie gehört. Dementsprechend wieder plausibel bzw. natürlich mutet es an, zu sagen: Es ist wichtig, dass du die Handlung des Trinkens angehst. Also gehe sie an. Denn hier bewertet der Imperativ die Angehung einer Angehung, welche begrifflich noch nicht die Handlung des Trinkens selbst ist.

e) Bewertung bewertend: Eine weitere Erklärung für den Eindruck der objektiven Folgerichtigkeit des Konsekutivanschlusses ist recht vielversprechend. Ihr liegt zum einen die mögliche Auffassung zugrunde, dass der wesentliche Unterschied zwischen einer Wichtigkeitsdeklaration und einem Imperativ in dessen Einbezug des Adressaten als relevanten „Mitspieler“ besteht, ohne dass der Imperativsatz einer korrelat-abbildenden Funktion entbehrt. Zum einen nimmt sie an, dass das abgebildete Korrelat nicht das bloße Tun zum Gegenstand hat, sondern eine Bewertung dieses Tuns. „Tue X“ bedeutet demnach: „Es ist wichtig, dass du X zu tun Wichtigkeit beimisst.“ Tatsächlich zeigt sich bei Voraussetzung einer gewissen, in relevanten Kontexten für Imperative typischen Prämisse die Folgerichtigkeit in: Es ist wichtig, dass du mir den Ring gibst. Also ist es wichtig, dass du der Abgabe des Rings an mich Wichtigkeit beimisst.  Bei der Prämisse handelt es sich um die Voraussetzung, dass ohne die intellektuelle Wertbeimessung kein Akt zustandekommen wird, oder wenigstens die stillschweigende Vereinbarung, dass er ohne sie nicht zustandekommen soll. Ob ein Imperativ ein Korrelat abbildet oder nicht, und welche Art von Korrelat er abbildet, ist somit kontextabhängig, womit zwischen der Welt der Korrelate und der sie abbildenden syntaktischen Konstrukte auf der einen Seite und der Welt der Begriffe und der sie abbildenden Einzelausdrücke auf der anderen Seite unter einem weiteren Aspekt eine Analogie bestünde, nämlich unter dem Aspekt des multikonzeptionellen Ausdrucks. Das Spektrum möglicher Kontexte auf Situationen eingeschränkt, in denen der Befehlssender in seiner Intention oder seiner subjektiven Einstellung einen freien Willensträger als Empfänger adressiert (also eben keine Suggestionen oder Drängungen beabsichtigt), bilden Imperativsätze immer Korrelate ab. Nach dem hier in Betracht gezogenen Modell wären diese lediglich leicht komplexer als man zunächst vielleicht angenommen hätte, denn in ihnen geht es nicht um die Zuordnung von Würdigkeit direkt zu irgendeiner Situation oder Aktion, sondern um die Zuordnung von Würdigkeit zu einer vom Adressaten in Bezug auf die Situation oder Aktion zu vollziehenden Zuordnung von Würdigkeit. Nichtsdestotrotz ist die Folgerichtigkeit freilich keine genuin logische, sondern beruht auf den bekannten Grundimplikationen von Wertbeimessungen. Der konsekutive Anschluss des imperativ formulierten Satzes „b“ an den dieses Korrelat abbildenden Satz erscheint derweil tatsächlich nicht mehr besonders folgerichtig: : Es ist wichtig, dass du der Abgabe des Rings an mich Wichtigkeit beimisst. Also gib mir den Ring.  Ob dies allerdings daran liegt, dass hier eine Rekursion vorliegt, ist allerdings schwer zu sagen, und diese Schwierigkeit hat sicher etwas mit der eben angesprochenen Multifunktionalität von Imperativen zu tun, so dass dem korrelativen Hintergrund des Satzes „b“ einige Diffusität anhaftet. Vielleicht hat es auch etwas mit der Übersichtlichkeit zu tun, die sich verringert, wenn man bedenkt, dass jedes Wichtigsein ein Wichtigersein im Hinblick auf alle mit der betreffenden Aktion in Konflikt stehenden Alternativen ist, wenigstens mit der Alternative, sie zu unterlassen: Dass du mir den Ring zu geben höhere Wichtigkeit beimisst als ihn mir nicht zu geben, ist wichtiger, als dem keine höhere Wichtigkeit beizumessen. Also gib mir den Ring..

Fazit

Die meisten Erklärungsoptionen greifen irgendwie auf irgendeine Wichtigkeits- oder Würdigkeitszuordnung zurück, wobei dies in den Erklärungen „b“ und „c“ am wenigsten oder am wenigsten direkt der Fall ist. Die zum Vorschein kommende Diffusität des korrelativen Hintergrunds von Imperativsätzen scheint allerdings einer Vollkommenheit des Imperativkonzepts als analytischer Fundort des Begriffs von der objektiven Würdigkeit im Wege zu stehen. Mit weitgehender Sicherheit ist es nicht der Fall, dass es ohne diesen Begriff keine kommunikativen Imperative gäbe. Somit hätte jeder anhand der allgemeinen Wirkung kommunikativer Imperative auf ihn individuell zu entscheiden, ob und in welcher der soeben angedachten Ausführungen er den Begriff im Imperativkonzept findet. Dennoch sollte die Tatsache, dass die „also“-Verknüpfung überhaupt möglich ist und so logisch wirkt, weiterhin zu denken geben. Diesbezüglich ist nämlich die Auffassung „d“, welche kommunikative Imperative als Angehungen bewertend auffasst, (vielleicht neben „e“) am vielversprechendsten. Die Folgerung Menschen sind sterblich. Also ist Jesus sterblich. ist ja deswegen logisch stimmig, weil Jesus ontologisch ausschließlich zu den Menschen gehört. In Berufung auf einen derartigen Zugehörigkeitssachverhalt lässt sich die Stimmigkeit der Folgerung Die deinerseitige Abgabe des Ringes an mich ist wichtig. Also ist die deinerseitige Angehung dessen wichtig. problemlos nahelegen, denn die Angehung der Abgabe gehört (in welcher Weise auch immer) gewiss zur Abgabe. Und in der Auffassung „e“ gehört immerhin im Rahmen der Grundimplikationen die Wichtigkeit der Wertzuordnung durch den Adressaten in der Tat zur behaupteten Wichtigkeit des Gegenstands des „a“-Satzes.

Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass uns unsere sprachverarbeitende Kognition lediglich einen Streich spielt. So kann es durchaus sein, dass sich die zu Beginn diskutierte Konsekutivverknüpfung in ihrer strengsten Auslegung der Sprachverarbeitung doch als sinnlos darstellt, woraufhin gerade dies die automatisierte Ebene des Sprachverständnisses dazu veranlassen kann, nachträglich eine alternative Interpretation der im ersten Durchgang als sinnlos empfundenen Aussage zu suchen und ihr die bestmögliche auch fest zuzuordnen, was wohl so schnell und automatisch ablaufen wird, dass im Bewusstsein immer nur die sinnvolle Deutung verbleibt. Wenn wir das wohl doch nicht ganz eindeutige163 Wort „wichtig“ durch das Wort „unabdingbar“ ersetzen, kann einen Moment lang tatsächlich der Eindruck der Sinnlosigkeit entstehen: Dass du mir den Ring gibst, ist unabdingbar, gib mir also den Ring.. Der Deutungsmechanismus ist allerdings so tief verankert, dass hier zu erwarten ist, dass sogar „Unabdingbarkeit“ passend gedeutet wird (wertend statt rein ontologisch/faktual). Menschliche Sprachgewohnheiten lassen hierbei problemlos auf sich berufen, schließlich meint im Alltag mit „unbedingt“ oder „total“ in der Tat selten jemand genau das, was diese Wörter eigentlich bedeuten.

Wer sich jedenfalls Sorgen um das Imperativkonzept als analytische Quelle des Würdigkeitsbegriffs macht, hat reichlich Alternativen. Im Rahmen der konzeptuellen Anamnesis des Eintrags §38 lässt sich der Begriff glücklicherweise mit hinreichender Deutlichkeit gewinnen.

Übrigens: So feststehend die wechselseitige Konvertierbarkeit deklarativer und imperativer Sprachkonstrukte gewesen sein mag und für viele Zwecke in der Tat ist: Falls sich in der problematisierten Verknüpfung (S) tatsächlich eine Nicht-Identität manifestiert, welche die Konvertierbarkeit für eine der beiden entgegengesetzten Richtungen im Vergleich zur anderen als eingeschränkt erweist, würde sich dies nichtsdestotrotz in das Bild der präskriptiven Basis deskriptiver Urteile einfügen (s. Eintrag §36) bzw. ließe sich als Bestätigung hierfür auffassen. Deklarative Sätze gehen immerhin stets mit der Erwartung bzw. stillschweigenden Aufforderung einher, dass der Inhalt geglaubt, sprich: als Faktualkorrelat abgespeichert und bewahrt wird.

Priorität und Priorisierung

[§50] Das Thema der Prioritäten spielt in vielerlei Hinsicht in der Ethik eine große Rolle, zumal ein großer Teil der Entscheidungskonflikte aus Problemen der Priorisierung besteht.

Zunächst gehe es hier um die Betrachtung, ob und inwiefern Priorität und Wichtigkeit ein und dasselbe oder voneinander begrifflich zu differenzieren ist. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Priorität unterscheiden, nämlich zum einen die Priorität in zeitlicher Hinsicht, welche (in höherem Grad) dem zukommt, dessen Verwirklichung derjenigen von Anderem zeitlich vorzuziehen ist. Diese „Zeitpunktpriorität“ könnten wir die temporale oder vertikale Priorität nennen. Zum anderen gibt es eine Art von Priorität, die in ethischen Zusammenhängen eine mindestens genauso vitale Rolle spielt und dennoch merkwürdigerweise selten Erwähnung findet, nämlich die Priorität hinsichtlich des generellen Zuwendungsvolumens, welche dem zukommt, dem sich im Vergleich zu Anderem in höherem Maß oder mit größerer Intensität zuzuwenden ist (weitgehend unabhängig vom zeitlichen Beginn der Zuwendung), je höher diese seine Priorität ist. Diese „Schwerpunktpriorität“ könnten wir als voluminale oder horizontale Priorität bezeichnen.

Sozusagen zur Trivialbildung gehört das zu den üblichen Techniken des Zeitmanagements gehörende, sogenannte Eisenhower-Prinzip. Diesem zufolge sind die vielen Aufgaben, die auf einem gewöhnlich lasten, zur zeiteffizienten Abarbeitung in vier Kategorien mit jeweils eigenen Vorgehensweisen einzuteilen, nämlich in die Kategorien des:

Hier drängt sich die Frage auf, ob es wirklich Dringendes geben kann, das nicht wichtig ist, denn woher soll etwas seine Dringlichkeit beziehen, wenn nicht von irgendeiner Form von Wichtigkeit? Strenggenommen gibt es keine wirklich dringenden Aufgaben, die nicht in irgendeiner Hinsicht ein Mindestmaß an Wichtigkeit besitzen. Für betriebswirtschaftliche oder Zwecke des Projektmanagements mag man die beiden Begriffe anhand des Kriteriums der Essentialität und Vitalität für die Gesamtunternehmung voneinander unterscheiden, so dass z.B. die  Bearbeitung der den Fortbestand des Unternehmens bedrohenden Beschwerde des größten Abnehmers und Stammkunden als wichtig und die  Anfrage eines sporadisch interessierten, jetzt um Eile bittenden Kleinkunden nur als dringend klassifiziert wird. In der Praxis dürfte der Übergang zwischen so definierter Wichtigkeit und Dringlichkeit nicht nur recht fließend sein; es lässt sich darüber hinaus auch die Frage stellen, ob für die Ethik diese Einteilung in einem vergleichbaren Maße Relevanz besitzt. Denn ethisch ist ja etwas objektiv und in jeder Hinsicht völlig Unwichtiges niemals dringend, so dass es für die Feststellbarkeit seiner Dringlichkeit wenigstens ein geringes Maß an Wichtigkeit besitzten sollte. Wenn dann noch eine zeitlich stark begrenzte Erfüllbarkeit einer solchen Aufgabe hinzutritt, lässt sich von einer dringenden Aufgabe reden. Ob es bei ethischen Pflichten des Menschen Wichtiges ohne die geringste Dringlichkeit geben kann, ist angesichts der zeitlichen Begrenztheit des menschlichen Lebens ebenfalls fraglich. - Das Vernünftigste ist offensichtlich, das sogenannte Unwichtige als das im Vergleich zu der jeweils konkurrierenden Aufgabe lediglich weniger Wichtige und das Dringende als das weniger Dringende anzusehen.

Und ethiktheoretisch definieren lässt sich das Dringliche als die Handlung, die auszuführen durchaus (und sei es auch nur geringfügig) wichtig ist, deren Ausführung aber nur innerhalb eines sehr begrenzten, sich direkt an den aktuellen Moment anschließenden Zeitrahmens möglich ist.

Außerdem ist es nicht immer und nicht jedem möglich, eine Aufgabe zu delegieren, so dass sich die Frage der Reihenfolge und Terminbestimmung auch hier stellen kann. Durch die bloße Möglichkeit, neben der temporalen die voluminale Priorität in den Fokus zu rücken, wird die Frage nach der temporalen Priorität nämlich nicht irrelevant; Konfliktsituationen, die nur durch temporale Priorisierung zu bewältigen sind, können nichtsdestotrotz vorkommen.

Wenn A nun eine hochwichtige Aufgabe ist, deren Erfüllung 24 Stunden beansprucht, sich aber aller Voraussicht nach ohne Erschwernisse und negative Folgen auf übermorgen verschieben lässt, und B eine 90-minütige, nicht delegierbare Aufgabe mit nur einem Zehntel der Wichtigkeit von A und einer in zwei Stunden eintretenden Deadline, dann hat B ganz offensichtlich trotz seiner deutlich geringeren Wichtigkeit zuerst erledigt zu werden (soweit dies die Ressourcen zur Erledigung von A nicht zu sehr verbraucht). A ist wichtiger, dennoch hat B eine höhere temporale und für den Rahmen der nächsten zwei Stunden auch eine höhere voluminale Priorität. Dies ist intuitiv erkennbar, doch was genau ist der Grund hierfür? Die Auffindung des Grundes erfordert kein allzu langes Nachdenken: Ohne die abschließende Erledigung von B der abschließenden Erledigung von A zeitlich vorzuziehen beraubt man sich der Möglichkeit, beide Aufgaben zu erledigen und wählt damit die Schlechtere von zwei Möglichkeiten. Im Falle der ethischen Relevanz dieser Wahl macht man sich schuldig.

Was zumindest ihren temporalen Aspekt betrifft, besitzt also stets diejenige Aufgabe die höchste Priorität, die, wenn man sie zuerst erledigt, man so am ehesten in der Lage ist, alle wichtigen Aufgaben zu erledigen oder zumindest alle diejenigen Aufgaben zu erledigen, denen in summa die höchste Wichtigkeit zukommt.

Wie sieht aber die temporale Priorisierung zwischen zwei unterschiedlich wichtigen Wichtigkeiten (S) aus, von denen keine speziell für sich fristbehaftet ist? Muss es hier überhaupt eine Priorisierung geben, wo doch scheinbar keine Dringlichkeit vorliegt? Auch hier muss eine der beiden, wenn eine gleichzeitige Erledigung nicht möglich ist, die höhere temporale Priorität erhalten, auch wenn von der Reihenfolge nicht eindeutig abhängt, ob und wie gut man beides erledigen kann, und zwar die wichtigere. Diese muss zuerst getan werden, da man aufgrund der Begrenztheit der Lebenszeit und der Unkenntnis über den Zeitpunkt des Lebensendes keine Gewissheit darüber haben kann, ob man zur jeweils zweiten Sache noch die Gelegenheit haben wird. Sei die Wahrscheinlichkeit dieses Worst Case noch so gering: Aufgrund der Zweifellosigkeit der zeitlichen Begrenzung des Lebens ist das Risiko, das insgesamt weniger Wichtige zu erledigen, bei der einen Reihenfolge stets größer als bei der anderen. Allein dies, und nicht wie geringfügig der Risikounterschied ist, ist zur Verurteilung einer der beiden Reihenfolgen als ethisch inakzeptabel ausschlaggebend, zumal eine intermediäre Urteilsstufe des bloß Empfehlenswerten in einer apriorischen Ethik nicht existiert (s. Eintrag §32). Für das vergängliche Vernunftwesen geht es idealerweise also stets darum, in seinem Leben das ihm in der Summe wichtigste Mögliche zu vollbringen.

Dass für uns letztlich jede Aufgabe mindestens die Deadline des Lebens hat und der Tod in jedem Fall kurz bevorstehen könnte, gefährdet aber nicht unsere davor getroffene Feststellung, dass manchmal aufgrund von Dringlichkeit doch weniger Wichtiges priorisiert werden muss. Diese allgemeine Deadline hat nicht zur Folge, dass immer und prinzipiell das Wichtigere temporal-priorisiert zu werden hat. Denn erstens müssen Wahrscheinlichkeitsabwägungen einfließen, d.h. es ist diejenige Reihenfolge der Handlungen zu wählen, die aus empirischen Gründen am wahrscheinlichsten zur Realisierung des in der resultativen Summe wichtigsten Möglichen führt. Wenn man mit hoher Gewissheit nur noch eine Stunde zu leben hat und eine extrem dringende Sache ansteht, die nicht die wichtigste ist, sollte man sie zwar womöglich lieber vorerst ignorieren und das Wichtigste angehen, soweit nicht beides gleichzeitig möglich ist (z.B. Begleichung geringfügiger Schulden mit kurz bevorstehendem Fristablauf versus Versöhnung mit den Eltern). Gibt es aber keinerlei Anzeichen für ein kurz bevorstehendes Lebensende oder eine analog wirksame Begrenzung der Handlungsfähigkeit, greift wieder das Kriterium der speziellen Deadline(s). Zweitens sollte nicht die Rolle vergessen werden, welche der Absicht zukommt: Der Wert der Wahl der Reihenfolge ist allenfalls gering, wenn die dringendere, aber zweitrangige Sache nur aus Lust auf sie vorgezogen wird - dies wäre ein Vergehen gegen das Wichtigere. Folglich muss bei der Wahl der Reihenfolge beabsichtigt sein, das in der Summe Wichtigstmögliche zu tun; dann ist die Inangriffnahme des Sekundären zugleich eine Inangriffnahme aller Elemente der gewählten Reihenfolge einschließlich des Primären.

Als Resultat lässt sich u.a. festhalten:

Zur Untermauerung der Nicht-Identität der Begriffe der Wichtigkeit und der Priorität sei zu bedenken, dass Priorität ja bedeutet, die betreffende Sache zeitlich oder voluminal vorzuziehen, müsse sein (habe Wichtigkeit). Dies steht im offensichtlichen Unterschied dazu, dass man die Sache allgemein tun muss. Zudem sieht man daran, dass der Begriff der Priorität vom Begriff der Wichtigkeit abhängig ist, umgekehrt aber ist der Begriff der Wichtigkeit nicht vom Begriff der Priorität abhängig.

Das Imperativcharakteristikum mit dem Begriff der Priorität zu identifizieren, ist abzulehnen, denn wenn Priorität zu haben „Tue dies ‚zuerst’“ bedeutet, enthielte dies mit einem solchen Imperativcharakteristikum in sich wiederum Priorität („Es ‚zuerst’ tun musst du ‚zuerst’ tun“), was offensichtlich bestenfalls einen infiniten Regress impliziert, wenn nicht schlicht sinnlos ist.

Gleichwohl geht die Relevanz der Inbetrachtziehung der Priorität in den Kontemplationen zum Imperativcharakteristikum nicht völlig verloren, zumal:

Die Essenz des Bösen und sein Ursprung

[§51] Auf der Suche nach der Essenz des Bösen und seinem Ursprung bietet sich die Annahme an, das Böse bestehe im Wesentlichen in nichts Anderem als darin, auf der transzendentalen Ebene der eigenen Person dem unbestimmten bzw. absolut-abstrakten Würdigen gegenüber zu viel Wert beizumessen, bzw. sie auf jener Ebene basislos vorgezogen zu haben. Ja es könne im Grunde nur zwei Urwertbeimessungen geben, entweder eine das abstrakte Würdige oder eine die eigene Selbstheit bevorzugende, und je nach dem, was von Beidem der Fall sei, erwachse daraus eine Kaskade des Guten oder eine Kaskade des Bösen. Das erscheint zunächst insofern plausibel, als a) die fundamentale Rolle der Urwertbeimessung für uns mittlerweile feststeht, b) eine Wertbeimessung stets eine für etwas gegenüber Anderem ist, c) eine Urwertbeimessung wohl als nahezu oder voll vorempirisch aufzufassen ist und hierdurch als Gegenstand einer solchen nicht Vieles in Frage kommt (das Ich, das unspezifizierte Andere). Bezeichnet man eine derartige unberechtigte, weil basislose Selbstbevorzugung als Selbstliebe, kann man sich bei der obigen Annahme in prominenter moralphilosophischer Gesellschaft mit Kant wähnen, für den die Selbstliebe [...], als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist..164

Problematisch daran ist aber, dass angesichts der mannigfaltigen offiziellen und privaten Ideologien in dieser Welt anscheinend feststeht, dass sich die transzendentalen, wertmäßigen Absolutsetzungen des Menschen durchaus auch auf Gegenstände beziehen zu können scheinen, die weder das abstrakte Würdige noch die eigene Selbstheit sind, seien es nun Idealisierungen wie „Freiheit“, oder „die eigene Nation“, oder Anderes. Mitunter sind ideologische Fanatiker bekanntlich oftmals bereit, Idealen, die eben keine typischen Gegenstände von Neigungen oder Nutzinteressen sind, ihre Selbstheit unterzuordnen und diese um ihretwillen sogar zu opfern. Bei diesen Absolutwerten handelt es sich häufig um ziemlich Lächerliches oder gar offensichtlich nichts, dessen Wert sich von irgendetwas Würdigem ableiten kann. Zur Erklärung hätten wir den Verdacht haben können, dass in solchen Fällen schlicht die transzendentale Selbstliebe zu einer um des eigenen Selbstes willen erfolgten späteren intellektualen Wertschätzung der später kennengelernten problematischen Konzepte oder Gegenstände geführt habe, weil ihre Heiligung irgendwie als von der Heiligung des eigenen Selbstes untrennbar erkannt bzw. gewähnt worden sei (z.B. die der eigenen Nation, weil man ihr angehört, oder die der Vorahnen, weil man ihr Nachkomme ist etc.). Doch die Bereitwilligkeit Vieler, sich um ihres Ideals willen selbst zu vergessen oder gar zu opfern, will nicht zu der Annahme passen, dass die Wahl jenes Ideals einfach nur aufgrund der Selbstwertschätzung gewählt wurde.

Dafür bieten sich hier wohl nur zwei Lösungsmöglichkeiten:

Entweder es stimmt, dass sich in der Urwertbeimessung zwischen genau zwei Optionen entschieden werden kann, von denen die eine sich auf das eigene Selbst bezieht, dessen Wertschätzung ab einer gewissen Höhe unweigerlich eine solch extreme Unterbewertung der Vernunft und im Zuge dessen eine solche Irrationalität zur Folge hat, dass die regellose Ersetzung des eigenen Selbst durch ein Ideal trotz der nur um des eigenen Selbst willen erfolgten Erhebung desselben zu einem solchen nicht auszuschließen ist.

Oder es stimmt, dass man sich in der Urwertbeimessung nur zum Würdigen und nichts Anderem bekennen kann (bzw. zum Würdigen und alternativ zu Sonstigem, ohne die Selbstheit als konkrete Alternative), dafür aber im Maß der Wertschätzung desselben frei ist. Misst das Subjekt ihm den höchstmöglichen Wert bei und verfügt über eine vollkommene conditio humana, erwirbt es infolgedessen ein ideales Wertegebilde, ein ethisch optimales Neigungsgefüge und einen idealen Lebenswandel. Je weiter aber das Maß vom höchstmöglichen entfernt ist, desto größer ist der Anteil der Neigungen, die nicht in der Ausrichtung auf das Würdige wurzeln, und somit größer die Wahrscheinlichkeit bzw. häufiger die Situationen, in denen das Subjekt ein Spielball solcher Neigungen ist, und zwar auch in der intellektgestützten Wahl seiner Werte und Ideale. Bei diesem ist es umso häufiger der Fall, dass seine intellektgestützten Bewertungen Neigungen entspringen, denen wiederum bloße Natur zugrunde liegt, abweichend vom Idealzustand, in welchem eine intellektuelle Bewertung nie in einer Neigung wurzelt, und selbst wenn es so wäre, dann nur in einer solchen, die wenigstens ihrerseits eine transzendentale Wertbeimessung reflektiert. Welche Ideale aus einem Urwertbeimessungsdefizit im Einzelnen hervorgehen, ist dann zum großen Teil naturabhängig und somit sozusagen eine Sache des Zufalls, sei es nun die eigene Selbstheit, die Gesellschaft, die Freiheit oder irgendwelche ideellen oder materiellen Götzen.

Zur Einheit des Wertbegriffs

[§52] Aus der scheinbaren Vielfalt der Begriffe des transzendentalen, des emotionalen, des utilitären und des sinnlichen Werts sollte nicht voreilig geschlossen werden, dass es im Grunde (!) mehr als einen einzigen relevanten ontischen Wertbegriff gibt. Es ist fraglich, ob es einen ausreichenden Grund dafür gibt, von einem elementaren Begriff der „Würdigkeit“ und einem davon völlig verschiedenen u.U. elementaren Begriff des „Wertes“ auszugehen, so wenig diese These gewisser Anhaltspunkte entbehrt (s. §101). Vielmehr ist nämlich mindestens denkbar, dass in all jenen Wertbegriffen, sei es derjenige des transzendentalen, derjenige des emotionalen, derjenige des utilitären oder derjenige des sinnlichen Wertes, ein und derselbe ontische Wertbegriff die begriffliche Achse bildet und der Eindruck der Verschiedenheit lediglich auf eine gewisse Kontextspezifizität zurückgeht, d.h. dass da zwar durchaus vier (?) verschiedene Begriffe sind, die aber allesamt ein Kernelement gemeinsam haben, das allein für das Wertsein wesentlich ist, und von dem sie lediglich (hybrid-)kontextuelle Varianten sind. Dieser Kern ist entweder mit dem üblichen Begriff der Würdigkeit identisch, der somit auch in seiner Üblichkeit elementar wäre, oder tritt aber in der Sprache nie mit einem eigenen, eindeutigen Wort auf, so dass er sich mit den ontisch-kombinativen Wertbegriffen eines oder mehr ihrer Wörter teilt oder überhaupt keinem Wort anhaftet. Letzteres würde bedeuten, dass weder der übliche Begriff der Würdigkeit (wie schon in §1 vermutet) noch derjenige des Wertes dem üblichen Sprachgebrauch nach völlig elementar wären.

Derweil repräsentierten die kontextuellen Begriffe den Wert (im Sinne des Kernelements) unter dem Aspekt der Sache, um deretwillen er beigemessen wird/wurde. Sinnlicher Wert unterschiede sich demnach von Würdigkeit und sonstigem Wert nur darin, dass er einem Gegenstand um der eigenen (sinnlichen) Wohlseligkeit willen beigemessen wird oder wurde, also nicht im essentiellen Kern, sondern nur im konditionalen Kontext.

Dies liefert einen guten Ansatz zur Erklärung, warum es zuweilen so befremdlich ist, Würdigkeit und Wert miteinander zu identifizieren, warum die Rede von „Wert“ ohne Spezifikation von „Würdigkeit“ so verschieden und doch so ähnlich anmutet (abgesehen von der etymologischen Verwandtschaft): Wert allgemein ist dem üblichen Sprachgebrauch des Ausdrucks nach eher etwas, das vom Subjekt ultimativ um des maximalen Wohls (Wohlseligkeit oder Handlungspotential) der eigenen Person willen beigemessen wird, und Würdigkeit ist „Wert“, den es nicht um des Wohls der eigenen Person willen beimisst (wenn bei ihm nicht einfach offen ist, um welcher Sache oder wessentwillen, und ob überhaupt um irgendeiner Sache willen das Subjekt ihn beimisst). Die beiden Ausdrücke würden gewissermaßen unter sich diese beiden konditional-kontextuellen Bereiche der Wertbeimessung präzise und überlappungsfrei unter sich aufteilen. (Derweil hängen die Grundimplikationen keinem Begriff, auch nicht dem namenlosen Kern der Wertbegriffe, sondern einer bestimmten Art von Wertbeimessung an, nämlich derjenigen der emotionalen Wertschätzung.)

Intellektmanipulation versus Intellektualprojektion

Hieran schließt sich die Frage an, wie es dann aber sein kann, wenn sinnlicher Wert kernbegrifflich mit Würdigkeit - einem Begriff des Intellekts - identisch ist, dass z.B. im Zuge der Wirkungen von Neigungen Wert scheinbar automatisch zugeordnet wird bzw. natural vorprogrammiert ist, während man für andere Wertbeimessungen als verantwortlich einzustufen ist? Müsste er nicht immer willentlich zugeordnet werden, anstatt dass er mit sinnlichen Dingen häufig von vornherein einhergeht (z.B. eine schöne Blume schon bei ihrem ersten Anblick)? Wenn er in letzter Konsequenz nur um der eigenen Wohlseligkeit willen zugeordnet wird, wie kann es sein, dass solcher Wert scheinbar automatisch zugeordnet wird bzw. natural vorprogrammiert ist, so dass gleichwie wohlausgerichtet ein Individuum ethisch sein mag, innerlich und in den meisten alltäglichen Handlungen voller falscher finaler Wertträger wäre? Bzw.: Müsste ein ethisch optimal ausgerichteter Mensch nicht unfähig sein, in irgendetwas einen sinnlichen Wert zu sehen, was zur Unfähigkeit des Erlebens eines Geschmacks als angenehm oder zumindest zur Unfähigkeit zum Appetit auf irgendetwas Sinnliches führen müsste?

Die eine Perspektive wäre hier, dass die Zuordnungen des sinnlichen Wertes tatsächlich nicht auf den Akteur als willensfähiges Subjekt zurückgehen, sondern sein sozusagen seelenloses Neigungensystem kraft eines Zugriffs, den es auf den intellektuellen Wertbegriff hat, diesen am Subjekt vorbei verschiedenen Dingen zuordnet, ähnlich wie im Zustand der Trunkenheit das physische System Teile der Denkprozesse des Subjekts seiner Kontrolle entzieht. In dieser Perspektive ist der rohe Mensch in seiner Begegnung mit der materiellen Welt unter dem Eindruck ihrer Erscheinungen stets in einem mit der Trunkenheit oder einem Traum vergleichbaren Zustand. Das optimal ausgerichtete Subjekt mag in sich eine Menge falscher Wertzuordnungen (S) (Wertungskorrelate) vorfinden, hat diese aber nicht selbst vorgenommen, und erst recht nicht unbedingt ultimativ (final) um der eigenen Wohlseligkeit willen (d.h. mit dieser als finalem Wertträger). Zu dieser Perspektive passen würde eine alternative Konzeptologie, derzufolge sinnlicher Wert nicht in erster Linie bloß derjenige Wert ist, der um des eigenen Wohles willen zugeordnet wird, sondern der als sinnlichen Gegenständen anhaftend wahrgenommen wird, während seine Zuordnung lediglich nicht auf die primäre Selbstheit zurückzuführen ist (eine dezidierte Bezugnahme auf die sekundäre Selbstheit oder die innere Automatik in diesem Wertbegriff ist nicht notwendig), d.h. außerhalb ihrer Kontrolle erfolgt ist.

Die andere Perspektive ist, dass es etwas anderem als allein der primären Selbstheit entspringende Beimessung sinnlichen Werts, ja womöglich sinnlichen Wert allgemein, strenggenommen gar nicht gibt, sondern wir das Verhältnis des Neigungensystems zu den sinnlichen Gegenständen, das Konzept unserer intellektuellen Wertbeimessungen auf das Verhältnis projizierend, im Nachhinein lediglich so interpretieren, als hätte das Neigungensystem (oberflächlich betrachtet: wir) irgendwelchen Gegenständen Wert beigemessen. Solche Projektionen finden sehr häufig statt, z.B. wenn wir meinen, Blut hätte für Mücken einen großen Wert, obwohl wir nicht sicher davon ausgehen können, dass Mücken überhaupt irgendeinen Begriff von etwas, geschweige denn einen Wertbegriff haben. Projektionen dieser Art dienen lediglich dazu, gewisse Phänomene intellektuell,  mnemonisch und/oder pragmatisch handhabbar zu machen, wie z.B. wenn wir uns auf Computer oder Programme (auch unabhängig von KI) mental (nicht bloß sprachlich-metaphorisch) so beziehen, als ob sie irgendetwas „meinen“ oder „denken“, oder auf Fahrzeuge, als ob sie irgendetwas „wollen“ könnten („Das Auto wollte erst beim dritten Versuch anspringen.“), oder ein Virologe einem bestimmten Virus „Erfolg“ bescheinigt, oder vor Mutationen warnt, die dem Virus zum „Vorteil“ gereichen könnten, oder über diese eigentlich als leblos klassifizierte Entität konstatiert, sie „wolle“ existieren oder sich durchsetzen, oder sie hätte ein größeres „Interesse“ an der schieren Existenz als an der Tötung ihrer Wirte.

Sinnlicher Wert, wie auch utilitärer Wert, ist jedenfalls lediglich Wert, der in einer sinnlichen bzw. utilitären Wertschätzung einem Gegenstand beigemessen wird; emotionaler Wert ist einfach Wert, der in einer emotionalen Wertschätzung beigemessen wird; transzendentaler Wert ist schlicht Wert, der in einer transzendentalen bzw. intellektuellen Wertschätzung beigemessen wird. - Zum Wesen dieser Arten der Wertschätzung wiederum ließe sich, von der eben betrachteten zweiten Perspektive ausgehend, sodann sagen: Eine sinnliche165 Wertschätzung ist in Wirklichkeit bloß eine natural und genetisch bedingte Inklination mit vorübergehend und oberflächlichen Wirkungen (überwiegend nur bei Wahrnehmung des sinnlich wertgeschätzten Objekts auf den jeweils augenblicklichen Zustand des Wertschätzenden) und ansonsten eine intellektuell superspektive oder retrospektive Projektion; sie zieht die Grundimplikationen nicht oder nur beschränkt nach sich. Emotionale Wertschätzungen sind in vielen Fällen in Wirklichkeit eine natural, aber weniger genetisch als eher durch langfristige Einflüsse des (egal ob selbst gewählten oder unfreiwillig entstandenen) Umfelds (z.B. Familie, Gesellschaft, Heimat), der Umstände und der Lebensgeschichte, in anderen Fällen stattdessen jedoch durch starke intellektuelle Wertschätzungen bedingte Inklination, die sich in allen Fällen in die Faktoren einreiht, auf welchen das psychische Gleichgewicht eines Individuums fußt,166 mit langfristigen und oft tiefgreifenden Wirkungen; über diese Wirklichkeit hinaus ist wohl auch die emotionale Wertschätzung zunächst nur eine intellektuell superspektive oder retrospektive Projektion; sie ist es, deren Zustandekommen die Grundimplikationen kaskadisch und breit nach sich zieht167. Intellektuale Wertschätzungen sind die natural und genetisch unabhängige Konstruktion und Speicherung des epistemischen Korrelats einer Wertzuordnung; diese besitzt die Grundimplikationen nicht direkt, aber doch insofern, als sie sich, so sie stark genug ist, früher oder später in emotionalen Wertbeimessungen und ihren Grundimplikationen niederschlägt. Transzendentale Wertschätzungen sind mit intellektualen entweder identisch oder eine metaphysische, in der Ichsubstanz wurzelnde Realität, die sich in ihnen manifestiert.

Lexikologische Herausforderung der begrifflichen Einheit

Eine lexikologische Untersuchung des Ausdrucks „Wert“, wie sich im Appendix zeigt, könnte jedoch Einwände gegen eine Einheit der Begriffe des Wertes und der Würdigkeit liefern:

  1. Semantische bzw. implikatorische Differenz zwischen den Adjektiven „wert(voll)“ und „würdig“, besonders in Komposita, wobei ersteres irgendeinen Vorteil assoziiert, zweiteres hingegen nicht
  2. Intoleranz der Beimessung von Würdigkeit gegen jegliche Enthaltung von den aktionalen Konsequenzen, die infolge der Beimessung erforderlich werden, während die Beimessung „bloßen Wertes“ eine gewisse Freiheit zu belassen scheint
  3. In einer Sache Wert zu sehen veranlasst das Akteursystem natürlicherweise zur Bemühung um sie, während den angemessenen aktionalen Konsequenzen der Annahme von Würdigkeit häufig die Trägheit, mitunter bis zur Verhinderung, im Weg steht.
  4. Der Eindruck von einer Sache, dass sie nützlich oder der Wohlseligkeit dienlich sei, zieht automatisch ihre Einstufung durch uns als wertvoll nach sich. Eine solche Automatik lässt die Souveränität vermissen, welche mit der Beurteilung von etwas als würdig assoziiert wird.
  5. Wirtschaftskontextueller Ursprung des Wertlexems
  6. Wert wird festgestellt, Würdigkeit muss festgestellt werden. Erkennt jemand den Wert einer Sache nicht, erscheint er dumm, erkennt er ihre Würdigkeit nicht (an), erscheint er ungesittet.

In der Tat erscheinen die Einwände nicht unangebracht. Denn wenn uns eine Person mitteilt, an einem bestimmten Ort befände sich eine frei zugängliche, enorm wertvolle Sache und wir ihr Glauben schenken, ist einer unserer ersten Gedanken: Wenn ich auf eine bestimmte Weise auf die Sache Bezug nehme bzw. bestimmte praktische Kriterien erfülle (zu ihr hingehen, sie an mich nehmen, sie vielleicht zum Verkauf anbieten), wird mir die Sache etwas bringen, indem sie meinen Inklinationen entgegenkommt. Wenn die Person uns aber mitteilt, da sei eine hochwürdige Sache und wir ihr Glauben schenken, lautet hingegen der Gedanke: Wenn ich nicht etwas bringe, indem ich meinen Inklinationen (mindestens den sich im Geiz mit energetischen oder zeitlichen Ressourcen manifestierenden) trotze, gerät meine Haltung in einen Widerspruch zu der Würdigkeit der Sache.

Das antithetische Verhältnis der beiden Sachverhalte sei durch logisch-formale Anpassungen stärker hervorgehoben:

  1. Bei „wertvoll“:
    Wenn ich auf eine bestimmte Weise auf die Sache Bezug nehme bzw. bestimmte praktische Kriterien erfülle, dann, und nur dann, wird mir die Sache etwas bringen, indem sie meinen Inklinationen entgegenkommt.

  2. Bei „würdig“:
    Wenn ich etwas bringe, indem ich meinen Inklinationen trotze, dann, und nur dann, wird sich meine Haltung im Einklang zu der Würdigkeit der Sache befinden.

Noch etwas deutlicher, samt einer vermutlich nötigen, die Inklinationen betreffenden Präzisierung:

  1. Bei „wertvoll“:
    Wenn ich in Bezug auf die Sache eine bestimmte Haltung einnehme, dann, und nur dann, wird mir die Sache etwas bringen, indem sie einem Teil meiner Inklinationen entgegenkommt.

  2. Bei „würdig“:
    Wenn ich etwas bringe, indem ich mich einem Teil meiner Inklinationen verweigere, dann, und nur dann, wird sich meine Haltung in Bezug auf die Sache im Einklang zu ihrer Würdigkeit befinden.

In der nächsten Stufe seien die beiden Gedanken so interpretiert und formuliert, dass das gegensätzliche Element brennpunktartig fokussiert wird; dabei zeigt sich die Möglichkeit, umso mehr Gemeinsamkeiten zu sehen. Die Interpretation kann sich hinsichtlich ihrer Berechtigung mitunter darauf berufen, dass auch die Inbesitznahme und die Verwertung des als wertvoll bezeichneten Gegenstands mit Aufwänden verbunden sind, die zu betreiben einem Teil der Inklinationen zuwiderläuft, wie auch die gerechte Haltung zu etwas Würdigem bloß einem Teil der Inklinationen zuwiderläuft, was bei „Wertvollem“ nur deswegen den Anschein hat, keine Rolle zu spielen, weil beim Gedanken an die als den Inklinationen zuarbeitend angenommenen Eigenschaften des Gegenstands die Wirkung der hinderlichen Inklinationen durch diejenige anderer Inklinationen abgeschwächt wird, so dass man sich als Adressat und potentieller Akteur darauf verlässt, dass die Aufgabe der Überwindung der hinderlichen Inklinationen von der inneren Automatik übernommen werden wird und ihnen daher weniger oder gar keine Beachtung schenkt. Die Gegenüberstellung wäre folgendergestalt:

  1. Bei „wertvoll“:
    Es gibt in Bezug auf die Sache etwas, durch das, wenn ich es erbringe, und sei es, falls nötig, indem ich mich einem Teil meiner Inklinationen verweigere oder ihn ignoriere, sich dann, und nur dann, meine Haltung im Einklang zur Würdigkeit meines maximalen Wohls befinden/verbleiben wird.

  2. Bei „würdig“:
    Es gibt in Bezug auf die Sache etwas, durch das, wenn ich es erbringe, und sei es, falls nötig, indem ich mich einem Teil meiner Inklinationen verweigere oder ihn ignoriere, sich dann, und nur dann, meine Haltung im Einklang zur Würdigkeit der Sache befinden/verbleiben wird.

Zumindest in dieser Interpretation erscheinen die beiden Gedanken bei aller Schärfe des Gegensatzes gar nicht mehr so unterschiedlich...

Resultierende Erklärung

Jedenfalls würde hierzu passen, im dem Adjektiv des Wertvollen primär anhaftenden Begriff den Begriff desjenigen zu sehen, was aufgrund der Würdigkeit des maximalen Wohls Würdigkeit besitzt. Hiervon ausgehend wäre klar, dass wenn wir jenem Hinweisgeber, der einen angeblichen Wert eines Gegenstandes mitteilt, Glauben schenken, wir eine Schlussfolgerung anstellen, welche eine (lediglich) externe, deskriptive Implikation168 des Begriffs konstituiert und darauf beruht, dass wir nichts kennen und uns dementsprechend auch nichts vorstellen können, was aufgrund der Würdigkeit des maximalen Wohls Würdigkeit besitzt, ohne dass es selbst für das Wohl vorteilhaft ist (wobei dieser Sachverhalt tiefenstrukturell nicht unbedingt selbstverständlich ist): Wenn der Gegenstand wirklich aufgrund der Würdigkeit des maximalen Wohls Würdigkeit besitzt, wird mit ihm tatsächlich eine Erhöhung oder Bewahrung des Wohls einhergehen. Bzw.: Der Hinweisgeber, soweit sein Intellekt intakt ist, wird ein solches Urteil sicher nicht gefällt haben, ohne von einem tatsächlichen Vorteil des Gegenstandes für das Wohl Wissen zu haben.

Auf dieser Grundlage könnten sich nun die in den Einwänden oder einem Teil von ihnen problematisierten Phänomene erklären lassen. Genauer eingegrenzt und benannt lautet die besagte Grundlage: Dem Würdigkeitslexem, genauer gesagt, seinem primären Begriff fehlt die externe, deskriptive Implikation der tatsächlichen Vorteilhaftigkeit. Somit fehlt ihm im Unterschied zum Wert-Würdigkeitsbegriff dasjenige, was den Aufwand, dessen Würdigkeit miterkannt wird, oder zu dessen Betreibung im Angesicht von Würdigem man konditioniert ist, potentiell zu kompensieren verspricht. Derweil steht beim als „wertvoll“ Bezeichneten nicht nur eine Kompensation des Aufwands in Aussicht, sondern ein Gewinn, so dass die assoziierte sinnliche Negativität des Aufwands kognitiv zunächst völlig hinter der sinnlichen Positivität von Kompensation und Gewinn verschwindet.

Falls der Einwand bezüglich der „Feststellbarkeit“ von Wert sich über einen ebenfalls existierenden, rein deskriptiven Wertbegriff (s. Eintrag §57) hinaus überhaupt auf einen/den genuin normativen Wertbegriff ausweiten lässt und jene nicht nur ein von seiner Existenz herrührender Anschein ist, ist auch die folgende Sichtweise möglich: Wenn wir sagen, jemand habe den Wert eines Gegenstandes „festgestellt“, dann bedeutet das möglicherweise, er habe seinen Nutzen festgestellt und ihm infolgedessen automatisch einen Wert beigemessen, den ihm jede über den Gegenstand und seine Eigenschaften hinreichend informierte, intakte und intellektbegabte Psyche beimessen würde, und diesen (von ihm selbst beigemessenen) Wert daraufhin wahrgenommen. Dabei läge dieser Bedeutung eine Intellektualprojektion des Wertes zugrunde, die Wertbeimessung wäre in Wirklichkeit lediglich eine inklinative Ausrichtung auf den Gegenstand.

Auch ohne diese Sichtweise ist es recht natürlich, dass „Wert“ scheinbar eher festgestellt wird und „Würdigkeit“ eher anerkannt werden muss: Wenn Wert auf der Würdigkeit individuellen Wohls basierende Würdigkeit ist, ist zu ihrer Anerkennung eine fehlerfreie, teils komplexe Anwendung deskriptiver Urteilsprinzipien Voraussetzung (z.B. um etwas als funktionierendes Mittel zu erkennen), während bei sonstiger Würdigkeit solches im Verhältnis viel seltener der Fall ist und u.U. schon eine simple assoziative Nähe genügt, um die Beimessung von Würdigkeit erforderlich zu machen. In Bezug auf jenen Wertbegriff fällt bei unausreichender Wertbeimessung es leicht, ihre Insuffizienz auf ein typisch menschliches Defizit des deskriptiven Urteilsvermögens des verantwortlichen Individuums zurückzuführen, während bei unausreichender Beimessung sonstiger Würdigkeit ein Defizit in der sonstigen Natur unterstellt werden müsste, um das Individuum zu entschuldigen, was ungleich schwerer fällt, wenn die Person im Großen und Ganzen „normal“ zu sein scheint. Allgemeine Würdigkeit tendiert dazu, sich dem Individuum subjektiv viel unmittelbarer zu präsentieren, so dass sie viel weniger etwas zu sein scheint, was während eines Denkprozesses so lange in Flucht- und Querfeldeinbewegungen mal fern, mal nahe ist, bis es zum Ende des Prozesses festgenagelt und -gestellt ist. Prinzipiell kann im selben Sinn wie dem des „Wertes“ aber auch Würdigkeit „festgestellt“ werden.

Übrigens sollte man nicht meinen, dass ein Begriff des aufgrund der Würdigkeit des individuellen Wohls Würdigkeit Besitzenden als mit dem Wertlexem am engsten verknüpfter Begriff dieses wegen des utilitären Bezugs nur für utilitaristische oder hedonistische Ethiken passend, in das Vokabular der apriorisch-idealen Ethik aber unpassend mache. Denn der Begriff enthält nicht die Einstufung des Wohls als an sich und unabgeleitet würdig. Da ohne Handlungspotential die Ziele keiner Ethik erreichbar sind, muss zumindest utilitäre Vorteilhaftigkeit in jeder Ethik als würdig gelten, so auch in der apriorisch-idealen Ethik. In diesem Lichte ist es nicht verwunderlich, dass das Wertlexem in mannigfaltigen Kontexten und jeder Ethik zur Anwendung kommt, und dass alles, was einem „höheren“ Ziel zuträglich ist und mithin demjenigen, der es verfolgt, einen Vorteil beschert in seiner Bemühung, es zu erreichen, als wertvoll bezeichnet werden kann, sei es eine als „pädagogisch wertvoll“ akkurat ausgezeichnete Lernsoftware für Kinder, oder ein ethisch wertvoller, weil augenöffnender und Einsichten und somit die Aufrechterhaltung wichtiger Haltungen erleichternder Roman, der in der Zeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung spielt.

Einer Rhetorik, in welcher „Wert“ und „Würdigkeit“ - wie auch in diesem Kontemplarium - synonym gebraucht werden, stehen die begrifflichen Unterschiede aber nicht unbedingt entgegen, wenngleich sie einen gewissermaßen metaphorischen Charakter hätte (siehe Eintrag §101).

Zur Verheißungsferne des Würdigkeitsbegriffs

Fallen aber im vollen Bewusstsein um Würdigkeit nicht typischerweise alle ihr zuwiderlaufenden Inklinationen ab, und müssten sich nicht auch postnaturale Ästhetisierungen so auswirken, dass eine akzeptierte kommunikative Würdigkeitszuordnung ebenso verheißungsvoll wirkt wie eine Wert-Würdigkeitszuordnung? Dies hängt mindestens davon ab, wie vollkommen die Urwertbeimessung mit dem Ursatz übereinstimmt, da mindestens hiervon abhängt, wie effektiv die darauf beruhende Selbsterziehung, wie optimal die postnaturalen Ästhetisierungen bemessen und konfiguriert sind. Zudem ist die menschliche Natur anscheinend so beschaffen, dass derartige Einstellungen mit der Zeit nachlassen und daher einer ständigen Auffrischung bedürfen; jedenfalls dürfte klar sein, dass jene Einstellungen in den allermeisten Menschen suboptimal dimensioniert sind. Hingegen ist das natürliche Grundinteresse am eigenen Vorteil abseits von seiner Abschwächung durch eben jene Einstellungen konstant. Das Prinzip ist sogar bei dem Eigennutz dienenden Arbeiten feststellbar, zumal auch da die Verknüpfung zwischen der Arbeit und dem eigenen Vorteil sich im Bewusstsein naturbedingt abschwächen kann. So erklärt sich, wie es sein kann, dass sogenannter Wert trotz der Verankertheit seines Begriffs im Begriff der Würdigkeit, anders als letzterer nichts zu verlangen, sondern allenfalls etwas zu verheißen scheint. Der Anschein der „Intoleranz“ von Würdigkeitszuschreibungen gegen die Enthaltung von den zugehörigen praktischen Konsequenzen geht auf den der Konditionierung entspringenden Druck zurück, wobei dieser zwar auch in Bezug auf vermeintlich „Wertvolles“ wirksam ist, dort jedoch durch die Gewinnaussicht marginalisiert wird.

Dass in einer Sache Wert zu sehen das Akteursystem natürlicherweise zur Bemühung um sie veranlasst, während den angemessenen aktionalen Konsequenzen der Annahme von Würdigkeit häufig die Trägheit, mitunter bis zur Verhinderung, im Weg steht, ist vor dem selben Hintergrund zu sehen, oder, falls der Einwand nicht auf Mitteilungen abzielt, welche die entsprechenden Lexeme einbinden, eine intellektprojektive Interpretation inklinativer Vorgänge, wie sie oben bereits in Betracht gezogen wird.

Das zu bevorzugende Modell

Es mag sein, dass die innere Automatik einem sinnlichen Gegenstand einen kognitiven Faktor beilegt, der im Verhalten des Individuums bei der nächsten Wahrnehmung als Kausalgrund fungiert und darum „Wert“ genannt werden (oder anderes, begründend Verhaltensbezogenes darum von ihm diesen Namen beziehen) kann, sowie, dass dieser Kausalgrund in retrospektiven Reflexionen des eigenen Verhaltens vom Individuum mit einem ethischen Grund verwechselt wird bzw. zur Gewissensberuhigung oder Verteidigung über den Unterschied zwischen den beiden Arten des Grundes hinweggesehen wird. Doch eine Existenz zweier auf der ontischen Ebene bezüglich der relevanten Elemente überschneidungsloser Wertbegriffe des Intellekts als Grundlage der Präskriptivität von Sätzen sollte als ausgeschlossen bzw. sinnlos betrachtet werden. Es würde im Widerspruch zur Singularität der Wurzel aller wahren Ethik stehen und Absurditäten implizieren, so dass z.B. ein und derselbe Gegenstand vom Intellekt unter denselben Aspekten als wertvoll und unwürdig zugleich eingestuft werden kann. Es bestünde unweigerlich die Erforderlichkeit, zwischen den beiden Begriffen so zu priorisieren, dass einer der beiden samt seiner Anwendung letztlich als irrelevant oder zumindest als nicht unabhängig vom anderen Begriff dastünde.

Wenn es aber keine zwei derart verschiedenen Wertbegriffe des Intellekts gibt und einer der beiden allenfalls ein von der Trägerautomatik beigelegter Faktor ist, ist klar, dass der Wert nach dem jeweils einen Begriff schlicht kein Wert nach dem jeweils anderen Begriff ist.

Das im Verhältnis zu seinen Alternativen analytisch sparsamere und wohl plausiblere Modell ist daher dasjenige, in welchem es im Kern nur einen einzigen Wertbegriff gibt und derjenige des sinnlichen Wertes nur eine Spezifikation des Würdigkeitsbegriffs oder seines Kerns ist, wobei demnach in einem integren reellen Wertegefüge kein Träger eines bloß sinnlichen Wertes einen Wert besitzt (allenfalls abgesehen von einem wie in Eintrag §44 definierten „Restwert“) und so in Konkurrenz zu den restlichen Werten (S) treten könnte, sondern allenfalls Inklinationen der sekundären Selbstheit mit Folgeinklinationen der Urwertbeimessung miteinander konkurrieren, wenn auch durch die Brille des Intellekts (bzw. der intellektuellen Gewohnheit) alle Inklinationen als Wertschätzungen erscheinen und als solche behandelt werden und hierdurch der Begriff des sinnlichen Wertes und derjenige der emotionalen Wertbeimessung eine gewisse Anwendbarkeit finden. Dies impliziert: Die Urwertbeimessung ist wohl die einzige ethisch wirklich relevante Wertbeimessung, deren Existenz wir annehmen können und müssen.

Die Stufen der Wahrhaftigkeit

[§53] Vor dem Hintergrund der Ausführungen des Eintrags §52 eröffnet sich die Möglichkeit, die Grundlage der Unterscheidung zwischen wahrem und bloß scheinbarem, sowie auch zwischen absolut wahrem und relativ wahrem Wert zu erschließen, wenn mit dem Hintergrund nicht gar erst die Notwendigkeit einhergeht, eine solche Unterscheidung vorzunehmen:

Stufe Eins (fehlende Wertgrundlage): Unter Verwendung der Begrifflichkeiten des Intellekts lässt sich über den Gegenstand einer individuellen Inklination problemlos sagen, das Individuum bzw. seine sekundäre Selbstheit messe dem Gegenstand einen Wert bei. Da aber (mag dies auch eine Analogie in der Versehung einer Vorstellung mit einem kausal wirksamen Faktor haben) nicht viel mehr als eine individuelle Inklination vorliegt und die Voraussetzung einer allgemeinen Nachvollziehbarkeit im Rahmen eines Diskurses somit nicht gegeben ist, ist es offensichtlich unpassend, hier zu behaupten, der Gegenstand hätte auch nur einen scheinbaren Wert (außer für das jeweilige Individuum).

Stufe Zwei (scheinbarer Wert): Handelt es sich um eine ganz oder nahezu universale Inklination, die voraussichtlich in jedem Teilnehmer an der Kommunikation vorliegen wird, passt es immerhin, zu sagen, der betreffende Gegenstand habe einen scheinbaren Wert. Wenn über die bloße Inklination hinaus keine Grundlage und somit kein intellektuelles Fundament, sondern vielmehr die Unableitbarkeit von einem solchen festzustellen ist, bleibt es allerdings bei der Klassifizierung des Wertzukommnisses als bloß scheinbar und wird seine Qualifizierung als unwahr erforderlich.

Stufe Drei (relativ wahrer Wert): Wenn klar ist, dass der ideale Intellekt einem Gegenstand auf Basis intellektueller Prinzipien Generalwert beimisst bzw. jeder intakte Intellekt unter optimalen realitären Bedingungen ihm diesen beimessen würde, ist es angemessen, zu sagen, der Gegenstand habe wahren Wert (Würdigkeit). Unrelativierbar gilt dies nur für den Gegenstand der dem Ursatz entsprechenden vollkommenen Urwertbeimessung, da es keine andere rein intellektbasierte, unabgeleitete Wertbeimessung gibt. Außer ihrem Gegenstand hat nichts einen wahren Wert. Gleichwohl hängen an ihr Folgewertbeimessungen, die einerseits in Wirklichkeit wohl lediglich Inklinationen der Psyche bzw. sekundären Selbstheit sind, andererseits mit den übrigen Inklinationen nicht gleichgesetzt werden dürfen, da ihre Besonderheit darin besteht, zur Psyche des idealen Intellekts zu gehören und von der vollkommenen Urwertbeimessung (im Zusammenspiel mit naturalen Dispositionen) so bedingt zu sein, dass sich die Urwertbeimessung gleichsam in ihnen vollzieht, bzw. sie naturgesetzlich bedingt ein Teil dessen sind, was „sein muss“. Dies gilt zumindest, falls die Verbindung so eng ist, dass eine Schwächung solcher Inklinationen nur über die Schwächung oder Änderung der Urwertbeimessung zu bewerkstelligen wäre. Erst recht abzugrenzen wären sie von Folgeinklinationen einer falschen Urwertbeimessung. Eine solche Abgrenzung muss beinhalten, dem Wert, der rhetorisch ihnen wie den Gegenständen der allgemein-dispositionalen Inklinationen zugeschrieben wird, im Hinblick auf ihre Wurzel eine gewisse Wahrhaftigkeit zuzugestehen. Zur Abgrenzung vom Wert des Gegenstands der vollkommenen Urwertbeimessung wiederum, ist hier zu unterscheiden zwischen absolut wahrem und relativ wahrem Wert, bzw. zwischen „wahrhaft wahrem Wert“ (wahrhafte Würdigkeit) und „gleichsam wahrem Wert“.

Stufe Vier (absolut wahrer Wert): Da jeder vollkommene Intellekt notwendig eine dem Ursatz entsprechende Wertbeimessung realisiert und diese keine bloße Folge irgendeiner Wertbeimessung oder eines Faktums, sowie keine bloße Inklination ist, besitzt ihr Gegenstand absolut wahren Wert.

Wahrhafte Würdigkeit kommt allein einem einzigen, nämlich dem Gegenstand der vollkommenen Urwertbeimessung, zu. Von seinem Wert abgeleiteten und somit relativen Wert besitzen Gegenstände, welchen die idealkonforme Psyche jedes intakten Intellekts seines Wertes wegen beimisst (realistisch ausgedrückt: zu denen sie eine Inklination hegt). Der ideale Intellekt selber kann diesen Gegenständen direkt keinen Wert zuordnen - für den idealen Intellekt ist im Grunde alles außer dem Gegenstand seiner Urwertbeimessung wertlos.

Mit demselben Intellekt kann man erkennen, dass jede Psyche (wie sie gemeinhin bekannt ist), deren Besitzer die vollkommene Urwertbeimessung vollzogen hat, also die Würdigkeit ihres Gegenstandes in voller Höhe anerkannt hat, eben dadurch bedingt Inklinationen oder Haltungen zu weiteren, anderen Gegenständen als dem dieser Beimessung hegt, wobei er diese Inklinationen und Haltungen als Wertbeimessungen interpretieren muss, sobald er sich die Psyche bzw. sekundäre Selbstheit als Person, als Teil der eigenen Person oder ihre Haltungen als diejenigen der eigenen Person denkt (denkt er sie sich hingegen als Ding, interpretiert er sie als Neigungen u.ä.). Derweil kennt die Psyche so etwas wie Werte oder Wertbeimessungen gar nicht, jedenfalls nicht so, wie sie der Intellekt kennt - womit freilich nicht ausgeschlossen ist, dass auf ihrer oder ihrer naturalen Trägerebene ein gewisses Analogon zum Wertbegriff existiert (wie sich auch bei elektrischen Geräten in dem einen oder anderen ihrer Vorgänge ein Analogon z.B. zur Nahrungsaufnahme sehen lässt). Da der Intellekt die als solche interpretierte Wertbeimessung sozusagen angestoßen hat, erscheint hier eine Parallele zur Urwertbeimessung. Diese Parallele ist die Grundlage für die Möglichkeit, zu sagen, dass jene anderen Gegenstände Werte hätten. Denn in Bezug auf den Gegenstand der Urwertbeimessung ist ja der Grund für diese Möglichkeit, dass es der (ideale) Intellekt ist, der ihm einen Wert beimisst. Und in Bezug auf die anderen Gegenstände ist es ebenfalls gewissermaßen der Intellekt, nur eben über den Umweg der Psyche und in Form von Inklinationen. Dieser Umweg wiederum ist der Grund, warum zu sagen ist, jene Gegenstände hätten die Werte nicht an sich, während der Gegenstand der idealen Urwertbeimessung seinen Wert an sich hat. Möglich ist darum hier auch die Rede vom Unterschied zwischen dem intrinsischen Wert, d.h. den Wert, den etwas an sich hat, und dem extrinsischen Wert, den etwas von einem anderen sozusagen nur entliehen hat.

Es sei im Übrigen betont, dass die Bemerkung, die Konstatierbarkeit des absolut wahren Wertzukommnisses beruhe auf der Wertbeimessung des idealen Intellekts, essentiell und keine beiläufige ist. Über eine empirische Tatsache kann ja immerhin nicht in gleicher Weise  gesagt werden, sie beziehe ihre Konstatierbarkeit in erster Linie daraus, dass jeder intakte und wohlinformierte Intellekt sie erkennen würde. Mehr noch: Das intrinsische, absolut wahre Wertzukommnis ist die Wertbeimessung des unter optimalen Bedingungen stehenden idealen (!) Intellekts, bzw. besteht in dieser. Im Unterschied dazu ist das Sosein einer empirischen Tatsache nicht mit ihrer Erkenntnis durch den Intellekt zu identifizieren.

Die Qualifizierung des Wertes des Gegenstandes der idealen Urwertbeimessung als ihm an sich zukommend beruht darauf, dass der ideale Intellekt ihm seinen Wert autark ohne den Umweg über die Psyche oder Sonstiges beimisst. Demgegenüber kommt allem kein Wert an sich zu, dem ein Wert oder ein Analogon dazu lediglich von einer sonstigen Instanz außer dem Intellekt, von diesem angestoßen oder nicht, beigemessen wird, sei es die Psyche bzw. sekundäre Selbstheit, die sinnliche Wahrnehmung, die Gesellschaft bzw. eine Konvention oder Anderes.

Wahrhaft kommt einem Gegenstand Wert dann zu, wenn der ideale bzw. jeder intakte Intellekt ihm diesen auf Intellektbasis unweigerlich beimessen würde. Eine solche Beimessung kann nur die Urwertbeimessung sein, da jede andere Wertbeimessung in unserem Modell lediglich eine Folgeinklination ist, und zwar die gerechte und keine andere Urwertbeimessung, da ansonsten das Wertzukommnis wiederum falsch wäre. Der direkte Gegenstand einer solchen Urwertbeimessung alleine hat wahren Wert.

Der bloß relativ wahre Wert liegt gewissermaßen an einem Schnittpunkt der Kategorien des wahren und des scheinbaren Werts - je nach Perspektive ist er ein wahrer und nicht nur scheinbarer, zugleich aber ein nur scheinbarer und kein wahrer Wert. Über ihn hinaus gibt es den unabhängig von jeder Perspektive wahren Wert, und den unabhängig von jeder Perspektive unwahren, bloß scheinbaren Wert.169

Problematisierung des Semi-Determinismus

[§54] Zieht die Feststellung, dass alle über den Ursatz hinausgehenden ethischen Haltungen des Menschen das bloße Resultat einer Urwertbeimessung sind, für manch einen, der hiervon erfährt, das psychologische Problem nach sich, dass er angesichts einer gewissen Art von Determinismus, welche das Festgestellte zu implizieren scheint, nur noch schwer Motivation zu ethischem Handeln zu finden? Ist die Enthüllung jener Tatsache vielleicht sogar ethisch unverantwortlich? Dazu lässt sich das Folgende sagen:

Notwendigkeit und Gewissheit

[§55] Die Rolle der Empirie bei der Herleitung ethischer Urteile sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass solchen Urteilen, wenn die Herleitung nur korrekt ist, einerseits absolute Notwendigkeit zueigen ist und sie mit uneingeschränkter Gewissheit feststehen. Es gibt in der Ethik nämlich keine Parallele zur Empirik hinsichtlich des Umschlagens eines ihrer probabilistischen Urteile in ein Faktualkorrelat, dem losgelöst betrachtet nichts mehr von der Partialität des ihm zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeiturteils anhaftet (u.U. irreführenderweise), sondern ein ethisches Urteil ist mit dem Korrelat, in das es „mündet“, identisch, oder (wenn wir seine eventuelle faktizistische Umhüllung im Korrelat der Tatsache, dass etwas z.B. obligat oder verwerflich ist, berücksichtigen) unterscheidet sich davon nur unwesentlich. Zwar mag aus empiriktheoretischen Gründen ein bestimmtes Verhalten nur mit einer begrenzten Wahrscheinlichkeit unter die Kategorie eines mit Gewissheit obligaten oder verwerflichen Verhaltens fallen (z.B. Unschuldigen zu schaden ist mit höchster Gewissheit verwerflich, die tatsächliche Schädlichkeit eines bestimmten Verhaltens, somit seine Zugehörigkeit zur Kategorie der schädigenden Verhaltensweisen, kann hingegen mit geringerer Gewissheit feststehen), doch ursprünglich ausschlaggebend in der Ethik ist nicht, wie eine relevante Tatsache ist, sondern, wie sie dem Subjekt (ohne eigenes Verschulden) erscheint.170 Und wenn ein Verhalten A dem Subjekt auch nur zu einem geringen Prozentwert zur Kategorie eines obligaten Verhaltens X gehörig erscheint und nichts gegen jenes Verhalten A spricht, dann ist Verhalten A nicht mit bloß der Gewissheit jenes Prozentwerts, sondern mit voller Gewissheit obligat im Maß des Prozentwerts (gemessen an der Obliganz des Verhaltens X) - was nichts davon abschwächt, dass es obligat ist. Umgekehrt gilt das gleiche: Wenn ein Verhalten B dem Menschen auch nur zu einem geringen Prozentwert zur Kategorie eines verwerflichen Verhaltens X gehörig erscheint und nichts für jenes Verhalten B spricht, dann ist Verhalten B nicht nur mit der Gewissheit jenes Prozentwerts, sondern mit voller Gewissheit verwerflich in seinem Maß (gemessen an der Obliganz des Verhaltens X) - was nichts davon abschwächt, dass es verwerflich ist.

So gibt es nicht den geringsten Zweifel an der Verwerflichkeit, einem unschuldigen Menschen eine ungesunde Substanz zu verabreichen, auch wenn der Erfahrung nach „nur“ jeder dritte Konsument nach der ersten Verabreichung durch sie schwer erkrankt. Eine empirische potentielle Tatsache mag eben ohne Weiteres zwar nicht hundertprozentig feststehen - dafür steht aber, dass sie dem Subjekt zu einem gewissen geringeren Prozentwert feststehend erscheint, hundertprozentig fest. Und letzteres und somit etwas völlig Gewisses ist das, was in die ethische Betrachtung einfließt. Somit verringert die Unsicherheit in ethische Herleitungen involvierter empirischer Betrachtungen die Obliganz bzw. Verwerflichkeit von Handlungen, beseitigt sie aber weder, noch verringert sie die Gewissheit, mit der sie feststehen.

Andererseits ist von dieser vollkommenen Gewissheit zunächst nur bei Zugrundelegung des Faktorentripletts in seiner individuellen, noch nicht universalisierten Form auszugehen. D.h. wenn ein Verhalten mit einer bestimmten, individuellen Ausprägung des Faktorentripletts auszuführen obligat oder verwerflich ist, dann ist dies mit völliger Gewissheit obligat oder verwerflich, solange vom Vorliegen dieser Ausprägung mit derselben Gewissheit auszugehen ist (letzteres ist für ein Individuum in Bezug auf sich selbst durch Introspektion möglich). In der individuellen Praxis eines Akteurs ist seinen ungestörten ethischen Herleitungen subjektiv völlige Notwendigkeit zueigen. In der universalen Theorie jedoch muss der Theoretiker von einer bestimmten Natur der relevanten Gegenstände und des „typischen Akteurs“ empirikbasiert  ausgehen, so dass den korrekten seiner Herleitungen höchstens unter der Prämisse der uneingeschränkten realen Gegebenheit des universalierten Faktorentripletts völlige Notwendigkeit zueigen sein kann.

Für den Diskurs sollte das jedoch nicht allzu problematisch sein, denn wenn ein Logiker oder Mathematiker hoffen darf, dass zum Nachvollzug seiner notwendigen Herleitungen jeder Adressat eine gewisse Verständnisgabe mitbringt, ohne dass vom Herleitenden verlangt wird, dies vollkommen sicherzustellen, sollte auch der Moraltheoretiker hoffen dürfen, dass jeder Diskursteilnehmer ein individuelles Faktorentriplett mitbringt, das mit dem universalen hinreichend übereinstimmt.

Das Faktum hinter der deskriptiven Einhüllung des Ursatzes

[§55] Als eine seine deskriptive Einhüllung berücksichtigende, non-analytische Übersetzung des Satzes |Würdiges ist würdig| bzw. hinter ihm stehendes Faktum lässt sich denken: Jedes Subjekt mit intaktem Urteilsvermögen unter idealen Bedingungen hat aufgrund eben dieses Vermögens im Falle des Gedankens an Würdigkeit infolgedessen die kategorische Bereitschaft (oder: die fundamentale Gewilltheit), Würdigem, unter welchen Umständen auch immer, und was es auch immer sein mag, falls es ihm jemals in irgendeiner Weise begegnen sollte, in einem seiner (objektiven) Würdigkeit genau entsprechenden Maße (subjektive) Würdigkeit beizumessen.

Da in echter, kategorischer Bereitschaft stets ein echter Wille enthalten ist, der lediglich in seinen realitären Auswirkungen bzw. Manifestationen, aber nicht darin, ein Wille zu sein, vom Verlauf der Zukunft abhängig gemacht wird,171 hält hier die Bedingung der Begegnung die in der Bereitschaft enthaltene Wertbeimessung nicht in der Schwebe, sondern diese liegt mit der fundamentalen Gewilltheit bereits direkt vor. Vordergründig ist sie zwar nur eine auf eine Wertbeimessung bezogene Wertbeimessung, doch jene kommt mit dieser umgehend zustande, da a) eine Wertbeimessung kein äußerer Akt ist, welcher durch äußere Faktoren seiner Wertschätzung zum Trotz verhindert werden kann, b) wenn es zur Passivnatur des Subjekts gehört, dass es keinen Gegenstand wahrhaft wahrnimmt, ohne die Wahrnehmung wahrzunehmen, wird es zu seiner Aktivnatur gehören, dass es keiner Wertbeimessung wahrhaft Wert beimisst, ohne ihrem Gegenstand Wert beizumessen (inverse Analogie), wie es auch nicht möglich ist, an das Denken an einen Gegenstand zu denken, ohne an diesen Gegenstand zu denken, oder etwas tun zu wollen (nicht nur zu wünschen) wahrhaft zu wollen (nicht nur zu wünschen), ohne jenes auch tun zu wollen, c) keine der beiden Wertbeimessungen ohne den gedanklichen Einbezug des Begriffs des Würdigen möglich ist, womit die Bedingung der (hier auf der mentalen Ebene eintretenden) subjektiven Begegnung mit Würdigem erfüllt ist.

Falls das hier als kategorische Bereitschaft Bezeichnete lediglich eine Implikation eines mit dem Ursatz korrespondierenden noch grundlegenderen Sachverhalts ist, des Ursachverhalts, wird dieser dann darin bestehen, dass jedes Subjekt mit intaktem Urteilsvermögen unter idealen Bedingungen beim Gedanken an Würdigkeit dem hierdurch direkt im Raum stehenden Begriff des (objektiv) Würdigen alle (subjektive) Würdigkeit beimisst. Es sagt sich gewissermaßen: Was Würdigkeit besitzt, ob es reell existiert oder nur ideeller Natur ist, ob es singulär oder mehrzahlig ist, dem insgesamt und nur dem gilt alle meine mir aufbringbare Wertschätzung, und nichts davon irgendetwas Anderem.

Der Ursatz reflektiert jedenfalls eine Würdigkeitsbeimessung a priori, welche die Kategorie des Würdigen zum Gegenstand hat.

Zwei Bedenken dagegen, dass in der letztgenannten der beiden Perspektiven eine Wertbeimessung tatsächlich vorliegt, sind vorstellbar bzw. von oberflächlicher Betrachtung erwartbar, und beide lassen sich ausräumen. Hierbei handelt es sich zum einen um das Bedenken, dass der Gegenstand hier durch seine Unbestimmtheit hinsichtlich der reellen Existenz zunächst völlig hypothetisch verbleibt. Dies ist aber irrelevant, wie nicht nur angesichts der Ausführungen im Eintrag §35 klar sein sollte, sondern auch bei der Betrachtung eines Vergleichssatzes wie: Was Leben besitzt... Hier ist klar und introspektiv nachvollziehbar, dass eine Wertbeimessung vollzogen wird, zumal es reichlich seltsam wäre, wenn jemand Leben umso weniger „gut fände“, je weniger davon real existiert. Das andere Bedenken beruht auf dem analytischen Unterschied zwischen der axiologischen Auszeichnung von etwas als würdig und der ontologischen Spezifikation von etwas als Leben besitzend und stellt in Frage, dass etwas derart Unspezifiziertes kognitiv überhaupt ein Gegenstand sein kann, und somit, dass überhaupt eine Wertbeimessung vorliegt, zumal eine Wertbeimessung ohne Gegenstand nicht zustande kommen kann. Dies ist bereits in Eintrag §43 behandelt worden.

Priorisierung im Falle eines konkurrierenden Wertbegriffs

[§56] Wert, den jemand um seiner Wohlseligkeit willen beimisst (also von einem ihr beigemessenen Wert ableitet), nennen wir sinnlich oder hedonisch. Eine solche Wertbeimessung unterstellen wir als Verhaltensbegründung z.B. einem Mädchen in Bezug auf eine schöne Blume, die sie am Wegesrand erblickt und pflückt, um an ihr zu riechen. Wert, den jemand um seiner Handlungsfähigkeit willen beimisst, nennen wir utilitär. Eine solche Wertbeimessung unterstellen wir z.B. einer Person in Bezug auf einen Gebrauchtwagen, den sie sich kauft. Wert, der nicht als bloß um Wohlseligkeit oder Handlungsfähigkeit willen beigemessen (bzw. nicht als bloße Folge einer hedonischen oder utilitären Wertbeimessung) erscheint, sondern dessen Beimessung als von inneren und unsichtbaren, „irrationalen“ Faktoren namens „Emotionen“ verursacht gedacht wird, nennen wir emotional. Eine solche Wertbeimessung unterstellen wir z.B. der Mutter, welche das Grab ihres verstorbenen Sohnes täglich besucht, auch wenn dieser zu Lebzeiten ein Schwerverbrecher oder kaum gütig zu ihr war.

Damit liegen drei Wertbegriffe vor, eben die des hedonischen, des utilitären, des emotionalen Wertes. Diese werden im Wesen ein und derselbe Wertbegriff sein und die derart differenzierende Rede von ihm lediglich eine Konstruktion kontextueller Varianten des eigentlichen Begriffs des Wertes, mit der bloßen Art bzw. dem Grund seiner Beimessung als Differenzierungselement. Nahegelegt wird dies vielleicht schon dadurch, dass die Beimessung von Wert im Sinne jedes dieser drei Begriffe Bedürfnisse erzeugt, wobei nur utilitäre Wertbeimessung auf der rein naturalen Ebene eher einem solchen entspringt (statt es zu erzeugen) und ihre Eigenschaft, Bedürfnisse zu erzeugen, weniger auffällt oder für sie unwesentlicher und indirekter ist. Und es ist typisch für seine Beimessung, jenseits jeglicher Rationalität und Intellektualität verortet zu werden, mit Ausnahme der utilitären Wertbeimessung, deren Rationalität allerdings a priori unbestimmt ist, da rein oberflächlich, wenn die utilitäre nur als verlängerter Arm einer hedonischen oder emotionalen Wertbeimessung fungiert. Ohne nähere Beweisführung wollen wir im Folgenden der Einfachheit halber jedenfalls davon ausgehen, dass hinter allen dreien ein Begriff steht, welcher der natürliche Begriff des Wertes ist.

Das Problem

Nun kennen wir aber einen vierten Begriff, nämlich den Begriff der Würdigkeit bzw. des transzendentalen Wertes. Da sowohl er als auch der natürliche Wertbegriff als praxisrelevant auftreten, beide in Begründungen für Handlungsdirektiven eingesetzt werden, beide sich durch den Begriff der Wichtigkeit substituieren oder repräsentieren lassen, beide als ausschlaggebend für Rangordnungen und Bevorzugungen gelten, beide superpositional sind etc., ist angesichts solcher und anderer Gemeinsamkeiten ihre Identifizierung miteinander verlockend. Auf den ersten Blick machen er und der natürliche Wertbegriff also den Anschein, im Grunde oder gar absolut ein und dasselbe zu sein.

Andererseits: Während die Würdigkeit einer Sache eine Forderung zur Folge zu haben scheint, scheint ihr Wert stattdessen eine Verheißung nach sich zu ziehen. Wert ist eng mit Hoffnung und Furcht assoziiert, Würdigkeit a priori keineswegs. Dies legt nahe, dass wir es doch mit zwei verschiedenen Begriffen zu tun haben.

Sollte dem so sein, erweist sich ausgerechnet eine Eigenschaft, die zunächst für ihre Identität sprach, nämlich die ihnen gemeinsame Praxisrelevanz, als Problem. Denn wenn sie verschieden sind, aber beide praxisrelevant und zur Begründung von Handlungsdirektiven einsetzbar, stellt sich, zumindest wenn über die Verschiedenheit hinaus zudem beide Elementarbegriffe sein sollten, die Frage, ob und wie wahre Ethik dann überhaupt möglich ist. Für jeden der beiden Begriffe könnte nämlich jemand den Anspruch erheben, er sei das alleinige Fundament aller wahren Ethik. Beide zuzulassen ist derweil offensichtlich keine Option, zumal dies dem Messen mit zweierlei Maß Tür und Tor öffnen würde, einer Urteilsweise, die mit vollkommener Gewissheit unethisch ist, und dies aus jeder der beiden hiermit verbundenen Perspektiven . Welches Kriterium könnte aber im Falle der beidseitigen Elementarität herangezogen werden, um den einen Begriff dem anderen hinsichtlich der ethiktheoretischen Relevanz überzuordnen? Immerhin wäre ansonsten zu erwarten, dass aus der Perspektive jedes der beiden gleichermaßen der jeweils andere der nachzuordnende und irrelevante für das wäre, was das Handeln intellektual bestimmen soll.

Unsere Lösung

Ein erster Anhaltspunkt für den Vorrang des Begriffs der Würdigkeit gegenüber dem natürlichen Wertbegriff ist, dass der Begriff der Pflicht kaum den letzteren anstelle desjenigen der Würdigkeit enthalten wird, zumal zu den wichtigsten, bekanntesten und evidentesten Merkmalen einer wahren Pflicht gehört, dass sie kategorisch auch dann eine solche ist, wenn von ihrer Erfüllung weder ein Vorteil noch die Fernhaltung eines Nachteils zu erwarten ist, also weder Hoffnung noch Furcht unbedingt mit ihr verbunden sind.172 Auf die Herleitung einer Pflicht kann der natürliche Wertbegriff anstelle desjenigen der Würdigkeit ebenfalls keinen Einfluss haben, da sich aus logischen Gründen keine Pflicht aus einem Satz ableiten lässt, der mit einem Wertbegriff anstelle desjenigen der Würdigkeit operiert, der im Pflichtbegriff nicht an seiner Stelle enthalten sein kann. Solange es in Ethik und Moral darum geht, was jeder tun oder lassen soll, ist diese Tatsache signifikant.

Ein zweites Argument ist, dass wenn der verheißende Charakter von Wert im natürlichen Begriff des Wertes verankert ist, sowohl der hedonische als auch der utilitäre Wertbegriff, sowie ein Hybrid aus ihnen gleichermaßen zur Diskussion stünden. Jedoch haben wir bereits früh festgestellt173, dass hedonische und utilitäre Wertgrundlagen miteinander derart konfligieren, dass eine übergeordnete Grundlage unabdingbar ist und ein hybrider Wertbegriff eine Absurdität darstellt.

Das dritte Argument: Schon die konzeptologisch-metaethische Fragestellung, welcher der beiden Begriffe gegenüber dem anderen den Vorrang habe, fußt, soweit sie einen Objektivitätsanspruch hegt, samt ihrer Beantwortung selbst auf dem Begriff der Würdigkeit und nicht auf einem von diesem baren, „natürlichen“ Wertbegriff. Denn für Objektivität muss der Vorrang würdigkeitsbegrifflich definiert sein und sich nicht bloß aus dem Maß ergeben, welche der beiden Optionen die Freundlichere und Entgegenkommendere wäre. Und selbst wenn es umgekehrt wäre, wäre eine Entscheidung gegen den Würdigkeits- und für den natürlichen Wertbegriff schon auf der Grundlage des letzteren nicht zu rechtfertigen, da die natur- und kulturbedingte Peinlichkeit eines solchen Urteils sich selber den hedonischen und utilitären Wert rauben würde.

Das vierte Argument: Entweder der natürliche Begriff des Werthaften bzw. Werten taugt als ausschlaggebendes Element zu strukturell dem Ursatz analogen Begründungen („... weil Werthaftes Wert hat“ bzw. „... weil Wertes wert ist“) normativer Sätze, oder er taugt nicht zu solchen. Im ersten Fall ist er wohl lediglich ein Derivat des Begriffs des Würdigen, wie der Begriff des ethisch Guten sich als solches gezeigt hat, und somit kein Elementarbegriff. Mit dem Begriff des Guten scheint er sogar identisch oder zumindest in höchstem Maße analog zu sein. Jedenfalls sind aus kombinativen Begriffen, welche um den Begriff des Würdigen kreisen, bestehende, strukturell dem Ursatz analoge Begründungen nichts Außergewöhnliches.174 Solange die Anwendung des natürlichen Wertbegriffs irgendeine profane Günstigkeit voraussetzt, kann er entweder kein Elementarbegriff sein oder ist zu Letztbegründungen untauglich, da sich niemand für eine im  Sinne eines solchen Begriffes werthafte Sache eigentlich und wirklich wegen ihres Wertes entscheidet, sondern eben allein wegen der ihr anhaftenden Günstigkeit. Ohne diese würde er sich nicht für die Sache entscheiden. Somit kommt für ihn der Wert eigentlich der Günstigkeit zu oder ist mit ihr identisch. Ist er mit ihr, die sie eine faktuale Eigenschaft ist, identisch, ist er normativ nicht fundierungsfähig und somit irrelevant. Haftet er ihr nur an, benötigt der Intellekt für ein Eingeständnis der objektiven Gültigkeit dieser Wertbeimessung eine Begründung, die keinen Begriff der Günstigkeit voraussetzt, muss also diesen Wertbegriff verlassen und auf einen übergeordneten Begriff zurückgreifen. - Im zweiten Fall erweist er sich als für Letztbegründungen untauglich und für das vorliegende Thema irrelevant oder ist erst recht kein Elementarbegriff.

Was aber, wenn nur die Ebene des hedonischen und des utilitären Wertbegriffs verlassen werden muss und der Begriff des emotionalen Wertes als Kandidat übrig bleibt? Immerhin scheint dieser Begriff weit weniger oder sogar überhaupt nicht vom Begriff des Vorteilhaften abhängig oder mit dem Charakter des Verheißungsvollen behaftet zu sein, wie zahlreiche Beispiele nahelegen, zu denen dasjenige der Mutter gehört, welche bereit ist, ihr Leben für das Leben ihres Kindes aufzugeben. Jedoch ist der Begriff des emotionalen Wertes noch weiter von Objektivität entfernt als die beiden anderen; was einem „ans Herz gewachsen“ ist oder „am Herzen liegt“, ist hochgradig kontingent und wohl weit individueller, als worin Wert aufgrund seiner Eigenschaft, Genuss zu bereiten oder Unbill fernzuhalten, gesehen wird. Zudem ist der Begriff des emotionalen Wertes entweder derjenige eines Wertes, der um des emotionalen Gleichgewichts bzw. Friedens willen beigemessen wird, und somit, wenn er keine Spezifizierung desjenigen der Würdigkeit ist, zur Kategorie des hedonischen oder des utilitären Wertes gehörig und darum dem Begriff der Würdigkeit zunächst ebenso unterlegen, oder er ist derjenige eines Wertes, dessen Beimessung von naturalen, gleichsam fremden, eben emotionalen Faktoren verursacht wird. Im letzteren Konzept ist der „nackte“ Begriff des natürlichen Wertes am präsentesten, denn er ist nicht mehr daran gebunden, um welcher Sache willen er beigemessen wird oder wurde. Es ist allerdings fraglich, was nach seiner „Entblößung“ vom Begriff des natürlichen Werts übrig bleibt. Versucht man nämlich, ihn sich frei von den obigen und jeglichen Kontextualkomponenten zu denken, gibt sich kein Begriff zu erkennen, dessen Entsprechung „Wert“ zu nennen vollkommen adäquat anmutet, wenn sich überhaupt ein Begriff zu erkennen gibt. Ist dieser, wie seine kontextuellen Ausprägungen nahelegen, in seinen normativen Implikationen weniger strikt als derjenige der Würdigkeit, ist er diesem aus diesem Grunde zweifellos nachgeordnet, da er dann bloß Empfehlungen begründete, Würdigkeit hingegen Imperative. Ist er aber gleichermaßen strikt, spräche dies (erst recht da die von beiden geforderte Bezugnahme nach der nun erfolgten Freistellung des Wertbegriffs von allen spezifizierenden Bezügen gleichermaßen allgemein wäre) dafür, ihn mit dem Würdigkeitsbegriff zu identifizieren, wenn seine Striktheit nicht einem bloßen Anschein geschuldet ist, der darauf beruht, dass das Subjekt sich so eingestellt hat, dass Zukommnisse von Wert im Sinne des natürlichen Begriffs grundsätzlich strikte Imperative fundieren, während der natürliche Wertbegriff an sich dem Würdigkeitsbegriff unverändert nachgeordnet wäre. Eine derartige Einstellung würde ihrerseits ohnehin wohl auf einer Würdigkeitsbeimessung beruhen. Ist er aber sogar noch strikter (wie auch immer man sich dies zu denken hätte, wenn es überhaupt denkbar sein sollte), hätte seine Entsprechung erst recht verdient, als Würdigkeit bezeichnet zu werden. Denn ein Würdigkeitsbegriff, dessen Striktheit nicht absolut ist, hat in wahrer Ethik nichts zu suchen.

Der rein deskriptive Wertbegriff

[§57] Was den wirtschaftskontextuellen Ursprung des Wertlexems betrifft, so ist man zunächst versucht, den ihm in jenem Kontext anhaftenden Begriff angesichts seiner Etymologie einfach mit demjenigen der „Tauschkräftigkeit“ oder „Konvertabilität“ zu identifizieren. Bei einem Vergleich wird jedoch schnell klar, dass so keine hinreichende begriffliche Kongruenz gegeben ist. Als „sehr wertvoll“ kann schließlich auch im rein kommerziellen bzw. ökonomischen Kontext nichts anerkannt werden, das sich lediglich gegen „sehr viele Dinge“ eintauschen lässt, solange nicht im selben Begriff die potentiellen Tauschgegenstände so spezifiziert sind, dass für jene sehr vielen Dinge nicht z.B. einfach sehr viel Müll zu sein in Frage kommt. Für diese Spezifizierung kommt dreierlei in Frage: a) Wertvolles b) Nützliches c) der sinnlichen Wohlseligkeit Zuträgliches. Option „a“ scheidet wegen Zirkularität aus. Derweil kommen „b“ und „c“ nicht gemeinsam in Frage, dafür ist das Verhältnis zwischen Nutzen und Genuss zu konfliktreich (die Argumente gegen einen hybriden Wertbegriff aus Eintrag §10 lassen sich weitgehend auch hier anwenden). Also ist die Frage, ob sich „b“ zu Lasten von „c“ oder Letzteres zu Lasten des Ersteren durchgesetzt haben wird. Für den ökonomischen Kontext liegt nahe, dass es sich bei dem zu ergänzenden Element um dasjenige des Nützlichen handelt, da dieses nicht nur das Handlungspotential vergrößert, sondern eben durch diese Vergrößerung auch die Möglichkeit, sinnliche Wohlseligkeit zu erhöhen (was übrigens zur etymologischen Verwandtschaft der Lexeme des Nutzens und des Genusses passen würde). Für „b“ spricht auch, dass in wirtschaftlichen Zusammenhängen Wert primär in Geld gemessen wird, bzw. die Höhe des Wertes einer Sache dort primär mit der Menge an Geld, gegen die sie eingetauscht werden könne, begründet wird; und Geld hat nicht den Zweck, direkt genossen zu werden, sondern seinen Besitzer zu befähigen, sich Dinge anzueignen, was eine Form der Verleihung von Handlungspotential ist.

Jedenfalls wäre dies ein deskriptiver Wertbegriff, und ein solcher scheint im wirtschaftlichen Kontext tatsächlich mit dem Wertlexem verknüpft zu sein: Es ist kein relevanter Bedeutungsunterschied festzustellen z.B. zwischen der Aussage über ein gewisses Gemälde, dieses sei heute das Zehnfache wert wie vor einigen Jahren, und der Aussage, man bekäme, wenn man es heute zum Verkauf anböte, zehnmal soviel Geld (bzw. Gegenstände mit zehnmal soviel Nützlichkeit) dafür als vor einigen Jahren. Das eine wäre auch nicht bloß eine sekundäre Implikation des anderen, zumal es nicht besonders sinnvoll anmutet zu sagen, weil man für das Gemälde heute beim Verkauf mehr Geld bekommen würde, sei es ökonomisch mehr wert als früher (außer in dem einen oder anderen hier weniger relevanten Sinn, z.B. dass es deswegen so zu nennen sei; vergleichbar ist auch ein Stück Gold nur insofern deswegen rein, weil es keine Beimischung enthält, als es rein zu nennen ist); auch ist keine solide Grundlage sichtbar für die Behauptung, weil das Gemälde mehr wert geworden sei als früher, würde man dafür heute mehr Geld bekommen (außer in einem diesem ökonomisch-kommerziellen Kontext nicht spezifisch zugehörigen Sinn, z.B. dem der Wertbeimessung, wie sie in das Begehren der potentiellen Käufer hineinprojiziert wird).

Hiervon ausgehend ist es nun leicht einzusehen, wie sich unter demselben sprachlichen Ausdruck zu dem deskriptiven Wertbegriff schon bald ein präskriptiv wirksamer und normativ relevanter Wertbegriff hinzugesellte. Spätestens als sich der Ausdruck morphologisch verselbstständigte und sich hierdurch seine Toleranz für diverse Interpretationen erhöhte, wird die natürlicherweise erwartbare Anführung des deskriptiven Wertes als Argument in Forderungen eines besonderen Umgangs mit den sich durch ihn auszeichnenden Gegenständen mitunter auch als Anführung eines normativ relevanten, mit dem Wertausdruck referenzierten Faktors verstanden worden sein. Dieser war sicher auch schon zuvor gegenwärtig, zumal solche Argumente schon immer nötig waren und normative Sätze sich nicht bloß durch deskriptive Faktoren begründen lassen, doch wird diese Präsenz eher die intuitive einer bloßen Prämisse gewesen sein. Der nachträgliche hinzugekommene Begriff, neben anderen, allesamt denselben normativen Faktor als Achse besitzenden Begriffen, wird primär derjenige des aufgrund der Würdigkeit des Wohls Würdigen gewesen sein. (Im Übrigen ist wohl der mit dem Wertlexem primär verknüpfte Begriff derjenige des aufgrund der Würdigkeit des dezidiert utilitären und nicht des hedonischen Wohls Würdigen. Dies würde erklären, warum das Lexem so leicht in so vielfältige Thematiken wie das der Ethik u.a. Eingang findet, denn die Würdigkeit der Bewahrung und Vergrößerung des Handlungspotentials lässt sich sowohl unter der Prämisse der dem Ursatz optimal entsprechenden Urwertbeimessung als auch unter der Prämisse eines falschen oder hypothetischen Grundsatzes wie dem der Absolutsetzung der persönlichen Wohlseligkeit begründen.) So wäre der hiermit zusammenhängende potentielle Einwand wohl entproblematisiert, da der deskriptive Wertbegriff des ökonomischen Kontexts gewissermaßen überhaupt kein Wertbegriff und somit auch keiner ist, der eine Uneinheitlichkeit der Wertbegriffe mitkonstituiert, und der sozusagen aus ihm entstandene Begriff mit demjenigen identifizierbar ist, der bereits besprochen wurde.

Es ist denn wohl auch der deskriptiv definierte Wert, für den es spezifisch ist, festgestellt zu werden bzw. werden zu können statt werden zu müssen. Falls sich dies bzw. die in §52 problematisierten Aspekte des Wertlexems außerhalb ökonomisch-kommerzieller Kontexte wiederfinden lassen, käme in Frage, dass dem so ist, weil die ausschlaggebende Struktur des ökonomisch-kommerziellen Kontextes abstrakt auch in anderen Kontexten enthalten ist: Wenn ein Akteur einen Gegenstand „wert“ nennt, weil er sich sicher ist, im Falle einer speziellen Form des Einsatzes des Gegenstands Nützliches zu bekommen, dann könnte es für die Angemessenheit dieser Benennung gleichgültig sein, ob es sich bei dem speziellen Umgang um das Anbieten und Verkaufen des Gegenstands oder um etwas anderes handelt, z.B. das Öffnen und schräg in die Höhe an die geöffneten Lippen Halten, wenn der Gegenstand eine volle Wasserflasche ist. Bei Verbrauchsgegenständen lässt sich eine noch größere Analogie aufzeigen als bei Gebrauchsgegenständen: Ein frisch zubereitetes Steak kann man unter Akzeptanz seines Verschwindens einer Komponente der Natur (hier dem eigenen Verdauungstrakt) „anbieten“ und kann sich in den meisten Fällen sicher sein, dass man für seine Abgabe ein erheblich höheres Maß an Nützlichem (hier Energie und Ruhe vor Hungergefühlen) bekommt als für eine vertrocknete Brotscheibe, so dass in diesem Sinne das frisch zubereitete Steak mehr wert ist als die vertrocknete Brotscheibe. Oder ein Streichholz kann der Natur angeboten und an sie abgegeben werden, im Gegenzug zu Nützlichem (hier Licht und Wärme), usw. Da es unter Verbrauchsgegenständen große Unterschiede hinsichtlich der typischen Dauer bis zum völligen Verbrauch gibt (vgl. Streichholz und ein Stück Seife) und daher die Grenze zu Gebrauchsgegenständen, die ja auch einem Verschleiß unterliegen können (z.B. Zahnbürsten), unter diesem Aspekt fließend sind, können Verbrauchsgegenstände der Ausgangspunkt der Übertragung der Verwendung des deskriptiven Wertbegriffs bei Gebrauchsgegenständen gewesen sein. Zudem geht bei Gebrauchsgegenständen mit ihrem Einsatz (!) häufig einher, dass sie dadurch zumindest temporär im Gegenzug zum Nutzen an den Einsatzzweck wie „weggegeben“ sind, z.B. wenn eine Schale bis oben hin voll mit Früchten ist, so dass sie währenddessen für nichts anderes mehr zur Verfügung steht, solange sie nicht mit dem „Geld“ eines gewissen Aufwandes wieder „eingekauft“ wird.

Quintessenz des Kontemplariums

[§100] Es ist nun an der Zeit für eine Zusammenfassung der Fundierung objektiver Ethik.

  1. Wir Menschen haben den Begriff der Würdigkeit. Dieser bildet den gemeinsamen Nenner der Begriffe der Pflicht, der Schuld, des Sollens, des Verdienens, etc. Jeder dieser Begriffe verliert ohne den Begriff der Würdigkeit seinen ursprünglichen Sinn.
  2. Er ist erkennbar ein objektiver Begriff des Intellekts.
  3. Der Begriff der Würdigkeit bildet den absoluten Horizont des menschlichen Urteilsvermögens. (Es ist nicht einmal möglich, z.B. die Möglichkeit objektiver Ethik ohne Rückgriff auf den Begriff objektiv, geschweige denn letztgültig in Frage zu stellen oder zu bestätigen. Jede Hinterfragung des Begriffs hinsichtlich der Geeignetheit seines Zukommnisses als Begründung weiterer Urteile ist selbst auf den Begriff angewiesen. Bezüglich eines Gegenstandes und auch seiner Begründung lässt sich - außer in Bezug auf den Gegenstand in Nr. 5 - immer fragen: Warum ist das anzuerkennen würdig? Was ist so schlimm (unwürdig) daran, wenn man es nicht tut?)
  4. Wertbeimessungen des Intellekts (Würdigkeitszuordnungen) haben erfahrbar einen Einfluss auf die innere Haltung und den Zustand des Menschen und ziehen Tendenzen und Folgewertschätzungen nach sich, die abgeschwächt ihrerseits die Haltung des Menschen beeinflussen und ein analoges Muster an Folgewertschätzungen nach sich ziehen. Die Art dieses Einflusses wird im Wesentlichen durch die conditio humana (genetisch bedingte Natur und universale sozio-kulturelle Konditionierungen des Menschen) bestimmt.
  5. Die fundamentalste Wertzuordnung ist analytisch unabweisbar und ordnet der Kategorie des Würdigen allgemein Würdigkeit zu. Sie ist die Voraussetzung aller anderen ethischen Wertzuordnungen, eine andere voraussetzungslose Wertzuordnung gibt es nicht.175
  6. Eine Abweichung von dem Muster der sich aus dieser fundamentalen Wertzuordnung gemäß Nr. 4 ergebenden inneren Haltungen, Zustände, Tendenzen und Folgewertschätzungen ist bei intakter conditio humana unzweifelhaft die Folge eines Mangels in dieser Wertzuordnung.
  7. Im Sinne normativ formulierter Angaben möglicher solcher Abweichungen oder im Sinne der impliziten Aufforderung zur Beseitigung des fundamentalen Mangels ergibt sich daraus eine große Anzahl an Sätzen, die sich Normen nennen lassen. (Eine unverschuldete Störung der conditio humana eines Individuums zieht zwar auch bei Vorliegen einer vollkommenen fundamentalen Wertzuordnung wohl Abweichungen nach sich, doch sind die hiervon Betroffenen nicht die primären Adressaten dieser Sätze.)

Appendix: Lexikologie der Würdigkeit

Was abstraktiv-dialektische Diskurse rund um die Ethik so erschwert, ist nicht zuletzt, dass die natürliche Sprache hierfür besonders unangemessen ist. Möchte man über den Grund hierfür spekulieren, mag man die Ansicht hegen, dies habe etwas damit zu tun, dass sich ethisches Räsonieren im Unterschied zur Empirik letztlich auf Unsinnliches und Innerliches bezieht, zumal Wille, Absicht und sinnlich nicht direkt Fassbares wie Werte und Prioritäten die Achse ethisch wertbarer Handlungen darstellen. Die Unangemessenheit und Unschärfe der Sprache beginnt schon beim Lexem des „Guten“ - das Gegenteil eines „guten“ Smartphones ist ja nicht ein „böses“ Smartphone, sondern ein mangelhaftes oder unzweckmäßiges. Darum sollte man darauf gefasst sein, einer Menge von Ausdrücken zu begegnen, bei denen die Frage nach der Differenz oder Übereinstimmung ihrer Begriffe zu stellen ist, denn häufig macht eine Gruppe verschiedener Ausdrücke den Eindruck, bedeutungsgleich zu sein, und erregt doch -  vielleicht aufgrund ihrer Vielzahl oder ihrer Etymologie - irgendwo den Verdacht, begrifflich voneinander zu unterscheiden zu sein.

Die Sprache bietet eine ganze Reihe von Vokabeln, welche in synonymer Weise für den Begriff der Würdigkeit oder in engem Zusammenhang mit ihm stehen: „Würdigkeit“, „Wert“, „Wichtigkeit“, „Priorität“, „Rang“, ... u.v.m. So einige dieser Vokabeln kommen auch in diesem unseren kontemplativen Repositorium zur Anwendung. Um den Grad von Identität und Differenz der ihnen zugrundeliegenden Begriffe fest-, und um sicherzustellen, dass ihre abwechselnde Verwendung unter Annahme ihrer Austauschbarkeit u.U. berechtigt sein kann, ist es an der Zeit, die wichtigsten von ihnen näher unter die Lupe zu nehmen.

„Wert“ (Lexikologie)

[§101] Beim non-metaphorisch eingesetzten Wertlexem fällt auf, dass es intensiv in Bereichen zur Anwendung kommt, die mit Würdigkeit und Ethik thematisch nicht das Geringste direkt zu tun haben (z.B. Wirtschaft), und in vielen Kontexten für einen Begriff stehen kann, bei dem es sich auf den ersten Blick mit Gewissheit nicht um den (zumindest nicht den) Begriff der Würdigkeit handelt (z.B. für den Begriff des sinnlichen Werts). Dieser Sachverhalt impliziert notwendigerweise einen der folgenden Punkte:

Obsolet ist eine Option, in welcher die potentielle Begriffswolke des Wertes den Begriff der Würdigkeit in einer nicht-ontischen Form intensional statt nur extensional enthält. Dies gilt nicht nur, wenn wir ein kontextuelles Pendant zum Würdigkeitsbegriff als neben anderen schwebendes Element einer Wertbegriffswolke annehmen, da sich dies vom ersten Punkt in keiner relevanten Weise unterschiede, sondern auch, wenn wir von einem einzelnen, kontextuellen Wertbegriff anstelle einer Begriffswolke ausgehen. Denn die Option der Kontextualität des Wertbegriffs ergab sich hier nur aus dem Verdacht, dass der Hintergrund der auch ethikfremden Verwendung des Wertlexems ein subkategoriales Verhältnis des Würdigkeits- zum Wertbegriff sein könnte, während ein solches Verhältnis eines Elementarbegriffs wie desjenigen der Würdigkeit zu einem anderen Begriff nur denkbar ist, wenn der allgemeinere Begriff kontextuell ist. Wenn aber die kontextuelle Variante des Würdigkeitsbegriffs lediglich als Bestandteil in einem kontextuellen Wertbegriff enthalten ist, ist klar, dass der Wertbegriff eben nicht allgemeiner ist.

Zunächst einmal ist, so irritierend es zu Beginn sein mag, spricht Vieles dafür, dass Nr. 3 zutrifft: Die primären Begriffe des Werts und der Würdigkeit sind nicht miteinander identisch und haben auf der elementarbegrifflichen, nicht-metaphorischen Ebene nichts miteinander zu tun. Vielmehr ist der Bezugsbereich des Wertbegriffs die Sinnlichkeit, was für den Begriff der Würdigkeit in keiner Weise zutrifft. Der natürliche Wertbegriff präsentiert sich in der ersten vergleichenden Betrachtung als ein Begriff des profanen, natural bedingten Wertes mit engem Bezug zum Utilitären oder gar Hedonischen, nicht wie Würdigkeit als rein intellektualer, sinnesunabhängiger Urteilsbegriff. Hierfür spricht eine Reihe von Tatsachen:

Wenn der natürliche Begriff des Wertes das Naturale und Sinnliche zum typischen Bezugsbereich hat, bedeutet dies nicht unbedingt, dass er kein Begriff des Intellekts ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass er ein projektives Instrument des Intellekts ist, um Phänomene der Natur (eigene und Reaktionen von Individuen auf verschiedene Gegenstände) rational verarbeiten zu können. Währenddessen braucht eine vollständige, wenn überhaupt irgendeine Entsprechung des Wertbegriffs auf der naturalen Ebene des Akteursystems nicht vorzukommen.

Hinweise auf die Austauschbarkeit der Lexeme

Die analytischen Definitionen von Wert und Würdigkeit scheinen zu implizieren, dass wir es bei den beiden mit in der Essenz zwei völlig verschiedenen Konzepten zu tun haben. Dann jedoch lassen sich merkwürdigerweise Dinge finden, die dennoch für eine gewisse Austauschbarkeit der beiden Ausdrücke sprechen:

Dies legt für den Wertausdruck die folgenden Möglichkeiten nahe:

Alle diese Punkte sind auf den ersten Blick plausibel, und es ist schwierig, sich für einen alleine von ihnen zu entscheiden. Angesichts der Tatsache, dass worthistorisch der Begriff der Würdigkeit erst später als Bedeutung des Wertlexems hinzutrat und der Begriff des utilitär-hedonischen Wertes (V) praktisch an keinem anderen Ausdruck hängt (Werte (S) werden allenfalls zuweilen als „Güter“ bezeichnet und vice versa), dürfte er es vor diesem Hintergrund allerdings eher nicht geschafft haben, in die Primärebene auf natürlichem Weg neben dem ursprünglichen Begriff oder auch nur in die Semisekundärebene aufzurücken. Insofern ist die erste der drei Möglichkeiten wohl weitgehend ignorierbar, es sei denn, dass wir fachspezifische, stipulative Begriffsunterlegungen179 für den Ausdruck mitberücksichtigen.

Für die zweite der drei Möglichkeiten spricht, dass wir in Situationen, in denen wir negierend von „wahrem Wert“ sprechen, für eine bestimmte Sache oft verneinen wollen, dass sie verdient habe, dass man sich so sehr um sie bemüht oder ihr Aufmerksamkeit schenkt, wie es für sie geschieht oder geschehen ist, d.h. sagen wollen, ein Vergleichsgegenstand habe dies viel mehr und wahrhaft verdient.180 Auch spricht dafür, dass in vielen Kontexten die Lexeme des Werts und der Gutheit exakt gleichbedeutend verwendet werden und dies nicht im geringsten kontraintuitiv wirkt. Darum ist davon auszugehen, dass sich dort die Begriffswolken der beiden in einem gemeinsamen Begriff überschneiden, wobei hier derjenige der Erstrebungswürdigkeit in Frage kommt.

Metaphorische Verwendung

Als in der Dynamik der Sprachentwicklung erwartbar erweist sich zusätzlich die Bezeichnung „Wert“ für Würdigkeit in metaphorischer Verwendung angesichts der Gemeinsamkeiten der zwei Konzepte:

Die zwischen den beiden deutschen Lexemen bestehende etymologische Verwandtschaft182 ist übrigens ein Indiz dafür, dass diese zur metaphorischen Substitution einladenden Gemeinsamkeiten im kollektiven Bewusstsein der deutschen Sprachgemeinschaft schon früh gegenwärtig waren... Berücksichtigt man nun das Prinzip der auf Würdigkeitszuordnungen (naturgesetzlich bedingt) folgenden postnaturalen Ästhetisierungen, zeigt sich ein Vorteil einer solchen Metapher: Die ästhetische Implikation wird deutlicher ins Bewusstsein gerückt. Außerdem spricht aus Gründen der Lesbarkeit, des Schreibaufwands und der Zeitersparnis die Zentralität eines Terminus und häufige Notwendigkeit der Referenzierung seines Begriffs für den kürzeren von zwei den Begriff mitzuführen geeigneten Ausdrücken, so auch hier bei dem einsilbigen Ausdruck „Wert“ gegenüber dem dreisilbigen „Würdigkeit“. Die Gemeinsamkeiten zusammen mit dem kommunikativen Gewinn lassen es als legitim erscheinen, den Wertausdruck, wo der Kontext oder eine nähere Spezifizierung (z.B. „objektiver Wert“ vs. „subjektiver Wert“) die begriffliche Ambivalenz neutralisiert oder diese Ambivalenz unerheblich oder gar sinnvoll ist, als Substitut des Würdigkeitsausdrucks einzusetzen, und als allgemeinsprachlich hierfür bereits etabliert anzusehen.

Es ist typisch für Metaphorik, dass mit ihr der Ausdruck für etwas, das dem sinnlichen Erleben näher ist, zur Bezeichnung von etwas Abstraktem oder jenem Erleben sonstwie Ferneren entliehen wird - dies ist hier der Fall. Ferner ist dies bei der Bezeichnung von Zahlen und zahlenmäßigen Ergebnissen mathematischer oder messtechnischer Ermittlungsvorgänge als Werte, spezifizierbar als „numerische Werte“, offenbar ebenso der Fall.183

Die Metaphorik kann, abweichend vom Obigen, aber auch von einem der kombinativ-würdigkeitsbasierten Begriffe des Wertes ausgehen, in der Weise der Benennung von etwas Einfachem nach etwas Komplexem wegen einer gemeinsamen Bedeutungsachse, wie z.B. wenn bei einer Schnecke von ihrem „Haus“ die Rede ist und der Begriff des Hauses auf sie bezogen auf den Begriff dessen reduziert wird, in das eingedrungen werden kann und Schutz bietet, während mehrere andere begriffsbildende Aspekte, z.B. derjenige der künstlich-architektonischen Herstellung eines Hauses im eigentlichen Sinn, ausgeblendet werden.

Eine Synthese dieser beiden Ausgangspunkte ergäbe, dass sich das Würdige deswegen als werthaft bezeichnen ließe, weil es als würdig anzuerkennen automatisch seine Ästhetisierung und Etablierung oder Erhöhung seines sinnlichen Werts a) zur Folge hat und b) es kraft seiner Würdigkeit dies auch verdient hat.

Weitere Aspekte

Erst recht nicht verwundern - selbst unter Zugrundelegung allein des rein deskriptiven Wertbegriffs - sollte der Einsatz des Wertlexems als Alternative zum Würdigkeitslexem, wenn bei seinem sprachlichen Gebrauch ein moralisch hinreichend vollkommener Adressat vorschwebt, dessen sinnliches Wertegefüge kraft dieser Vollkommenheit in einem für den jeweiligen Kontext hinreichenden Maß und bestenfalls exakt dem ethischen Wertegefüge entspricht, d.h. der bestenfalls so eingestellt ist, dass er sein sinnliches Glück stets im Würdigen und nirgendwo anders verortet.184 Dann kann der Begriff des Wertes getrost auch einfach der Begriff desjenigen sein, dessen Träger der sinnlichen Wohlseligkeit zuträglich ist.

Mehr oder weniger außen vor sei die nicht völlig abwegige Möglichkeit gelassen, die beiden Ausdrücke zur Unterscheidung von intrinsisch bedingter und extrinsisch bedingter Würdigkeit stipulativ zu etablieren oder als natürlich etabliert anzusehen. Dennoch sei diese hier kurz umrissen: Demnach könnte „Würdigkeit“ bei fehlender Spezifikation sowohl intrinsisch als auch extrinsisch bedingte Würdigkeit meinen, während „Wert“ hingegen ausschließlich extrinsisch bedingte (abgeleitete) Würdigkeit meinen würde. Eine solche Definition würde kontraintuitiverweise und mit etablierten Elementen des Begriffssets über bloße Konkurrenz hinaus konfligierend dazu führen, intrinsisch bedingt und folglich in höherem Maße Würdiges als u.U. wertlos einstufen zu müssen. Alternativ ließe sich „Würdigkeit“ exklusiv zur Bezeichnung intrinsisch bedingter Würdigkeit reservieren, während „Wert“ bei fehlender Spezifikation sowohl intrinsisch als auch extrinsisch bedingte Würdigkeit bezeichnen darf. Dies würde aber die einfache Anzeigbarkeit von abgeleiteter Würdigkeit und die Verwendung von Adjektiven wie z.B. denen des Ehrwürdigen, des Fragwürdigen185 oder des Liebenswürdigen oft verhindern und Erschwernisse erzeugen. Sinnvoller erscheint es dem gegenüber, „Würdigkeit“ als im Vergleich zu „Wert“ lediglich geeigneter anzusehen, intrinsisch bedingte Würdigkeit zu meinen, ohne seinen Gebrauch für extrinsisch bedingte Würdigkeit auszuschließen, und „Wert“ als geeigneter, extrinsisch bedingte Würdigkeit zu meinen, ohne seinen Gebrauch für intrinsisch bedingte Würdigkeit auszuschließen, so dass der Unterschied lediglich in die konnotative Ebene mental bedingter Sekundärassoziationen verlagert wird. Vergleichbar wäre das damit, dass Smartphones zwar Computer sind, im Sprachgebrauch jedoch ihre Bezeichnung als „Telefone“ vertrauter und kommunikativ daher geeigneter ist, während Cellular Tablets nicht viel weniger Telefone sind als Smartphones und dennoch ihre Bezeichnung als „Computer“ etwas weniger seltsam anmutet. Doch auch dies spielt im vorliegenden Kontemplarium kaum eine Rolle.

Fazit

Das Wertlexem ist eine multikonzeptionelle und auf einer weiteren Ebene polymetaphorische Vokabel, die sich sowohl zur Bezeichnung von Würdigkeit als auch gewissen, auf dem Begriff der Würdigkeit aufbauenden Begriffen eignet und wegen seiner Vorteile bis zu einem gewissen Grad hierfür empfiehlt. Je nach Intention kann es aber zur kommunikativen Selektion des Begriffs der Würdigkeit oder eines der anderen Begriffe erforderlich sein, eine nähere Spezifizierung beizulegen oder die Ambiguität bestehen zu lassen. Die Ambiguität kann insbesondere dort beibehalten werden, wo aufgrund des Prinzips der postnaturalen Ästhetisierung kein wesentlicher Unterschied in den psychologischen und empirischen, das Normengefüge fundierenden Implikationen zu erwarten ist. Noch weniger problematisch wäre es, wenn es zwischen den Begriffen sogar des dezidiert hedonisch-utilitären Wertes und dem der Würdigkeit selber in der Essenz oder im Kern tatsächlich überhaupt keinen Unterschied gäbe, so dass sich um der eigenen Selbstheit oder des eigenen Vorteils willen beigemessene Würdigkeit lediglich als hedonisch-utilitärer Wert äußerte, und nicht um ihretwillen und stattdessen um Anderes willen beigemessener Wert als Würdigkeit. Zugegebenermaßen bestärken die vielen Gemeinsamkeiten der beiden Begriffe diesen Verdacht. Jedenfalls wäre dann die terminologische Austauschbarkeit erst recht gegeben. Dies wäre übrigens ebenso der Fall, wenn sowohl der Begriff des sinnlichen Wertes als auch derjenige der Würdigkeit (zumindest im allgemein üblichen Gebrauch des Ausdrucks) kontextuell und ihre Kerne gleich wären. Dieser Kern wäre zwar namenlos, zugleich aber unser eigentlicher, ethisch relevanten Rang repräsentierender Zentralbegriff.

Problematisch an der Multikonzeptionalität und Polymetaphorik der Vokabel ist, dass einerseits sich Würdigkeit auch als Wert oder wenigstens Würdigkeitszuordnungen auch als Wertzuordnungen  bezeichnen lassen bzw. das eine mit dem anderen notwendigerweise einhergeht, andererseits der Vokabel Begriffe anhaften und sehr im Vordergrund ihres alltäglichen Sprachgebrauchs stehen, die direkt oder indirekt auf Neigungen und Interessen („gerne wollen“) Bezug nehmen und beim unaufmerksamen Adressaten grundsätzlich die Käuflichkeit des Gegenstands suggerieren können, was wiederum im Widerspruch zu seiner eigentlichen Würdigkeit stehen kann. Das führt dazu, dass über Käuflichkeit und Konsumierbarkeit Erhabenes, den richtigen Begriff zugrundegelegt, oft als wertvoll bezeichnet werden oder aber sich dessen auch enthalten werden kann, seiner Bezeichnung als „wertlos“ aber sich immer enthalten werden muss.

Zu guter Letzt erlaubt die Voraussetzung eines moralisch vollkommenen Adressaten, der so eingestellt ist, dass sein Glücksstreben voll und ganz davon, was wahrhaft würdig ist, bestimmt ist und damit harmoniert, die kommunikative Substituierung des Lexems der Würdigkeit durch dasjenige des Wertes, selbst wenn dieser rein deskriptiv und sinnlich bedingt definiert ist.

„Wichtigkeit“ (Lexikologie)

[§102] Bereits in Eintrag §33 zeichnete sich ab, dass die Begriffe der Wichtigkeit und der Würdigkeit nicht in trivialer Weise miteinander identisch sind. Dabei wäre ihre Identifizierung nicht nur wegen der dem Wichtigkeitslexem anhaftenden, etymologisch bedingten Lastassoziation, durch die es sich mit dem Pflichtbegriff in Verbindung bringen lässt, sondern auch angesichts ihrer Gemeinsamkeiten höchst verlockend:

Doch es gibt gravierende Unterschiede:

Wichtiges ist zwar notwendigerweise wertvoll (bei Übereinstimmung der Relationen), dass etwas Wichtiges nicht wertlos sein kann, ist unmittelbar evident; doch auch im Vergleich zum Wertbegriff zeigen sich Unterschiede:

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gebrauch des Wichtigkeitslexems ist nötig, um zu erkennen, dass dieses multikonzeptionell ist, in zwei Hauptbedeutungen verwendet wird, einer rein deskriptiven im Modus eines thin concept und einer wertenden im Modus eines thick concept, und alle anderen Begriffe keine Elemente seiner Begriffswolke sind, sondern bloße externe Implikationen des Begriffs, bloße Kriterien für seine Anwendbarkeit oder Bedeutungen, die dem Ausdruck metaphorisch oder metonymisch angehängt werden, oder falls sie doch Elemente der Begriffswolke sind, als bloße externe Implikationen des Hauptbegriffs, die sie sind, ignoriert werden können, da sie sich ohnehin aus dem Hauptbegriff ergeben hätten.

Der deskriptive Begriff des Wichtigen ist derjenige dessen,

1.) |was (als conditio sine qua non oder Teil von ihr) von großer Relevanz oder dezidierter Notwendigkeit| ist.

Darum lässt sich in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch alles, wovon ein anderer Gegenstand in seinem Bestand oder seiner Funktionsweise signifikant abhängt, als für diesen Gegenstand oder in ihm wichtig bezeichnen, und so auch alles, was „viel“ zu etwas beiträgt oder großen Einfluss hat. Das Kriterium für die Größe des Einflusses oder der Menge des Beigetragenen ist hier kein ethisches oder sonstwie wertmäßiges, sondern ein wertneutrales im Sinne der Ausführungen zum Größenbegriff in Eintrag §46.

Wichtigkeit ist unzweifelhaft aber auch ein wertendes Attribut. Als solches enthält ihr Begriff den Begriff der Würdigkeit. Dies kündigt sich nicht nur darin an, dass z.B. die unspezifizierte Bezeichnung einer Person als unwichtig herabwürdigend wirkt. Seine Zuordnung dient auch als Begründung für die Normativität von Handlungskategorien („Jetzt passt gut auf, denn was ich euch zu sagen habe, ist wichtig!“). Und es ist darüber hinaus evident, dass wenn es nichts objektiv Würdiges gibt, es auch nichts wahrhaft Wichtiges gibt. Die Attribution umfassender Unwichtigkeit enthält offensichtlich die Verneinung von Würdigkeit.

Man mag zudem die Wichtigkeit einer Sache womit Anderem auch immer zunächst nachvollziehbar begründen, z.B. damit, dass das Andere von ihm abhängig ist. Doch die Voraussetzung für die Stimmigkeit der Wichtigkeitszuordnung ist zwingend, dass jenes Andere ebenfalls wichtig ist. Ist es nicht wichtig, kann das Abhängigkeitsverhältnis bzw. die Notwendigkeit des Gegenstands seine Wichtigkeit nicht im Sinne einer wahrhaften Wichtigkeit begründen. Es ist evident, dass wenn die Begründungskette objektiv im Nichts verläuft, kein Element der Kette wahrhaft wichtig ist. Sollte sie hingegen in der Idee des Wichtigen selbst enden („... weil Wichtiges nun mal wichtig ist.“), wäre dies erst recht der Beweis, dass wahrhafte Wichtigkeit und Würdigkeit im Kern identisch sind, da sich der Begriff des Wichtigen als sich als im Wesentlichen analog zum Begriff des Würdigen verhaltend erweisen würde.

Den Begriff welcher speziellen Art und kontextuellen Subkategorie von Würdigkeit enthält der Begriff der Wichtigkeit aber? Dem Sprachgebrauch nach zu urteilen, könnte es sich hier nämlich, im Einklang mit der deskriptiven Bedeutung dezidiert um auf Relevanz bzw. Notwendigkeit des Gegenstands für einen anderen würdigen Gegenstand beruhende Würdigkeit handeln. Das Wichtige ist demnach a) das Würdige, dessen Würdigkeit auf seiner Relevanz für etwas anderes Würdiges beruht. Plausibel erscheint auch die Definition des Wichtigen als b) allgemein dasjenige, von dem etwas Würdiges abhängt (d.h. dieser Begriff nimmt die Würdigkeit seines Gegenstands nicht direkt vorweg, sondern überlässt dies der Reflexion). c) dasjenige, dessen Fehlen oder Ausbleiben mit Implikationen bzw. Konsequenzen einhergeht, deren Hinnahme unwürdig ist. Dem Gebrauch des Wichtigkeitslexems nach zu urteilen kommen als Art der in ihm referenzierten Würdigkeit auch d) Beachtungswürdigkeit e) Anstrebungswürdigkeit oder f) Bevorzugungswürdigkeit in Frage.

Damit unterteilen sich die wertenden Begriffe des Wichtigen in zwei Gruppen. Die erste Gruppe (a, b, c) besteht aus Varianten des Begriffs vom Notwendigen für Würdiges, die zweite Gruppe (d, e, f) aus Begriffen, die jeweils einer bestimmten Art des Bezugs auf den Gegenstand Würdigkeit zuschreiben. - In der ersten Gruppe ist „b“ das Allgemeinste, und in der zweiten Gruppe, in der ein Allgemeinstes schwierig oder gar nicht auszumachen ist, sind „d“ bis „f“ zwar richtige, jedoch entweder bloß externe Implikationen von Wichtigkeit, da sie sich sinnvoll durch Wichtigkeitsassertionen begründen lassen: „Weil X wahrhaft wichtig ist, ist X der Beachtung/Anstrebung/Bevorzugung würdig.“ Oder, falls sie doch eigenständige Elemente der Begriffswolke der Wichtigkeit sind, können sie zugunsten desjenigen Elements, aus dem sie sich als externe Implikationen ohnehin zwingend ergeben, zurückgestellt werden. Auch dass Beachtungs-, Anstrebungs- und Bevorzugungswürdigkeit gleichermaßen in Frage kämen und keines einen definitorischen Vorrang gegenüber dem jeweils anderen bemerken lässt, spricht dafür, die Gemeinsamkeit der beiden Begriffe an ihre Stelle zu setzen, nämlich den Begriff der Würdigkeit ohne nähere Spezifikation.

So bleibt „b“ als legitimster Begriff des Wertwichtigen übrig, und tatsächlich scheint keine Widerrede gegenüber der Feststellung möglich, dass etwas, von dem nichts Würdiges abhängt, niemals wahrhaft wichtig sein kann.

Einen Gegenstand jedoch angenommen, der für nichts notwendig und dennoch aus irgendeinem anderen Grund oder gar voraussetzungslos sehr würdig ist, ist es andererseits nicht möglich, ihn als unwichtig zu bezeichnen, vielmehr verlangt seine Würdigkeit, ihn als wichtig einzustufen.

Diese Sachlage könnte einerseits rechtfertigen, von zwei verschiedenen thick concepts (und folglich insgesamt mindestens drei Begriffen der Wichtigkeit) auszugehen, einem relevanzspezifischen, so dass Relevanz gewissermaßen Wichtigkeit abzüglich Wertung ist, und einem zweiten, relevanzunspezifischen.

Andererseits ist es insofern legitim, sich auf den unspezifischen zu beschränken bzw. den spezifischen auf den unspezifischen zu reduzieren, als die Würdigkeit jegliches Würdigen (im Rahmen der Grundimplikationen) grundsätzlich die Würdigkeit gewisser Haltungen (wenn auch nur external) impliziert und dies nicht nur ohne seine Würdigkeit, sondern auch ohne jenes Würdige bei ihm nicht der Fall wäre. Somit hängt, so betrachtet, von jedem Würdigen grundsätzlich anderes Würdiges ab, wobei es unerheblich ist, dass die Würdigkeit des zweiten Würdigen lediglich von derjenigen des ersten Würdigen abgeleitet ist. Einem bloßen Begriff, der als solcher ja weder schon ein Urteil noch eine Beweisführung darstellt, kann eine solche potentielle Zirkularität, die ja nicht im Begriff selbst enthalten ist, nichts anhaben. Hauptsächlich legt er fest, dass der bedingte Gegenstand Würdigkeit besitzt - woher er diese hat, ist dem Begriff sozusagen gleichgültig.

Wenn vor diesem Hintergrund nun konstatiert werden kann:

     |Wertwichtigkeit2| = |relevanzbedingte Wertwichtigkeit1|

... so wirkt dies angesichts dessen, dass Ähnliches auch schon beim Terminus der Würdigkeit naheliegt (wie schon in Eintrag §1 mit der Bezugnahme auf den möglichen Modifikationsbedarf mehr oder weniger angedeutet), nicht allzu fremd:

     |Würdigkeit2| = |Würdigkeit1 der Achtung|

Im Augenblick der Verwendung des zu dem jeweiligen Zweitbegriff gehörenden Ausdrucks, der ansonsten auch zum jeweiligen Erstbegriff gehört, ist der Erstbegriff sozusagen vorübergehend namenlos.

Der für unsere Zwecke relevante, themenspezifische wertende Begriff des Wichtigen (|Wertwichtiges1|) ist jedenfalls:

2.) |etwas, dessen Würdigkeit groß ist|

Einfach wäre es, zu sagen, dass dieser Begriff derjenige sei, dessen Gegenteil nicht der Begriff |dessen Unwürdigkeit groß ist| ist, sondern der Begriff |dessen Würdigkeit klein ist| sei. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn auf der rein begrifflichen Ebene gibt es eine derartige Gewichtung von Begriffskomponenten nicht, weshalb ein Begriff auf der rein begrifflichen Ebene mehrere, gleichrangige Gegenteile haben kann. Eher resultiert die Pluralität von Gegenteilen eines Begriffs aus einer bestimmten Zugewandtheit zu seiner Bezeichnung oder anderem.187

Die Zugewandtheit einer bestimmten Seite des Begriffs zu seiner Bezeichnung ist auch bei dem Wort „wichtig“ der Fall; dieses rückt den quantitativen Aspekt des Begriffs in den Vordergrund, was sich an seinem Gegenteil „unwichtig“ ablesen lässt. Dass dies tatsächlich schon sein maximales188 Gegenteil ist, ahnt man übrigens daran, dass der Versuch, in ein extremeres Gegenteil zu gehen, stets mit einem Begriff zu enden scheint, der schon ein anderes Gegenteil hat, das am Begriff des Wichtigen vorbeigeht (z.B. „kontraproduktiv“ passt eher zu „förderlich“, „schädlich“ zu „nützlich“ etc.). Soll dieses maximale Gegenteil mit der durch die Verwendung des Worts erzielten Hervorhebung des quantitativen Aspekts erst erklärt und hierfür diese Hervorhebung nachgewiesen werden, so lässt sich zu diesem Zweck die etymologische Bezogenheit des Wichtigkeitslexems auf die Vorgänge des Messens und Wiegens heranziehen, sowie, dass das Spezifischste an einem Begriff seine äußerste Komponente ist, so dass sich sein Gegenteil ohne besonderen Kontext zunächst nach dieser äußersten, da „zuletzt“ hinzugekommenen Komponente bestimmt. Darum ist das Gegenteil von |Haus mit Schornstein mit Rauch| nicht direkt |Haus ohne Schornstein|, sondern zunächst |Haus mit Schornstein ohne Rauch|. Das Gegenteil von |Trainer der Worte spricht, die motivieren| ist nicht |Trainer, der schweigt| oder |Trainer, der Worte hört...|, sondern zunächst |Trainer, der Worte spricht, die demotivieren|. Andernfalls wäre die Überflüssigkeit der Bildung des Ausgangsbegriffs nahegelegt. Dementsprechend ist das Gegenteil dessen, was eine Würdigkeit besitzt, die ein großes Ausmaß besitzt, außer im Falle spezieller Kontexte oder Zwecke nicht dasjenige, was eine Unwürdigkeit großen Ausmaßes besitzt, sondern zunächst nur etwas, das eine Würdigkeit geringen Ausmaßes besitzt. Dies erklärt die Bedeutung des Antonyms „unwichtig“, dessen Vorsilbe „un-“ ansonsten im Deutschen durchaus dazu geeignet ist, über den Ausdruck bloßer Negation hinauszugehen189.190

Hierdurch entpuppt sich das Wichtige als das rein skalar Würdige der Lokalperspektive auf die Hierarchie der Würdigkeiten [s. Eintrag §46] referenzierend, so dass sich der Begriff des Wichtigen zu dem des polar Würdigen der globalen Perspektive in etwa so verhält wie der Begriff des (trivialsprachlich:) Großen bzw. (gewählt und spezifischer ausgedrückt:) Korpulenten zum Begriff des Korporalen, oder wie der des Stoffreichen zu dem des Stofflichen, oder wie in der Physik der des Massereichen zu dem der Materie, oder wie der des räumlich Hohen zu dem des räumlich Oberen.191

Mit der Verkehrung „unwichtig“ kann gemeint sein, die so bezeichnete Sache habe eine nur geringe Würdigkeit, bzw., bei deskriptivem Gebrauch, eine nur geringe konstitutive Relevanz. Dies weckt den Eindruck, man gehe von einem Rest an Würdigkeit oder Relevanz aus, was ja auch oft der Fall sein wird, zumal die Verkehrung im Komparativ benutzt werden und gesagt werden kann, etwas sei unwichtiger als etwas. Allerdings gibt es auch Dinge, die überhaupt keine Relevanz für eine Sache haben und ebenso als „unwichtig“ bezeichnet werden können. Hierfür gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder der Begriff des Geringen schließt auch das Fehlende ein, analog zum mathematischen Ideal, in welchem 0 in der Menge der natürlichen Zahlen als widerspruchsfrei kleiner als 1 gilt. Oder der Aspekt des eigenschaftlichen Besitzens ist dem Adjektiv gleichermaßen zugewendet, so dass „unwichtig“ nach mancher Intention „große Würdigkeit/Relevanz entbehrend“ bedeutet, als Gegenteil von „... besitzend“.

Dass es sinnlos ist, zu sagen, etwas sei „für“ etwas würdig, Wichtiges wohl aber für etwas wichtig sein kann, ist keine Eigenheit des wertenden, sondern des rein deskriptiven Begriffs der Wichtigkeit, da eine Voraussetzung stets eine für etwas ist, und etwas Relevantes immer für etwas relevant. So lässt sich beispielsweise sagen: „Ein genügend großer Wasserstoffvorrat ist wichtig für eine lange Leuchtaktivität eines Sterns.“ Bei dieser Feststellung ist offensichtlich keine ethische Wertung intendiert, der Satz beansprucht keinerlei ethische Relevanz, und es ist nicht einmal ersichtlich, wie diese Thematik jemals überhaupt einen genuin ethischen Aspekt haben könnte. Ist man anderer Meinung und behauptet, der Vorrat sei dafür unwichtig, würde man sich über die Leugnung einer bloßen Tatsache hinaus nichts zuschulden kommen lassen, man hätte nichts und niemanden herabgewürdigt. Das Zukommnis dieser Wichtigkeit lässt sich auch nicht auf die individuelle Präferenz bzw. subjektive Wertbeimessung von irgendjemandem zurückführen. Auch allgemein ist es keine Wichtigkeit um etwas willen, der Intention nach auch nicht um der Leuchtaktivität willen.

Zwar gehören beide, der deskriptive und der wertende Begriff, zur Kategorie der relativen oder relativierbaren Begriffe. Jedoch gibt es drei verschiedene Grundarten der Relativität, und jeder der beiden gehört jeweils einer anderen Art von Relativität an. Bei den drei Grundarten der Relativität handelt es sich um:

1.    Dependenzrelativität (wie in: "würdig wegen...")
2.    Objektrelativität (wie in: "heilsam für...")
3.    Komparative Relativität (wie in: "teuer gemessen an...")

Deskriptive Wichtigkeit ist objektrelativ, nicht aber dependenzrelativ. Wertwichtigkeit bzw. Würdigkeit hingegen ist dependenzrelativ, nicht aber objektrelativ. Nur die komparative Relativität ist beiden gemeinsam. Das zeigt, dass wir hier tatsächlich vor zwei verschiedenen Wichtigkeitsbegriffen stehen.

Dennoch entsteht eine merkwürdige Situation bei der Aussage: „Drehhebel sind für die Funktion von Folterbänken wichtig“ oder gar: „Drehhebel sind wichtige Bestandteile von Folterinstrumenten.“ Dies lässt nämlich den Eindruck aufkommen, dass der Sprecher, wenn er Folterinstrumente nicht gar befürwortet, ihnen aber doch in einer offensichtlichen, mindestens zu gleichgültigen Haltung gegenübersteht. Seine Haltung bleibt hingegen eher verborgen, wenn er sagt: „Ohne Drehhebel funktionieren Folterbänke nicht“, oder: „Nur mit Drehhebeln erfüllen Folterbänke ihre Funktion.“ Zugleich ist es nicht möglich, einen der merkwürdigen Sätze zutreffend zu verneinen und zu sagen, Drehhebel seien für die Funktion von Folterbänken unwichtig. - Ist das als Anzeichen dafür zu werten, dass hier die Präsupposition vorliegt, derzufolge das besagte Folterinstrument, seine Funktion und seine Funktionalität etwas Würdiges sind (Folterinstrumente als Segen), so dass der Satz davon ausgeht, dass sich sich davon die Wertwichtigkeit dessen ableitet, wovon diese Funktion eben abhängt, und der deskriptive Wichtigkeitsbegriff in Wirklichkeit ebenfalls wertend ist, ja es überhaupt keinen rein deskriptiven Wichtigkeitsbegriff gibt?

Dies ist angesichts der Tatsache, dass diese Redeweise in Bezug auf sowohl ethisch als auch konativ weitestgehend indifferente Gegenstände, wie eben auf Lichtjahre entfernte Himmelsobjekte in selbstverständlicher Weise verwendet werden kann, nicht besonders plausibel. Allerdings scheint es für diese Redeweise eine Voraussetzung zu sein, dass eine (abgeleitete) Würdigkeit des Gegenstands, für den etwas im Sinne einer faktualen Notwendigkeit wichtig ist, wenigstens einfach denkbar ist, z.B. indem man sich den Stern unterbewusst als eine respektabilitätsfähige Person vorstellt, die etwas benötigt. Es braucht nicht außerordentlich betont zu werden, dass dies in Bezug auf Folterinstrumente mit dem heutzutage verbreiteten, allgemeinen moralischen Empfinden kaum möglich ist und die Irritation des dazugehörigen Beispiels auf eine daher auftretende kognitive Dissonanz zurückzuführen ist.

Damit liegt nicht nur nahe, dass die rein deskriptive Verwendung des Wichtigkeitslexems eine metaphorische ist, sondern auch, dass die in dieser Weise erfolgende Zuordnung von Wichtigkeit zugleich, wie man es in an kantische Terminologie angelehnten Worten ausdrücken könnte, eine Zuordnung hypothetischer Würdigkeit anstelle kategorischer Würdigkeit ist. Die hypothetische Würdigkeit würde (wenigstens im Rahmen einer externen Implikation) dem direkten Gegenstand des deskriptiven Wichtigkeitsbegriffs zugeschrieben, und präsuppositionell auch demjenigen Gegenstand zugeordnet, den er gemäß der Feststellung der Wichtigkeitszuordnung bedingt: „X ist wichtig für Y“ bedeutet dementsprechend: „Aufgrund der Notwendigkeit von X für Y besitzt X hypothetische Würdigkeit.“ Unter Einbezug der Präsuppositionen lautet die Bedeutung: „X ist notwendig für Y; Y ist würdigkeitsfähig; falls Y Würdigkeit besitzt, besitzt aufgrund jener Notwendigkeit auch X Würdigkeit.“

Übrigens erfährt die Multikonzeptionalität des Wichtigkeitslexems ihre Unterstreichung dadurch, dass es im Deutschen drei Arten der relationstheoretischen Verwendungsweise besitzt:

  1. „X ist wichtig für ihn.“
    = „Er benötigt X.“
  2. „Für ihn ist X wichtig.“
    = „Nach seiner Beurteilung wird X (von irgendetwas) benötigt / ist X würdig.“
  3. „X ist ihm wichtig.“
    = „Er / sein Inneres misst X einen (hohen) Wert bei.“

Etymologie

Praktisch alle relevanten Aspekte des Terminus lassen sich anhand Etymologie des Wortes  „wichtig“ untermauern.

Unverkennbar ist die Verwandtschaft mit „Gewicht“, und die metaphorische Verwendung des letzteren in der Bedeutung von „Wichtigkeit“ ist ebenfalls zur Genüge vertraut. Wie beim Begriff des Gewichts ist ja auch beim Begriff der Wichtigkeit der Schwerpunkt quantitativer Art, zumal die wertende Auszeichnung von etwas als wichtig lediglich besagen will, dass seine Würdigkeit im Vergleich zu Anderem groß ist. Die dem Wort zugrundeliegende deutsche Etymologie, welche offensichtlich mit dem Vorgang des Wiegens (des Vergleichs von Gewichtsgrößen) im Zusammenhang steht, lässt sich hierzu als Bestätigung betrachten.

Nach Pfeifer ist „wichtig“ u.a. in einen wirtschaftlichen Zusammenhang zu stellen: „spätmhd. (md.) wihtec nach Gewicht zu verkaufen, abgewogen“.   Ohnehin wog man zu Zeiten der Entstehung des Wortes - umgekehrt zu heute - allgemein weniger sich selbst, als irgendwelche Waren auf dem Markt. Und auf einem Markt waren die meisten Waren und Zahlungsmittel ökonomisch um so wertvoller, je mehr sie wogen, sei es nun Mehl, Salz oder Gold. Gewicht war also ein Kriterium für den Wert einer Ware. Der demonstrative und pochende Hinweis auf das Gewicht signalisierte, wie hoch die Ware bewertet zu werden verdiente. Die Verwendung eines davon abgeleiteten, eigenständigen Adjektivs „wichtig“ kann als ein solches Pochen verstanden werden. Die Idee, wie hoch etwas bewertet zu werden verdient, ruft das Konzept der postnaturalen Ästhetisierung ins Gedächtnis, womit die Verknüpfung des Begriffs der Würdigkeit oder eines von ihm abgeleiteten Begriffs mit dem Lexem direkt im Raum steht.

Etwas Gewichtiges ist aber auch etwas, das, je gewichtiger es als die übrigen Komponenten irgendeiner Komposition oder eines Sets ist, umso spürbarer fehlt, wenn man es wegnimmt. Zur Vollständigkeit des Sets ist es also umso unabdingbarer, je mehr relatives Gewicht es besitzt - womit die oben besprochene Bedeutung der Notwendigkeit ebenfalls präsent ist. Im Sinne von Abhängigkeit ist sie in einer weiteren Hinsicht gegenwärtig: In einer klassischen Waage, welche bekanntlich eine Balkenwaage ist, werden durch die schwereren Gegenstände in der einen Waagschale die leichteren Gegenstände in der anderen Waagschale emporgehoben und in der Höhe hängend gehalten, solange die gewichtigen Gegenstände nicht weggenommen werden. Vom gewichtigeren Gegenstand sind in einer solchen Waage die anderen physikalisch und im wahrsten Sinne des Wortes abhängig. Dieses Prinzip begründete offenbar die deskriptive Verwendung des Begriffs und ist in deutlicher Form auch in den synonymen Adjektiven „erheblich“ und „relevant“ (lat. relevare, „hochheben“) präsent.

Die Verknüpfung der Wichtigkeitsbegriffs mit der lateinischen Bezeichnung „importance“ im Englischen und Französischen hat möglicherweise denselben Gedanken als Hintergrund, zumal ihre wörtliche Bedeutung „Einbringung“ ist, was ursprünglich das Einbringen von Material in die Waagschale gemeint haben könnte. Möglich ist aber auch, dass hier ein Gegenstand als Bestandteil seine eigene Substanz in die eines anderen einbringt, so dass er, je mehr er einbringt, umso mehr fehlen würde, wenn man ihn wegnähme.

Derweil ist das moderne arabische muhimm („Sorge weckend“) auf eine der Haltungen gemünzt, die typischerweise mit Bewusstsein um Wichtigkeit einhergehen oder einhergehen sollten.

Bedeutung für das Imperativkonzept

Was bedeuten die das Wichtigkeitslexem betreffenden begrifflichen Analysen dieses Eintrags für das Imperativkonzept? Schon in Eintrag §14 kam der Gedanke auf, dass es der Wichtigkeitsbegriff sein könnte, was die Imperativität eines Imperativs ausmacht... Welcher der sondierten Begriffe oder wenigstens Begriffsgruppen der Wichtigkeit stellt aber den Nexus intellektgeprägter Rezeptionen von Imperativen dar und ist mit dem Imperativcharakteristikum zu identifizieren? Ist es z.B. vielleicht nur der deskriptive oder aber einer der anderen, wertenden Begriffe?

Dazu ist zu sagen, dass wirklich und direkt wohl keiner der Begriffe mit dem Imperativcharakteristikum zu identifizieren ist, da nach der wohl plausibelsten Auffassung sich das spezifische Charakteristikum von Imperativen wenn überhaupt nicht zuerst auf der begrifflichen Ebene befindet, sondern eher in der äußeren Form des sprachlichen Gebildes und der Wirkung dieser Form, wenn sie auf eine bestimmte Sensibilisiertheit des Adressaten für diese Form trifft, besteht. Dieses Charakteristikum ist ohnehin weniger für die Ethik und Metaethik als vielmehr für die Psychologie und naturwissenschaftliche Belange interessant. Aber natürlich kann man ein für ethische Zwecke relevantes, gewissermaßen sekundäres Imperativcharakteristikum annehmen, zumal der Mensch im Zuge seiner Reifung irgendwann, wenn er mit einem ihm geltenden Imperativ konfrontiert ist, sich seiner Wirkung in der Regel nicht einfach hingibt, sondern sich infolge einer vernunftbedingten Konditionierung in einer an Reflexhaftigkeit grenzenden Weise bremst und rechtzeitig untersucht, ob er sich ihr hingeben oder vielmehr widerstehen soll, und hierfür überlegt, warum er dies tun sollte, bzw. was an der geforderten Handlung das Wichtige sei. D.h. seine Konfrontation mit dem Imperativ geht einher oder ist gleichwertig mit dem Vernehmen einer analysierbaren Wichtigkeitszuschreibung, so dass hier tatsächlich ein Wichtigkeitsbegriff zumindest als Quasi-Imperativcharakteristikum auftritt. Die Frage aber, welcher der Wichtigkeitsbegriffe hierbei ausschlaggebend ist, lässt sich gar nicht allgemein beantworten. Es wäre nämlich verwunderlich, wenn dies nicht von der Art der Persönlichkeit des Adressaten abhängig wäre: Jemand, der nicht im Geringsten auf ethische Erwägungen konditioniert ist, wird in derlei Reflexionen wahrscheinlich nicht viel mehr als Kriterien des Nutzens und Schadens oder der Wohlseligkeit anlegen und allenfalls mit dem deskriptiven Wichtigkeitsbegriff operieren, zumal seine Frage lauten wird: „Was ist für mich von der Befolgung der Anordnung abhängig?“ Bzw. „Inwiefern ist meine Wohlseligkeit oder mein langfristiges Handlungspotential davon abhängig oder wird davon beeinflusst?“ u.ä. Die vernunftethisch ausgerichtete Person hingegen wird eher mit einem der wertenden Wichtigkeitsbegriffe operieren.

Nun ist das mit einem Wichtigkeitsbegriff Auszuzeichnende beim Imperativ eine Handlung, und sofern sie nicht in eine in den Auffassungen des Akteurs bereits bestehende moralische Kategorie eingeordnet werden kann, wird er sicher nicht sogleich davon ausgehen, dass die geforderte Handlung etwas in sich Würdiges sei, und selbst wenn er sie einordnen kann und  einem sogenannten moralphilosophischen Realismus anhängt, drehen sich die primären Erwägungen solcher Personen meist in Wirklichkeit um das eigene emotionale oder psychische Wohlergehen, die Furcht vor möglichen Selbstvorwürfen usw., wofür mit einem anderen als dem deskriptiven Wichtigkeitsbegriff zu operieren nicht nötig ist. Die Frage der vernunftethisch ausgerichteten Persönlichkeit wird hingegen lauten: „Welche würdige Sache ist von der Ausführung oder Unterlassung der Handlung abhängig?“ Bzw.: „Ist die Widerspruchsfreiheit meines Wandels in Bezug auf den absoluten Wert bzw. meine Urwertbeimessung davon abhängig?“ Da eine moralische Grundhaltung ohne auf diese Widerspruchsfreiheit prinzipiell Wert zu legen, nicht möglich ist, ist von der Präsenz dieser Frage bei jeder bewussten Wahrnehmung eines Imperativs auszugehen.

Zu guter Letzt könnte man sagen, dass daran, dass im Umgang mit Imperativen die dieser Begriffswolke und ihrem Spektrum entsprechenden Haltungen tatsächlich auftreten, auch unabhängig von der analytischen Sondierung der Begriffe des Wichtigen zu erkennen ist, dass die Intuition der metaethischen Einbindung des Wichtigkeitslexems in der Auseinandersetzung mit dem Imperativkonzept (anstelle z.B. nur des Lexems der Würdigkeit oder des Werts) korrekt ist.

Fazit: Dem Wichtigkeitslexem haftet eine Begriffswolke an, es ist somit ein multikonzeptioneller Ausdruck. Als Hauptelemente der Begriffswolke des Wichtigen verbleiben nach Vernachlässigung weiterer, unter verschiedenen Gesichtspunkten ersetzbarer Elemente zwei nicht aufeinander reduzierbare Begriffe, nämlich:

  1. Der rein deskriptive, ethisch neutrale, objektrelative und dependenzfreie Begriff des eine große Relevanz für etwas Besitzenden
  2. Der ethisch wertende, dependenzrelative und objektunabhängige Begriff des eine große Würdigkeit Besitzenden

Dabei hebt das Lexem kraft seiner etablierten Verwendungsweise in beiden Begriffen das Begriffselement der quantitativen Größe hervor, was erklärt, warum, während Unwürdigkeit als volles, über pure Negation weit hinausgehendes Gegenteil von Würdigkeit erscheint, Unwichtigkeit aber nur als einfache Negation von Wichtigkeit daherkommt, da das Gegenteil großer Würdigkeit oder Relevanz tatsächlich nur geringe Würdigkeit oder Relevanz ist. Der bloße Aspekt des Zukommnisses ist ebenfalls als hervorgehoben betrachtbar, so dass sich als Gegenteil auch das völlige Entbehren von Würdigkeit oder Relevanz definieren lässt.

Damit erweist sich das Lexem als zumindest einigermaßen als Alternative zum Würdigkeitslexem einsetzbar, wenigstens wenn sichergestellt ist, dass der wertende und nicht der deskriptive Wichtigkeitsbegriff als zugrundegelegt wahrgenommen wird. Die eingangs aufgezählten, über den quantitativen Aspekt hinausgehenden scheinbaren Unterschiede zum Würdigkeitsbegriff lassen sich teils auf die Ablenkung zurückführen, welche der mit dem wertenden konkurrierende, deskriptive Begriff bewirkt bzw. auf die damit zusammenhängende Ambiguität, teils darauf, dass der Begriff der Würdigkeit beim Lexem des Wichtigen hinter dem Begriff der quantitativen Größe etwas verblasst. Eine Rolle spielt hier sicher auch, dass aus Gründen der Etymologie und des Gebrauchs der Vokabel dieser weitere Bedeutungen anhängen, die für das Wichtigkeitslexem als zentraler Terminus des vorliegenden Kontemplariums mehr oder weniger sekundär sind, in der Sprachpraxis sich unter ihnen aber neben der deskriptiven diejenige befindet, die wohl die primäre Bedeutung ist, in welcher das Wichtige nämlich das ist, wovon etwas Würdiges abhängt (was an sich und zunächst ja nicht auf alles zuzutreffen beansprucht, dessen Würdigkeit groß ist). Da in dieser Bedeutung dem betreffenden Wichtigen Würdigkeit womöglich nicht einmal direkt zugeschrieben wird, sind die typischen Implikationen des Würdigen weniger präsent. Auch andere wertende Bedeutungen lassen einen Teil der Implikationen zugunsten eines anderen Teils verblassen, z.B. die des Beachtungs- oder die des Anstrebungswürdigen.

Aufgehoben werden kann die Ambiguität zugunsten des deskriptiven Begriffs durch die Nennung des Objektbezugs mittels einer geeigneten Präposition („wichtig für/zu“), und zugunsten des wertenden Begriffs der Wichtigkeit durch ihre Auszeichnung als „wahrhaft“ („wahrhaft wichtig“).192

Besonders geeignet ist das Lexem zur Auszeichnung von Handlungen, da es besonders eng mit dem Imperativkonzept zusammenhängt und die Zuordnung von Wichtigkeit eine Wirkung hat, die derjenigen des Imperativs äußerst nahe kommt.

„Würde“ (Lexikologie)

[§103] Obwohl sich im Deutschen der Begriff der Würde mit dem der Würdigkeit dasselbe Lexem teilt, ist er mit diesem nicht identisch, was sich schnell sowohl bei der Beobachtung des Gebrauchs der beiden Termini bemerkbar macht, als auch ansatzweise angesichts der linguistisch fundamentalen Verschiedenheit der Wörter, die in manchen anderen Sprachen zu den beiden Begriffen bereitgehalten werden (vgl. engl. dignity versus worthiness, oder arab.  karâmah/waqâr/haybah versus jadârah/ahliyyah).

Die Würde einer Person ist in einer der beiden Hauptbedeutungen des Terminus ihre (urteilsbegriffliche und nicht nur maßbegriffliche) Achtungswürdigkeit, d.h. die Würdigkeit, die mit diesem Begriff nicht direkt ihr, sondern der Achtung ihr gegenüber zugeschrieben wird (davon unberührt und ein anderes Thema bleibt, dass dann offensichtlich der Person selbst ebenfalls Würdigkeit zukommt, entweder infolge der Würdigkeit ihrer Achtung oder eine Würdigkeit, deretwegen die Person zu achten würdig ist). In dieser Bedeutung ist Würde gewissermaßen ein Spiegelattribut. Das Gegenteil von Würde ist Lächerlichkeit, mehr noch Verächtlichkeit oder gar Verachtungswürdigkeit.193 Der Hauptunterschied zur Ehre im engeren Sinn, deren begriffliche Nähe zur Würde für uns intuitiv erkennbar ist, besteht darin, dass während Würde von der Achtung handelt, die der Person gegenüber zu haben würdig ist, Ehre von der Achtung handelt, die eine Person vonseiten der Gesellschaft oder wenigstens von eigener Seite tatsächlich erfährt, oder derer sie sich sicher sein kann.

In der zweiten Hauptbedeutung ist Würde etwas, das von einer Person in den Augen des Betrachters gewissermaßen ausgestrahlt wird und diesen dazu veranlasst, sie zu achten. Für die Ethik ist Würde in diesem Sinn wenig relevant, da die Ausstrahlung häufig auf eine genetisch oder sonstwie natural bedingte Empfänglichkeit des Betrachters und ebenso genetisch oder sonstwie physisch bedingte optische Beschaffenheit der betrachteten Person zurückgeht. Die entsprechende spezifische, subjektiv wahrgenommene sinnliche Qualität derartiger Beschaffenheiten und physischen Haltungen u.ä. oder ihre empirische Wirkung lässt sich als Würde bezeichnen.

Achtung

Achtung könnte derweil nicht oder nicht nur ein Gefühl, sondern vor allem eine Neigung sein, nämlich die Abneigung, den Geachteten zum Gegenstand irgendeiner der sonstigen eigenen Neigungen und Interessen werden zu lassen, d.h. ihn irgendwie dem eigenen Nutzen oder der eigenen Wohlseligkeit dienen zu lassen, bzw. die Neigung, dem Willen, den Neigungen oder den Interessen des Geachteten gegenüber den eigenen Neigungen und Interessen bis zu einem gewissen Grad oder grundsätzlich einen Vorrang einzuräumen, bzw. der Drang, darauf zu achten, dass sich keine Neigung und kein Interesse in Bezug auf den Geachteten aktional, insbesondere im Umgang mit ihm, (u.U. versehentlich) über eine bestimmte Grenze hinaus oder überhaupt manifesiert, und zwar eine Neigung/Abneigung, die bedingt ist durch eine auf den Geachteten bezogene Würdigkeitsbeimessung, die nicht auf einer auf den Bemessenden selbst bezogenen Würdigkeitsbeimessung basiert, nicht aber bedingt durch eine auf ihn bezogene Unwürdigkeitszuordnung. - Vereinfacht (wenn nun auch unvollkommener) ausgedrückt wäre Achtung die Neigung, aufgrund des Ranges, den der Geachtete für einen hat, sich in Bezug auf ihn zurückzunehmen, zurückzuhalten, Rücksicht zu nehmen und Selbstkontrolle zu üben. Die linguistische und semantische Verwandtschaft der Ausdrücke des Beachtens, der Obacht, der Rücksicht und des Respekts harmonieren mit dieser Definition bestens. Ebenso harmoniert damit das Antonym der Lächerlichkeit, da mit Gelächter immer die Folge des Verlusts oder der Aufgabe eines gewissen Grades an Selbstkontrolle ist.

Allerdings scheint hier bei aller Richtigkeit der Definitionselemente dennoch eine Fehlreduktion vorzuliegen, da sich plausibel sagen lässt, man habe die besagte Neigung/Abneigung z.B. gegenüber einer Person, weil man sie achte.

Richtiger scheint daher, die Würdigkeitsbeimessung im Zentrum des Begriffs zu sehen, in Harmonie mit der wahrscheinlichen etymologischen Entwicklung des Wortes, das in seinen frühen Formen „Überlegung“, „Meinung“, „Verstand“ und somit mehr oder weniger „Beurteilung“ bedeutete und wohl erst später die Bedeutungen der „Aufmerksamkeit“ und „Beachtung“ annahm, als seien hier schlicht die Implikationen einer intellektbasierten Wertbeimessung allmählich in den semantischen Vordergrund gerückt.194 Demnach ist Achtung die Beimessung maßbegrifflicher Würdigkeit eines Maßes, das eine spezifische Neigung zur Folge hat. Bei dieser handelt es sich sicherlich um die bereits genannte Abneigung, jedoch wohl nur unter anderem, angesichts der Bedeutung des über bloße Negation hinausgehenden Gegenteils von Achtung, nämlich Ver-achtung. Diese ist offensichtlich die Beimessung eines so geringen Maßes an Würdigkeit (bzw. die Aberkennung eines so großen Maßes), dass es die Abneigung zur Folge hat, sich mit dem betreffenden Gegenstand in irgendeiner Weise, und sei es auch nur gedanklich, zu befassen oder ihn auch nur wahrzunehmen. Dementsprechend dürfte Achtung die Neigung implizieren, den Gegenstand um so mehr in das eigene Wahrnehmungsfeld zu stellen, sich mit ihm zu befassen und mit ihm zu interagieren, je höher die Achtung ihm gegenüber ist. Allerdings steht die hier implizierte Neigung wiederum in einem (wenngleich wohl geringfügigen) Konflikt mit der ebenfalls mit Achtung verbundenen Abneigung, den geachteten Gegenstand zum Gegenstand der eigenen Neigungen und Interessen werden zu lassen (sofern überhaupt von einem Konflikt die Rede sein kann und die Abneigung nicht ausschließlich dem Anteil der bloß natural bedingten und der auf falschen Wertbeimessungen beruhenden Neigungen gilt). Dieser Konflikt ist kein epistemisch-theoretischer, sondern ein realer Widerstreit der Neigungen, welche durch die Synthese einer rationalen Regulierung ihrer Umsetzung miteinander harmonisiert werden. D.h. die Betrachtung und Wahrnehmung des geachteten Gegenstandes sowie die Interaktion mit ihm werden nicht völlig unterdrückt oder neutralisiert, aber unter umso mehr und festere Bedingungen gestellt und durch diese kanalisiert, je höher die Achtung ist.195

Als hiermit in einem Zusammenhang stehend lässt sich sehen, dass wenn ein Mensch einem Gegenstand bloß um seiner eigenen Person willen Würdigkeit beimisst, er grundsätzlich dazu tendiert, ihn dem Zugriff Dritter zu entziehen (wobei dann im Falle, dass der Gegenstand ein Mensch ist, dessen ihm innewohnende Person ebenfalls zu jenen Dritten gehört), was sich in der ausgesprochenen Tendenz zu seiner Inbesitznahme, Beherrschung und Indienststellung für die eigenen Neigungen und Interessen niederschlägt; misst der Mensch dem Gegenstand derweil nicht um der eigenen Person, sondern um etwas Anderem willen Würdigkeit bei, ist die Tendenz im Grunde dieselbe, nur wird jenes Andere zum Ersten, der Gegenstand zum Zweiten und der Akteur selbst zu einem der Dritten, vor deren Zugriff er den Gegenstand zu entziehen tendiert. So äußert sich die in Eintrag §39 erwähnte Implikation der Reinhaltung des wertgeschätzten Gegenstands (hier als Fernhaltung alles geringer Würdigen) in etwas, das zur Achtung gehört.

Es ist weder zu übersehen noch unbedeutend, dass die Implikationen der Achtung den in Eintrag §39 erschlossenen Grundimplikationen von Wertschätzung allgemein, wie sie im Resultat der Reduktion erscheinen, weitgehend entsprechen. Die Präsenz der beiden Implikationen der Wahrnehmungsbemühung und des Interaktionsbestrebens ist ohne Weiteres feststellbar, während die der entkoppelten Konditionierungen mit der besprochenen Selbstkontrolle in Erscheinung tritt. Wenn Achtung also nicht direkt Liebe ist, so impliziert sie gleichwohl offenbar eine spezielle Form von Liebe. Liebe ohne Achtung mag es geben können (nämlich diejenige, die bloß auf Selbstliebe beruht), nicht aber Achtung ohne irgendeine Form von Liebe.

„Heiligkeit“ (Lexikologie)

[§104] Heiligkeit ist eine spezielle Kategorie von Würde (von Würdigkeit also nur indirekt); sie ist die Würde, die entweder einer Gottheit zukommt oder sich von der Würde einer Gottheit ableitet (also auch etwas Nichtgöttlichem zukommen kann). Dieser Ableitungsursprung bringt es unweigerlich mit sich, dass Heiligkeit stets eine von einem besonders großen, im Vergleich zum sonstigen gar vervielfachten Ausmaß geprägte Würde ist.

In einem uneigentlichen Nebengebrauch des Ausdrucks bezeichnet dieser den außerordentlichen subjektiven Wert bzw. die außerordentliche Wichtigkeit, die etwas für einen hat.

„Priorität“ (Lexikologie)

[§105] Priorität ist vom Begriff der Wichtigkeit insofern zu unterscheiden, als sie nicht direkt in der Wichtigkeit ihres Trägers besteht, d.h. diese nicht zu ihren internen, wenn auch durchaus zu ihren externen Implikationen196 gehört. Dafür aber ist sie die Wichtigkeit, eine bestimmte Handlung vor einer anderen in irgendeiner Hinsicht zu bevorzugen, und zwar hinsichtlich der zeitlichen Reihenfolge (temporale bzw. vertikale Priorität) oder hinsichtlich des Ausmaßes der Zuwendung, das einzuräumen ist (voluminale bzw. horizontale Priorität). Zu den externen Implikationen von Priorität gehört die Wichtigkeit ihres Trägers deshalb, weil letztere eine notwendige Voraussetzung für ihr Zustandekommen bzw. ihren Bestand ist, und zu ihren internen, weil sie selbst eine Art von Wichtigkeit ist, wenn auch nicht die Wichtigkeit ihres Trägers selbst, sondern die seiner Bevorzugung.

„Gültigkeit“ (Lexikologie)

[§106] Man neigt - insbesondere in akademischen Disziplinen wie der Mathematik und der Logik - dazu, den Begriff der Gültigkeit mit seinen Voraussetzungen zu identifizieren, so dass Gültigkeit u.a. als lückenlose, alle erforderlichen Kriterien erfüllende Begründbarkeit verstanden wird. Solches kann jedoch nur die Voraussetzung von Gültigkeit sein, nicht Gültigkeit selbst, denn wir sagen: Weil Satz B objektiv aus dem gültigen Satz A resultiert, ist er gültig. Wir nennen ihn dann nicht nur gültig, sondern er ist dann auch gültig. Immerhin muss es einen Grund geben, dass über verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen und Lebensbereiche hinweg ausgerechnet diese und dieselbe Vokabel verwendet wird, obwohl die Definitionen sich sehr stark unterscheiden. Und wenn wir über einen Satz sagen, er sei gültig, und dabei uns scharf selbst introspektiv beobachten, stellen wir fest, dass wir damit keineswegs genau meinen, der Satz erfülle irgendwelche Kriterien, oder er sei wohlbegründet. Eher ist es eine zusätzliche „Eigenschaft“, die wir ihm wegen einer solchen Voraussetzung zuordnen, und zwar wie eine Auszeichnung. Somit liegt es nahe, dass Gültigkeit eine spezielle Art von Würdigkeit ist. Unterstützt wird dies durch eine etymologische Bedeutung des Verbs „gelten“, nämlich „wert sein“.197 In der Ethik dürfte Gültigkeit eher ein metaethischer statt nur ein ethischer Urteilsbegriff sein, d.h. der Urteile beurteilt, denn er bezieht sich auf ethische Sätze der Form |X ist würdig| und besagt im Falle ihrer Gültigkeit, dass sie würdig sind, so konstruiert zu sein, zu werden oder zu bleiben, im Falle ihrer Bezogenheit auf Akte umgesetzt zu werden und Grundlage für auf sie Aufbauendes zu sein (z.B. weitere Sätze, Handlungen etc.). Voraussetzung für die Würdigkeit eines ethischen Satzes (der von seinem Gegenstand ja zu unterscheiden ist) ist, dass er tatsächlich im Ursatz wurzelt. Dies ist aber, analog zum bereits Gesagten, nur die Voraussetzung, nicht die Würdigkeit selber.




1 Es soll sich allerdings noch herausstellen, dass der Begriff des Bösen ebenfalls nicht vollkommen adäquat ist, darum die Einschränkung „eher“.
2 Nicht von ungefähr wird in der Wirtschaftspsychologie fein säuberlich zwischen den pragmatischen und  den hedonischen Qualitäten eines Produktes sowie zwischen pragmatisch motivierten und hedonisch motivierten Konsumenten unterschieden und ein signifikant verschiedenes Verhalten dieser beiden Gruppen festgestellt. (In Eintrag §20 wird kurz noch einmal darauf eingegangen werden.)
3 Wirtschaftswissenschaftliche Definitionen operieren hier mit den Begriffen des Bedürfnisses und des Maßes, in welchem eine Ware oder Dienstleistung einem solchen Genüge zu tun geeignet ist. Auch wenn solche Definitionen für ökonomische Zwecke angepasst sind, liegen sie und die allgemeine Definition weniger weit auseinander, als es zunächst den Anschein haben mag, zumal Bedürfnisse eine typische Quelle von Handlungsimpulsen des Menschen sind, durch die Sättigung eines Bedürfnisses die Möglichkeit der Fokussierung auf andere Ziele verbessert wird, und die ökonomischen Definitionen ebenfalls den Aspekt der Möglichkeit oder Fähigkeit einbeziehen, auch wenn diese zunächst in die Ware projiziert wird. Bezüglich des Letzteren ist aber klar, dass sich jemand durch die Aneignung der Ware gewissermaßen auch ihre Fähigkeit aneignet. Allerdings werden in wirtschaftswissenschaftlichen Bezugnahmen infolge der konzeptuellen Zweckanpassung manchmal Komponenten eingemischt, die im puren, natürlichen Begriff des Nutzens nicht enthalten sind, z.B. der Begriff des Genusses (auch wenn seine Bezeichnung etymologisch verwandt ist und Genuss auch empirisch in Zusammenhang mit Nutzen steht). - Will man den natürlichen Begriff des Nützlichen analytisch akkurat umreißen, ist die erste Schwierigkeit, die einem begegnet, dass das Nützliche nicht auf eine bestimmte Kategorie von möglichen Gegenständen beschränkt ist, die lediglich einige Spezifikationen benötigte (anders als z.B. das Bewegliche [Materie] oder die Freude [Emotion oder Empfindung]). Nützlich kann quasi alles Mögliche sein, z.B. ein materielles Objekt, ein Vorgang, eine Information o.a.. Dies bedeutet, dass der Begriff des Nützlichen nicht davon abhängt, was dieses ist, sondern sozusagen, was es tut, präziser: von einer Wirkung oder einem Bezug, den es auf einen (potentiell anderen) Gegenstand hat. Die Eigenschaft, diesen Bezug auf einen Gegenstand zu haben, wird „Nützlichkeit“ genannt, die spezielle Art dieses Bezugs und sein Ausmaß hingegen der „Nutzen“ des jeweiligen Nützlichen. Bei dem Gegenstand des Bezugs kann es sich derweil nicht um etwas Lebloses (d.h. Erlebnis- und Handlungsunfähiges) handeln - endgültig Totem nützt nichts (mehr) - vielmehr muss es ein Wesen sein, das Interessen und Ziele haben und diese zumindest hypothetisch verfolgen kann. Wer keinerlei Ziele hat und sich nicht vorstellen kann, dass Andere Ziele haben könnten, wird in nichts einen Nutzen sehen. Somit kann der Begriff des Ziels als unabtrennbare Komponente des Nutzenbegriffs angesehen werden. Nun kann es aber sein, dass auch jemand mit Zielen in nichts einen Nutzen sieht, und zwar dann, wenn er nichts kennt, das ihn einem seiner Ziele näher zu bringen vermag. Sobald ihm aber derartiges erscheint, wird er in diesem einen Nutzen sehen. Also ist das Nützliche etwas, das die Möglichkeit oder Fähigkeit zur Erreichung von Zielen verleiht, vergrößert oder bewahrt. Es ist klar, dass es sich bei den Zielen um Handlungsziele handeln muss, während sie jedoch nicht notwendig in neigungsmäßigen Bedürfnissen wurzeln.  Im Übrigen lässt sich unterscheiden zwischen objektivem und subjektivem, zwischen abstraktem und konkretem, zwischen fundamentalem und vordergründigem und zwischen universalem und individuellem Nutzen. Wahrer Nutzen ist stets objektiv, d.h. ist nicht nur in den Augen eines bestimmten Subjekts ein Nutzen für dieses, und hat wenigstens einen fundamental utilitären Aspekt,  d.h. begünstigt die Möglichkeit der und Fähigkeit zur Erreichung von Zielen überhaupt und nicht nur eines oder mehrerer bestimmter Ziele.
4 Diese Umschreibung setzt voraus, dass jede Handlung als Verfolgung eines Ziels beschrieben werden kann. Seinem Begriff nach begünstigt Nutzen nicht unbedingt die Fähigkeit zur Verfolgung von Zielen (auch wenn dies durchaus eine Art von Nutzen ist), sondern, was davon zu unterscheiden ist, eben die Möglichkeit zur Erreichung von Zielen, mithin die potentielle Effektivität von Zielverfolgung, d.h. von Handlungen. Die Umschreibung wird im Rest dieses Repositoriums meist als „Handlungspotential“ abgekürzt.
5 Hier bedeutet „leer“, anders als in der Terminologie mancher Philosophen (Kant), nicht „in sich widersprüchlich“, zumal widersprüchliche Begriffe unmöglich sind und somit gar nicht existieren.
6 Die noch zu beantwortende Frage wäre allenfalls, ob der Begriff der Würdigkeit ontisch oder kontextuell ist (s. hierzu den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“). Ist der (und zwar der) Begriff der Würdigkeit kontextueller Natur, ließe er sich definitorisch analysieren und wäre somit kein Elementarbegriff. Dies kann sich u.U. auf die Gewichtung von Ethik allgemein auswirken.
7 Zur Bedeutung der Kennzeichnungen (V) und (S) siehe den Lichtwort-Artikel „Definitionen“. - Beispiel: Als Wert (V) wird der einem Werthaber zukommende Wert bzw. sein Wertvollsein bezeichnet, während als Wert (S) der Werthaber selbst bezeichnet wird.
8 Ich frage: weshalb ist es unsittlich, Blut zu vergießen? Wenn ich das Gegenteil behaupte, werden Sie meine Behauptung natürlich auf keine Weise widerlegen können. (Fjodor M. Dostojewski in einem Tagebucheintrag)
9 Häufig ist dies leicht erkennbar daran, dass die Dienlichkeit für das Überleben der Nation oder Menschheit, das Leben allgemein oder die Vermeidung von Leid betont wird, zumal Leben die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit und somit ein gleichsam prädestinierter Referenzgegenstand utilitaristischer Begründungen ist.
10 Im Lichtwort-Artikel „Göttlichkeit und Gültigkeit“ (s. bsd. „Vernunftethik aus der Perspektive der Vereinzigungslehre“, Unterabschnitt „Unabdingbarkeit“) wird auf das theoretische Verhältnis der Metaethik zum theologischen Denken näher eingegangen.
11 Im Unterschied zum irreführenden Gebrauch des Terminus Utilitarismus (von lat. utilis: „Nutzen“), wie er sich bei den Lustethikern Jeremy Bentham (1748-1832) und seinem für die Popularisierung des Wortes verantwortlichen Anhänger John Stuart Mill (1806-1873) feststellen lässt, wird in dieser Schrift seine Verwendung als Synonym von „Lustethik“ strikt vermieden und ausschließlich als Synonym für die Erhebung eines von den Konzepten der Lust oder des Wohlempfindens unabhängigen Nutzenbegriffs zum Primärwert (S) verwendet. Lustethik, gleich welcher Art, hat aus etymologischen und philosophiehistorischen Gründen primär die Bezeichnung als Hedonismus (von altgr. hēdonḗ: „Wohlempfinden“) verdient.
Man mag meinen, Nutzenethik könne ohnehin immer nur ein Zweig der Lustethik sein, und argumentieren, man könne mit einem größeren Handlungspotential ja für die eigene Wohlseligkeit besser Sorge tragen, so dass das Handlungspotential nur um des eigenen hedonischen Glückszustands willen wertvoll sein könne, also kein Zweck an sich, sondern nur ein Mittel. Doch kann der Nutzenethiker das umgekehrt Analoge über die Lustethik behaupten: Als glücklicher Mensch kann man nach eigenem Nutzen besser und leichter streben, als wenn Depressionen einen bremsen und Trauer und Schmerz einen blockieren. Das sensuale Wohl ist für ihn ebenfalls nur ein Mittel und hat nur so weit einen Wert, wie es der Erhöhung oder dem Erhalt des Nutzens dient (ein Beispiel hierfür sind Menschen, die aus Widerwillen gegen das Lebensende ein langes Leben in Schmerzen dem kurzen Leben in Glück vorziehen). Der Einwand, es sei doch auch für einen reinen Nutzenethiker unmöglich, auf dieser Basis zu agieren, ohne sein persönliches Wohlempfinden irgendwie im Blick zu haben, denn sonst hätte er keine natürliche Motivation, und der Mensch lasse sich letztlich durch nichts als die Aussicht auf Erhöhung oder Erhalt seines Glücks motivieren, beruht - die Richtigkeit seiner Prämisse mal angenommen - auf einer Verwechselung. Verwechselt werden hier nämlich die Aussicht auf Wohlempfinden bzw. die Sicherung desselben als naturale Ursache bzw. Bedingung für bewusste Aktivität auf der einen Seite, und Wohlseligkeit als intellektualer Wert und etwas, dem um seiner selbst willen ein hoher Rang zugestanden wird, auf der anderen Seite. Die Aussicht auf Erhöhung oder Bewahrung des Glückszustandes für Aktivität zu benötigen wäre ebenso selbstverständlich wie die Benötigung von Energie. Dies bedeutet aber nicht, dass das Individuum diese als Subjekt in seiner persönlichen Ethik als finalen Zweck aufnehmen muss. Vielmehr ist die besagte Aussicht ein kausaler Faktor für sein Akteursystem; der reine Nutzenethiker macht aber nichts um ihres oder ihres Gegenstands willen.
Dem beanstandeten irreführenden Sprachgebrauch des heute nicht mehr überall darauf beschränkten Terminus Utilitarismus mag das Motiv zugrundegelegen haben, eine schon damals als „Schweineethik“ verrufene Lehre mit einem Feigenblatt des Rationalen zu bekleiden und im Zuge dessen die sorgfaltsarme Hoffnung, zwei so unterschiedliche Begriffe wie die des Nutzens und des Wohlempfindens oder dazu Führendem miteinander gleichsetzen zu können. Das Bestreben, animalistische Bezüge von der Lehre fernzuhalten, ist bei Mill besonders an seiner Einführung der Idee vom qualitativen Hedonismus spürbar. Die Qualität eines Genusses sei wichtiger als seine Quantität, und typisch tierische Genüsse hätten stets eine niedrigere Qualität. Das jedoch rettet nichts, denn entweder beruht die Vorzüglichkeit der Qualität auf einer höheren Würdigkeit im Sinne eines apriorischen Begriffes, womit die Lehre Mills im Innersten weder hedonistisch noch utilitaristisch, sondern eher deontologisch wäre, oder, wie es eher aus Mills Ausführungen hervorzugehen scheint, sie beruht lediglich darauf, dass das Wissen um die Qualität oder ihre Wahrnehmung die Quantität in ausschlaggebendem Maße erhöht, womit sich der qualitative Hedonismus in nichts Wesentlichem vom als so peinlich empfundenen quantitativen Hedonismus abhöbe. - Im Übrigen untermauert der unbestritten große intellektuelle Einfluss und die Rolle Mills als Vordenker die Identifizierung des Hedonismus als eine der Hauptkomponenten des westideologischen Synkretismus.
12 Die populärste Karrikatur des asketischen Kapitalisten ist wohl Carl Barks' Figur Scrooge McDuck, die ohne die fast alltägliche Erfahrbarkeit der kapitalistischen Tendenz zu individueller Askese sicher nicht derart aus ihr hervorgegangen wäre. Die Kenntnis von Klassikern zu dieser Thematik wie die Arbeiten Max Webers mit seinem Begriff der innerweltlichen Askese ist also keine unbedingte Voraussetzung zur Feststellung der Verbindung zwischen Kapitalismus und Askese. Zwar kennt auch Epikur, der antike Philosoph des Hedonismus, eine Art Askese. Diese ist aber eher bloß als strategisches Element eines möglichst klugen, auf Genussmaximierung ausgerichteten „Managements“ des persönlichen Luststrebens zu betrachten, wenn sie nicht gar schlicht in diesem „Management“ besteht. Der echte Kapitalist oder nutzenethisch eingestellte Mensch hat mit dem Hedonisten außerdem sein höchstes Gut nicht gemein, auch wenn ihm der Erfolg beim Gelderwerb und der Vermögensbesitz Freude bereiten und ihn diese Freude (mglw. unbewusst) motiviert. Auf der Ebene der intellektuellen Rechtfertigung nämlich bestätigt er diese nicht als höchstes Gut, sondern (zumindest vor sich selbst und seinesgleichen) eher die „Wichtigkeit“, finanz- und gütermächtig zu sein. Diese kann ihm z.B. als Kind eingetrichtert worden sein und er sie als Erwachsener nachträglich willentlich bestätigt bzw. befürwortet haben.
13 Eine gute Veranschaulichung des Konflikts zwischen utilitären und hedonischen Erwägungen ist die berühmte Grimmsche Geschichte mit dem passenden Titel „Hans im Glück“. Hier wird der Protagonist durch die Beibehaltung seines Nutzens (schwerer Goldklumpen) unglücklich und entledigt sich durch nachteilhafte Tauschgeschäfte nach und nach der Faktoren seines Nutzens. Damit wird er zwar glücklich, und es scheint, dass Glück wichtiger sei als Nutzen, doch zugleich lässt ihn der Verlauf der Tauschgeschäfte so dumm erscheinen, dass die Geschichte den Leser an der Richtigkeit des Eigenurteils des Protagonisten zweifeln lässt. Der Leser würde hierüber vermutlich sogar unentschlossen zurückgelassen, wenn nicht der Schluss mit seiner Ankunft bei seiner Mutter eine Anspielung darauf gegeben wäre, dass es ihm weder nur um seinen Nutzen noch nur um seine irdische Glückseligkeit hätte gehen sollen, sondern in ungleich höherem Maße um seine Verantwortung.
14 Ein nicht uninteressanter Gegenstand der Betrachtung im Rahmen der Struktur von Absichten ist das Phänomen des Herostratentums. Bei diesem scheint die Erwählung der eigenen Person als Absolutwert (S) und Fürgrund klar zugrunde zu liegen. In seiner extremen Form hat der Täter von seiner herostratischen Tat weder Nutzen noch langfristige Wohlseligkeit, sondern - im Gegenteil - er riskiert beides. Hier ist wohl die eigene Person als reiner Begriff der Bewertungsgegenstand sowie mit der Person Zusammenhängendes, wie z.B. der eigene Name, abgeleitet aus dem vermeintlichen Wert der eigenen Person.
15 Der Alexander-Biograph Arrian erwähnt eine intuitive Verteidigung seines Protagonisten Alexander in moralischer Hinsicht mit den Worten: Aristobulus macht außerdem geltend, dass Alexander nicht deswegen langen Trinkfesten beiwohnte, um den Wein zu genießen, zumal er kein großer Weintrinker war, sondern um seinen Gefährten seine Geselligkeit und freundschaftlichen Gefühle zu zeigen. ("The Anabasis of Alexander" (Arrian), übersetzt von E. J. Chinnock, M.A., LL.B., London 1884, S. 425).
16 Beim Studium der Einträge in etymologischen Wörterbüchern begegnen uns die Begriffe des Zwecks (verwandt mit unserem Begriff des Fürgrunds), der (Aus-)Richtung und des Vorhabens sowie die zur Dimension der Motivation passenden Begriffe des Bestrebens und des Spannens; aus „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“ von Wolfgang Pfeifer et al.:Absicht f. ‘Intention, zielgerichtetes Bestreben, Vorhaben’ (Mitte 17. Jh.), ‚Zweck, Ziel’ (Anfang 18. Jh.), Verbalabstraktum zu ↗absehen (s. ↗sehen) in der Bedeutung ‚sein Bestreben auf etw. richten, auf etw. abzielen’ gebildet und (seit Anfang des 18. Jhs.) älteres substantiviertes ‚Absehen’ ablösend.; aus Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ (23. Auflage, 1999): Absicht f. [...] Für älteres ‚Absehen’, bei dem sich die Bedeutung ‚Bestreben, Augenmerk’ aus konkretem ‚Ziel, Visier’ entwickelte. Zu ‚absehen’ ‚eine Schußwaffe auf jmd. richten’ (daraus ‚es auf jemanden oder etwas abgesehen haben’). Ebd. zum Eintrag „Intention“: f. per. fremd. ‚Absicht, Bestreben’ (< 16. Jh.) Entlehnt aus l. intentio [...], einem Abstraktum zu l. intendere (intentum) ‚hinwenden, anschicken, sein Streben auf etwas richten’, zu l. tendere [...] ‚spannen, sich anstrengen für, bestrebt sein und l. in-’. Unabhängig davon versteht sich sozusagen von selbst, dass jeder der Gegenstände der drei Dimensionen nur eine Rolle spielen kann, wenn er nicht ignoriert wird, also gewissermaßen auch in irgendeiner relevanten Weise „angesehen“ wird. Zur Vorsilbe „ab-“ liegen mir speziell für „Absicht“ derzeit keine konkreten Informationen vor, doch wahrscheinlich soll sie der in Beabsichtigungen enthaltenen Ausrichtungshaltung Rechnung tragen und die Verbundenheit des Ansehenden mit dem Angesehenen (im Sinne seiner Rolle als aktionaler Ausgangspunkt) andeuten: ab [...] Dieses aus ig. *apo ‚von - weg’ [...] Entstehung dunkel (Kluge 1999). Möglicherweise lassen sich „herab“ und folglich „drauf“ (Draufsicht) mit der Vorsilbe in Zusammenhang bringen: ig. *epi, *opi‚ auf, zu, bei’ (Kluge 1999, S. 4).
17 Metonymisch wird zuweilen aber die aktuale, realitäre Entsprechung eines Vorhabens oder das antizipative Vorstellungsbild hierzu „Absicht“ genannt (z.B. in: „Dieses Loch im Brett war nicht meine Absicht.“). Dies wäre dann nicht Absicht (V), sondern Absicht (S).
18 Sicher ist es kein Zufall, dass das arabische Adjektiv ħasan als Beschreibung eines Menschen oder eines Objekts „schön“, als Bezeichnung einer Handlung hingegen „(ethisch) gut“ bedeutet.
19 Zum Konzept der epistemischen Korrelate siehe den Lichtwort-Artikel „Wissen um Wissen
20 Siehe dazu den Lichtwort-Artikel „Urteil und Erkenntnis
21 Der Einbezug von Individualbegriffen durch einen Allgemeinbegriff macht diesen nicht unbedingt zu einem Individualbegriff. Siehe hierzu den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“, Abschnitt „Allgemeinbegriffe vs. Individualbegriffe“.
22 Sprachlich ist das nicht immer sichtbar, oder zumindest könnte jemand die Leugnung dieser Inbegriffenheit in Anbetracht der von adressierenden Pronomen, Präfixen und Suffixen entkleideten Singular-Befehlsformen vieler Sprachen („geh“, „komm“ etc.) verfechten, oder in Anbetracht des noch neutraler wirkenden Infinitivs im Akkusativ-Objekt der Umformulierung: „Ich befehle dir, aufzuräumen.“ Doch andere Umformulierungen lassen den Adressaten im Objekt wieder auftauchen: „Sie hat gefordert, dass er sein Zimmer aufräumt.“
23 Eigentlich ist jedes Faktualkorrelat, historisch bezugnehmend oder nicht, ein Individualbegriff, so auch z.B. das zu der Gleichung 5+5=10 gehörende Faktualkorrelat.
24 Auf die mögliche Unterscheidung zwischen Interessen und Neigungen wird an späterer Stelle eingegangen, sie mögen bis dahin als zu den Neigungen analog betrachtet werden.
25 In der Werbeindustrie wird/wurde diese Tatsache gerne genutzt; ein herausragendes Beispiel ist der Imperativ „Trink“ als jahrzehntelanger Bestandteil des Coca-Cola-Logos. Heutzutage kommt dies allerdings seltener in den typischen knappen und nicht nur auf Einprägsamkeit, sondern auch auf Subtilität und Einprägsamkeit bedachten Werbeslogans vor, die sich dann über die Konkurrenz hinweg zu stark ähneln würden, als in begleitenden Texten. Auch hier ist die Konsumentenschaft gegenüber den Manipulationsstrategien der Werbewirtschaft mittlerweile so sensibilisiert, dass ein übermäßiger Einsatz kommunikativer und somit exogener Imperative häufig vermieden wird und stattdessen auf die geschickte Induktion endogener Imperative gesetzt wird. Dafür wiederum lässt sich beobachten, dass der Einsatz von Imperativen nach wie vor besonders dort vorherrscht, wo der Angesprochene zu einer sofortigen und sofort machbaren Aktion verleitet werden soll, besonders im Netz, wo es heißt „Klick hier!“ oder "Gehe jetzt auf [xyz].de!" etc.
26 „Konspektiv“ ist diejenige Komponente des Urteilsvermögens, deren Urteile deskriptiv sind. Der Ausdruck tritt hier anstelle des üblichen Adjektivs „spekulativ“, zumal dieses als epistemologischer Fachterminus nicht von jedem auf Anhieb korrekt verstanden wird.
27 Diese bemerkenswerte Rolle einer Zielvertreterschaft fiel bereits John Stuart Mill auf; er interpretierte sie als Zielteilhaberschaft: The principle of utility does not mean that any given pleasure, as music, for instance, or any given exemption from pain, as for example health, are to be looked upon as means to a collective something termed happiness, and to be desired on that account. They are desired and desirable in and for themselves; besides being means, they are a part of the end. Virtue, according to the utilitarian doctrine, is not naturally and originally part of the end, but it is capable of becoming so; and in those who love it disinterestedly it has become so, and is desired and cherished, not as a means to happiness, but as a part of their happiness. (Mill, John Stuart, „Utilitarianism“, Oxford University Press, Oxford 1998, S. 82.)
28 Eine konsequent fortfahrende Differenzierung legt den Blick auf ein kleines begriffliches Planetensystem frei; die folgenden Begriffe sind allesamt involviert und keiner mit einem anderen von ihnen identisch:
  • Erlebnis (das angestrebt wird)
  • Form/Qualität/Gegenstand des Erlebnisses (Wohlempfinden bzw. Wohlseligkeit)
  • Vorgang (der als Zielvertreter angestrebt wird)
  • Neigung (das kausal wirksame, endogene Aufkommnis)
  • Anstrebung
 
29 Triebe können u.U. in Zwang oder einem solchen sehr nahe Kommendes umschlagen, bzw. tun dies teilweise nach einer gewissen Zeit unausweichlich; Triebe, deren Entsprechung ausbleibt, verschaffen sich früher oder später auf physischer Ebene Geltung. Auf diesen Zwang können sich aber Vergewaltiger oder sonstwie Unzüchtige nicht berufen, da nicht jeder Trieb in vollkommenen Zwang umschlägt und außerdem die genaue Form der Befolgung des jeweiligen Triebs bei einem Teil der Triebe eben nicht zwingend vorgegeben ist.
30 Passenderweise beinhaltet das arabische Wort für „Zwang“, °ikrâh, die Wurzel kariha, welche „nicht mögen, eine Abneigung haben“ bedeutet. Die Form von °ikrâh ist eine typische arabische Kausativform, so dass es wörtlich bedeutet: „jemanden dazu bringen, eine Abneigung gegen etwas zu haben“. Dahinter steht wohl der Gedanke, dass im Vorgang des Zwangs an die Stelle der zuvor vorwiegend nur dispositionalen die aktuale, für den Gezwungenen lebhaft spürbare Abneigung tritt.
31 Für die Instanz der Neigungen sind Kinder zunächst nicht viel mehr als materielle Objekte (wenn auch mit besonderen Eigenschaften). Um mehr in ihnen zu sehen, braucht es einen höheren Grad von Vernunft. Von diesem wiederum ist die Funktionsweise von Neigungen weitgehend unabhängig.
32 Diesen Begriff prägte Gilbert Ryle (gest. 1976) in seinem Werk „Der Begriff des Geistes“
33 Gleichwohl kommt es vor, dass durch aufstrebende Luftmassen „fallreifes“ Regenwasser in der Höhe zurückgehalten wird, welches erst nach dem Ende ihres starken Aufstrebens als Niederschlag zu fallen beginnt. Die Luftmassen wirken also zunächst als Hindernis im Weg des Wassers und haben hierdurch und durch die Möglichkeit der Beseitigung des Hindernisses die Funktion von öffnungsfähigen Toren. Vielleicht ist es dies, was im Ehrwürdigen Koran gemeint ist, wo es heißt: Da öffneten Wir die Tore des Himmels mit sich ergießendem Wasser (Sure 54:11, vgl. Gen. 7:11).
34 „Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung: Mensch-Technik-Interaktion-Erlebnis“ von Sarah Diefenbach (Universität München) und Marc Hassenzahl (Universität Siegen), Springer-Verlag, Berlin 2017, S. 57 ff.
35 Denkbar wäre die äquivalente Formulierung: „... (zu) wichtig sind (um sie verfallen zu lassen).“ Zum begrifflichen Verhältnis der Lexeme des Werts und der Wichtigkeit siehe Eintrag §102.
36 Möglicherweise hängen mit einer solchen Unwahrnehmbarkeit des Willens typische Aussagen zusammen wie: „Jetzt weiß ich, was ich will.“ u.a. - Ansonsten: Sofern auch für die Seele der im menschlichen Urteil etablierte Satz gilt, dass Ausgesendetes nicht zugleich im Sender Eintreffendes ist und ein Austritt nicht zugleich mit dem Eintritt in den Ursprung des Austritts einhergeht, ist es gewiss, dass der Wille auch für das wollende Subjekt nicht direkt wahrnehmbar ist. Denn das Wollen ist ein aktiver Aspekt des Subjekts, und das Wahrnehmen ein passiver, daher die Analogien des Sendens und Empfangens und des Austretens und Eintretens. Es würde sich wie bei einer Lichtquelle verhalten, die zunächst und ohne Weiteres unmöglich von den eigenen Lichtstrahlen, die vielleicht eine Solarsonde antreiben, beleuchtet wird. Von Reflexionen kann die Quelle hingegen durchaus betroffen sein, ähnlich ist denkbar, dass die Seele sich in der Innen- und Außenwelt niederschlagende Spuren ihres Willens wahrnimmt. Diese sind aber nicht der Wille selbst, sondern nur Spuren des Willens. Unser Auge sendet im Hellen permanent Abbilder von sich selbst aus (sonst könnte das Auge nicht von den Augen anderer Menschen gesehen werden), doch ohne einen Spiegel gelangen die Abbilder nicht zum Auge zurück, so dass das Auge zunächst für sich selbst unsichtbar bleibt. - Letztlich bleibt bei dieser Betrachtung dennoch ein gewisser Grad von Unsicherheit, solange die Essenz der Seele für uns nicht fassbar ist.
37 Man könnte fragen, ob bereits vorhandene natürliche Neigungen verstärkt oder abgeschwächt werden, und ob dies überhaupt möglich ist. Oder werden hier völlig neue Neigungen erzeugt, z.B. eine unabgeleitete und ohne Weiteres gestützte Liebe zu Vorlesungssälen? Oder sieht der Vorgang ausschließlich so aus, dass natürliche Neigungsgegenstände mit unnatürlichen so verknüpft werden, dass sich neue Neigungsgegenstände ergeben, z.B. die Verknüpfung des Traums von späterem Eigenheim, Auto und Familie mit dem Studium?
38 Natürlich ist nicht der Begriff an sich „zerbröselt“, sondern nur die Aussicht, dass er eine kongruente Entsprechung in der Realität des Menschen hat. - Eine interessante, dazu passende Nebenbetrachtung: Ein prominenter Theologe protestierte gegen die seinerzeit vorherrschende Tendenz, die Konzepte der Liebe Gottes, Seines Wohlgefallens, Seines Zorns usw. zur Vereinbarung mit dem Glauben an Seine absolute Unvergleichlichkeit metaphorisch lediglich als Seinen Willen, jemandem Gutes oder Schlechtes widerfahren zu lassen, zu verstehen, indem er entgegnete (hier paraphrasiert), was denn damit gewonnen sei, wenn doch klar sei, dass auch Geschöpfe einen Willen haben könnten. Welche Stellung er wohl bezogen hätte, wenn er mit der Erkenntnis konfrontiert worden wäre, dass wohl kein einziges Geschöpf einen Willen als Entsprechung des herkömmlichen Willensbegriffs besitzt?
39 Der Unterscheidung zwischen „Wille“ und „Mutwille“ sowie zwischen „freiem Willen“ und „natürlichem Willen“ in der deutschen Rechtssprechung liegt wahrscheinlich dieselbe begriffliche Dichotomie zugrunde.
40 Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: „Ach, geht es mir schlecht.“ Der andere: „Was hast du denn?“ - „Ich glaube, ich habe Homo sapiens.“ -  „Ach so. Keine Sorge, das geht von alleine weg.“
41 An öffentlichen Stellen angebrachte Aufkleber mit der Signatur der globalen Umweltschutzbewegung „Extinction Rebellion“ (XR) verlautbarten (wohl nur von einem Teil der Organisation gebilligt) im Frühjahr des Jahres 2020 während der Corona-Pandemie, die weltweit Millionen Todesopfer forderte: Corona is the cure. Humans are the disease. Derweil hat die „Voluntary Human Extinction Movement“ (VHEM) das freiwillige Aussterben der Menschheit explizit zum moralischen Hauptziel erhoben.
42 Siehe hierzu den Lichtwort-Artikel „Urteil und Erkenntnis“, Abschnitt „Gegenüberstellung der Triade“
43 Dieser Menge ist, wiewohl Er sogar besser um das geschehende Unrecht weiß, Gott nicht hinzuzurechnen, zumal Sein Wille erst die Voraussetzung für die Existenz dispositionell verantwortlicher Subjekte ist. Dies wiederum bedeutet nicht, dass Er untätig bleibt, oder auch nur geglaubt werden darf, Er bleibe untätig, wobei es Ihm vorbehalten ist, welche angemessene Konsequenz in welcher angemessenen Weise Er an das Unrecht hängt.
44 Das Approximationsprinzip wird an späterer Stelle etabliert (Eintrag §44). Es lautet: Ist die Realisierung von etwas als würdig Erkanntem nicht möglich, ist das dieser Realisierung am nächsten Kommende zu tun, soweit dies nicht durch das Gewicht einer damit in Konflikt stehenden ethischen Anforderung obsolet wird.
45 In seinem Traktat finden sich weit mehr zustimmungsfähige Aussagen zur Ethik; ich persönlich habe den Eindruck, dass sie weit überwiegend zustimmungsfähig sind. Ein Teil scheint allerdings interpretationsbedürftig, ein weiterer Teil kann nur vor dem Hintergrund der dem Traktat eigenen Terminologie richtig verstanden werden, und wiederum ein Teil mag nicht ohne genauere Ausführungen stehen gelassen werden, z.B. was die Folgen von Handlungen betrifft, ist aber dennoch im Grundsatz korrekt, und der womöglich einzige klare Fehler in diesen Aussagen ist die Ansicht von der Notwendigkeit (statt der bloßen Möglichkeit) der Verortung von Lohn und Strafe in der Handlung selbst (eckig Eingeklammertes sind Anmerkungen meinerseits, rund Eingeklammertes hingegen gehört zu Wittgensteins Originaltext): 6.4 Alle Sätze [d.h. Tatsachenaussagen] sind gleichwertig. 6.41 Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig [d.h. nicht logisch notwendig]. Was es nicht-zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen; denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muß außerhalb der Welt liegen. 6.42 Darum kann es auch keine Sätze [d.h. Tatsachenaussagen] der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. 6.421 Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.) 6.422 Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form "du sollst ..." ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar, daß die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muß diese Frage nach den Folgen einer Handlung belanglos sein. - Zum Mindesten dürfen diese Folgen nicht Ereignisse sein. Denn etwas muß doch an jener Fragestellung richtig sein. Es muß zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung selbst liegen. (Und das ist auch klar, daß der Lohn etwas Angenehmes, die Strafe etwas Unangenehmes sein muß.) 6.423 Vom Willen als dem Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden [d.h. er lässt sich nicht mithilfe unserer Sprache beschreiben oder analysieren]. Und der Wille als Phänomen interessiert nur die Psychologie. - Auch der frühe Wittgenstein ist offenbar der Ansicht, dass Würdigkeit ein nicht weiter analysierbarer Elementarbegriff ist (6.421), dass das ethische Urprinzip unabhängig von der Erfahrung sein muss („tranzendental“; in seinen privaten Notizen benutzt er stattdessen den Ausdruck „transzendent“) (6.421), dass Willen und Erlebnis komplementär sind (6.421), dass sich positives und negatives Empfinden aufgrund positiver oder negativer Willentlichkeiten verdienen lässt (6.422), und dass es zwei Begriffe des Willens gibt, von denen aus ethischer Sicht nur einer für den wahren Willen steht (6.423).
46 In gewisser Weise erinnert dies an die Worte des Propheten Mohammed , z.B.: Niemanden wird sein Werk in das Paradies hineinführen. Jemand fragte: „Auch dich nicht, Gesandter Gottes?“ Er antwortete: Auch mich nicht, es sei denn, dass Gott mich mit Erbarmen umhüllt. Zu einer anderen Gelegenheit stellte er einem seiner Weggefährten, Muadh b. Jabal, die Frage: Weißt du, was das Recht Gottes über die Knechte (d.h. die Menschen) ist?. Muadh antwortete: „Gott und Sein Gesandter werden es am besten wissen, Gesandter Gottes.“ Das Recht Gottes über Seine Knechte ist, dass sie Ihn anbeten und Ihm nichts als Teilhaber beigesellen, verriet der Prophet. Und weißt du, was das Recht der Menschen über Ihn ist, wenn sie das tun?„Gott und Sein Gesandter werden es am besten wissen, Gesandter Gottes.“ Dass Er sie nicht peinigt, sagte er, anscheinend ohne ein Recht der Menschen auf Lohn dazuzuzählen. - Dass im Ehrwürdigen Koran dennoch z.B. gesagt wird: Und das sei euch das Paradies, zu seinen Erben gemacht wurdet ihr durch das, was ihr zu wirken pflegtet, oder Tretet ein in das Paradies wegen dessen, was ihr zu wirken pflegtet, zeigt, dass es auch aposteriorisches Recht gibt. Das Werk wird im Rahmen eines kontingenten Usus sozusagen als Preis für den Eintritt festgesetzt (passend dazu in den Versen die Nutzung der bi-Präposition, wie sie bei Angaben von Kaufpreisen im Arabischen üblich ist). Als Gnade wird etwas Unbezahlbares auf diese Weise bezahlbar gemacht. Die Gewährung von Unbezahlbarem unter der Bedingung einer Bezahlung entspricht der Gewährung von Bezahlbarem ohne die Bedingung einer Bezahlung und somit einer Schenkung.
47 Wittgenstein bezeichnete den Willen zu Recht als den „Träger des Ethischen“.
48 Dies schließt nicht aus, dass es sich für eine funktionierende Gesellschaft denkerisch im Nachgang als verpflichtend erweist, sich fürs Strafrechtliche - wenn auch wirklich nur so weit wie nötig - mit äußeren Anhaltspunkten zur Feststellung innerer Schuld zu begnügen.
49 Womöglich ist dies das, was in dem Jesus-Zitat aus Joh 8 gemeint ist: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Bibelwissenschaftler sind allerdings der Meinung, dass der betreffende Abschnitt eine spätere Hinzufügung ist. In der Szene die Aufhebung des alten Gesetzes durch Jesus  zu sehen, dürfte aber selbst unter Annahme ihrer Historizität eine Voreiligkeit sein.
50 Es ist problematisch zu sagen, Gott, der Absolute, sei zu irgendetwas verpflichtet. Vorerst mögen wir uns daher hier mit dem Begriff des Rechts begnügen. - Siehe auch die Fußnote (zur Menge dispositionell verantwortlicher Beobachter eines Unrechts), sowie Eintrag §33.
51 Die Implikation des zweiten Satzes ist:: „Die Menschheit und ihre Erhaltung ist wertvoll.“
52 Zwecks Abkürzung oder Denkerleichterung versuchte ich beim Verfassen weiter oben von  |Unwürdigsein ist unwürdig.| zu  |Würdigsein ist würdig.| überzugehen, um mit dieser einfacher scheinenden Konstruktion fortzufahren, und begann mit der Herleitung der Zulässigkeit des Übergangs. Doch musste ich aufgeben und realisieren, dass sich die beiden Sätze wohl nicht voneinander ableiten lassen - jeder der beiden wurzelt auf seine eigene Weise in dem Satz  |Würdiges ist würdig.|, aus dem sich hingegen leicht der Satz  |Unwürdiges ist unwürdig.| ableiten lässt. Die Signifikanz dieser Anekdote liegt für mich darin, dass sie zeigt, dass ernsthafte abstraktive Dialektik allen Verdächtigungen seitens des oberflächlichen Beobachters zum Trotz weit davon entfernt ist, ein freies und beliebiges Zusammenfügen von Bauklötzen zu sein.
53 Diese Äquivalenzumformung beruht auf der Rolle des Würdigen und des Unwürdigen als das ethisch Notwendige und das ethisch Unmögliche, und aus dem faktualen Urteilsvermögen sind das Notwendige und das Unmögliche als das bekannt, dessen Nichtsein unmöglich bzw. dessen Nichtsein notwendig ist. Gerade, wenn es sich bei dem Unwürdigen um eine Handlung handelt, ist dies besonders nachvollziehbar, da eine unwürdige Handlung zu unterlassen, also ihr (reales) Sein zu verhindern, leicht erkennbar würdig (und somit eine Pflicht) ist. - Nichtsdestotrotz ist die Umformung diskutabel, weshalb sie an späterer Stelle des vorliegenden Kontemplariums problematisiert wird (Eintrag §46). Vorerst aber genüge die gleichermaßen als Grundlage dienende, universal intuitive Evidenz, dass je unwürdiger etwas ist, desto ablehnungswürdiger sein (Real-)Sein ist, und je würdiger, desto begrüßungswürdiger sein (Real-)Sein.
54 Die Anrufung einer Gottheit - so auch die Anrufung Gottes im Ehrwürdigen Koran - wird auf Arabisch du'â genannt, was wörtlich „Herbeirufung“ bedeutet. Soweit diese Bezeichnung beim Wort zu nehmen ist, steht demnach im wahren Vordergrund des Bittgebets im Idealfall nicht der Eigennutz des bittend Betenden, sondern die hoffnungsweise in einer Erfüllung des Bittgebets Form annehmende Gegenwart des Angerufenen. Die Not des Anrufenden spielt dabei nur die Rolle eines Anlasses (vgl. Suren 2:186, 11:61, 40:60).
55 Bei der Überlegung, welchen Titel ich einer diesem Eintrag zugrundeliegenden privaten Notiz geben könnte, fiel mir als ziemlich einziges so etwas ein wie: „Dem Unwürdigen fliehen (als erstes Prinzip der Ethik)“, wenn auch hier, nebenbei gesagt, der Akkusativ anstelle des Dativs der veralteten Weise des Objektbezugs dieses Verbs eher entspräche. Ich überlegte jedenfalls, ob das nicht (auch) eine Formulierung des ersten Prinzips der Ethik sein könnte: „Fliehe dem Unwürdigen“ - was mir, zu meiner Faszination, plötzlich den Koranvers Sura 74:5 in den Sinn brachte, der zu den frühesten koranischen Offenbarungen überhaupt gezählt wird: Und den Greuel fliehe   { والرجز فاهجر }.
(Übrigens lässt sich auch das positive Gegenstück wiederfinden, siehe Sura 22:77: Und tut das Gute, auf dass ihr erfolgreich seid   { وافعلوا الخير لعلكم تفلحون }.)
56 Den als authentisch eingestuften Versionen des Berichts vom erstmaligen Offenbarungsempfang nach zu urteilen verweigerte sich Mohammed  trotz der todesnahen Überwältigung, mit der ihm der Engel begegnete, dem Befehl „Lies!“ nicht nur, indem er nicht las, sondern auch, indem er nicht einmal fragte: „Was soll ich lesen?“ (Zumindest fehlt dieser Zusatz, der in der populären Version Ibn Isħaqs auftaucht, in den authentischen Überlieferungen durchweg.) Dies untermauert, in welchem äußersten Grad Mohammed schon vor seinem Prophetentum das Prinzip der Vereinzigung Gottes in sich verinnerlicht hatte. Auf die Umsetzung eines Befehls, dessen Quelle noch unbekannt und folglich nicht eindeutig Gott  war, bewegte er sich ungeachtet des Schreckens des Augenblicks kompromisslos nicht um die geringste Haaresbreite zu.
57 Gemeint ist hier keine Idee im Sinne einer sinnlichen Vorstellung. Es sollte selbstverständlich sein, dass niemand bewusst eine tote Idee des Würdigen anstelle von Würdigem wertschätzen sollte, sondern von der Absicht her - und dies ist das Ausschlaggebende - immer das Wesen des Würdigen.
58 G. E. Moore in „Ethics“, nach Burkhard Wisser im Nachwort zu Principia Ethica; „Principia Ethica“ S. 323, Reclam, Stuttgart 1970. Die ursprüngliche Stoßrichtung des Zitats unterscheidet sich freilich von der des Zusammenhangs, für den ich es eingebracht habe. Es lässt sich als Abwandlung einer äußerlich vielleicht noch passenderen Feststellung John Stuart Mills in seinem Werk „Der Utilitarismus“ betrachten: Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.
59 Da irdisch-strafrechtliche Praxis besondere Zielsetzungen hat und weitgehend nach einer methodischen Nutzenethik vorgehen muss, darf sie die hier vorliegende Schuld der Person natürlich nicht unbedingt als institutionell verfolgbare Schuld einstufen.
60 Zum Konzept der Explikation in den Lichtwort-Schriften siehe den entsprechenden Kommentar im Fußnotenbereich des Lichtwort-Artikels Definitionen.
61 Siehe https://www.etymonline.com/word/love
62 Zu dem konzeptologischen Kategorienpaar des ontischen und des kontextuellen Begriffs siehe den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs
63 Freilich setzt das voraus, dass unter den vielen Liebesbegriffen nicht ein solcher zugrundegelegt wird, der den Begriff des Guten enthält (unter diesem Verdacht stünde ja der Begriff der Wertschätzung, soweit dieser zu den Liebesbegriffen zu zählen ist), sondern ein Liebesbegriff z.B. mit rein naturalem Bezug (Liebe als emotional bedingte(s) Bestreben/Bemühtheit).
64Zumindest angesichts der Striktheit und Unbedingtheit der Implikationen, die bei ihm mit einem Zukommnis von Gutheit im Sinne seines Begriffs einhergehen, kann der Eindruck entstehen, bei diesem Begriff handele es sich um denjenigen der Würdigkeit: Unsere ‚Pflicht’ kann [...] nur definiert werden als diejenige Handlung, die mehr Gutes in der Welt zustande bringen wird als jede mögliche Alternative. Und was ‚richtig’ oder ‚moralisch zulässig’ ist, hebt sich hiervon nur ab als das, was nicht weniger Gutes zustande bringen wird als jede mögliche Alternative. (G. E. Moore, „Principia Ethica“, Reclam, Stuttgart 1970, S. 211).
65 Kants letzte Worte sollen gewesen sein: „Es ist gut.“ Vermutlich wollte er einer dienstbaren Person lediglich sagen, eine Dosis von irgendetwas habe genügt. Dennoch scheint es einer gewissen Schicksalsironie nicht zu entbehren, dass ausgerechnet dies die letzten Worte des berühmtesten abendländischen Ethik-Theoretikers waren.
66 Die Wurzel des Wortes khayr ist dieselbe wie in ikhtâra („auswählen“ oder „bevorzugen“) und kann angesichts der im Arabischen nicht selten vorkommenden Nutzung von Verbalsubstantiven für Passivpartizipien das „Bevorzugte“ im Sinne des „zu Bevorzugenden“ bedeuten, worin durchaus der Einsatz eines der Begriffe oder wenigstens Implikationen des Liebe-Lexems gesehen werden kann und sich auch auf dieser Ebene die Definition des Guten als das Liebenswürdige bestätigen würde.
67 Näheres zum Verhältnis der Begriffe des Wichtigen und des Würdigen findet sich in Eintrag §102.
68 Ebd.
69 Dieser letzte Satz ist als Ausspruch Mohammeds überliefert. Er habe ihn geäußert, als eine zunächst nicht genau erkennbare Person in der Ferne zu sehen war, als Ausdruck seines Wunsches, dies möge die genannte Person sein.
70 Angesichts eines Teils der Beispiele ist sogar fraglich, ob von einem Befehlsempfänger überhaupt immer sinnvoll die Rede sein kann. Darum wurde im Eintrag §14 („Eine Analyse des Imperativkonzepts“) von der korrelativen Einbindung eines Begriffs vom Adressaten zu Recht zunächst einmal nur bei typischen kommunikativen Imperativen ausgegangen.
71 Kant in „Die Metaphysik der Sitten“ (AA VI, S. 433): Was heißt: ich soll (etwas thun oder unterlassen)? Antw. Es ist nicht gut (wider die Pflicht) mehr oder auch weniger zu thun, als gut ist.. Etwas komplexer bei G. E. Moore in „Principia Ethica“ (§ 17), aber immer noch mit dem Begriff des Würdigen bzw. Guten als Drehachse: Man fragt ‚Was ist unter diesen Umständen eines Menschen Pflicht?’ oder [...] ‚Worauf sollen wir unser Streben richten?’ [...] Ein solches Urteil kann nur bedeuten, dass der in Frage stehende Handlungsverlauf das Beste ist, was man tun kann, oder dass bei solchem Verhalten alles Gute, das erreicht werden kann, auch erreicht wird.
72 Siehe hierzu den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“, Abschnitt „Implikationen“.
73 Ebd., Abschnitt „Ontische vs. Kontextualbegriffe“.
74 Nach aktuellem Stand existieren wohl noch keine eindeutigen Hinweise auf eine etymologische Verwandtschaft zwischen „Pflicht“ und dem wortgeschichtlich weitgehend im Dunkeln liegenden „plagen“. Dennoch sind gewisse formale Ähnlichkeiten etymologischer Geschwister und Vorgänger dieser Wörter auffällig („Pflicht“ hat Geschwisterformen wie engl. plight und dt. „pflegen“ und ähnelt hierin sehr der mittelhochdeutschen Vorform von „plagen“, pflage). Vgl. auch weitere etymologische Bedeutungen des deutschen Wortes „Pflicht“: u.a.  „Gefahr, Wagnis, Schaden“. (Friedrich Kluge: „Etymologisches Wörterbuch“, Berlin 1999, S. 626, Eintrag „Pflicht (1)“, S.634, Eintrag „Plage f., plagen“)
75 Das deutsche Verb „haben“ gilt als ein Durativum zu g. *haf-ja- ‚heben’ (Friedrich Kluge: „Etymologisches Wörterbuch“, Berlin 1999, S. 345, Eintrag „haben“). Damit liegt es äußerst nahe, dass mit dem Verb einmal ein Tragen und Aufsichhaben gemeint war. Zwar gehen Etymologen davon aus, dass beide parallel von einem älteren Wort abstammen, welches die Bedeutung „(er)greifen“ oder „fassen“ besaß, doch angesichts des wohl mehrmaligen wortgeschichtlichen Ineinandergehens der beiden Verben (Grimmsches Deutsches Wörterbuch) steht die genannte Deutung weiterhin im Raum. Indessen ist das Verb mit dem lateinischen habere weniger direkt verwandt, als es den Anschein macht.
76 s. Pfeifer et al. zu „führen“ und „fahren“
77 Bei Immanuel Kant (1724-1804) ist in seinen moraltheoretischen Hauptwerken („Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und „Kritik der praktischen Vernunft“) das Pflichtlexem mit einem Begriff verknüpft, der von unserem natürlichen abweicht, wie sich nicht nur in zumindest aus heutiger Sicht befremdlichen Sprachkonstrukten wie (Handlungen) aus Pflicht („aus Pflichtbewusstsein“ wäre vertrauter) bemerkbar macht, sondern auch in direkten Definitionen, in welchen anstelle des Handlungsbegriffs der Begriff der Notwendigkeit die Rolle des Ansatzpunkts einnimmt: Pflicht ist Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz (GMS, BA 14). Erst in einem seiner Spätwerke ist eine Definition zu finden, die dem natürlichen Begriff entspricht bzw. mit ihm harmoniert: Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. (Metaphysik der Sitten, Einl. IV)
78 Zur Differenzierung polarer und skalarer Würdigkeit folgt Näheres in Eintrag §46 („Säulen des Wertealls“).
79 Bemerkenswert ist, dass eines der wichtigsten Verben, anhand dessen sich im Arabischen Sollen ausdrücken lässt, inbaghâ („sich gehören“, „sich ziemen“, „sein sollen“) ist und dieses sich mit einer eine intransitive Bedeutung herstellende Form von baghâ ableitet, welches wiederum „(über-)begehren, wollen“ bedeutet.
80 Sekundär-apriorisch, weil Empirie zwar nicht an sich konstitutierend bzw. der primäre Faktor für dieses apriorische Sollen ist, aber durch die Abhängigkeit der Erkenntnis autoritativen Sollens von Kommunikation dennoch eine Rolle spielt, und zwar in der in Eintrag §12 angesprochenen Weise.
81 Dies sei vom z.B. im Nationalsozialismus aus rassenhygienischen und sozialökonomischen Erwägungen heraus verwendeten Konzept vom „unwerten Leben“ streng unterschieden. Aufgrund von Prinzipien, die an späterer Stelle dieses Repositoriums besprochen werden, würde sich die Würde des willensunfähigen Menschen trotz seiner „naturgegebenen“ Willenlosigkeit schon aus der reinen Zugehörigkeit zum (normalerweise ja willensfähigen) Menschengeschlecht speisen, sowie sich im Falle einer hierfür ursächlichen Behinderung eine Schutzwürdigkeit hinzugesellen. Ohne diese Faktoren läge allerdings nur verhältnismäßig wenig die Willensunfähigkeit Kompensierendes vor. - Die Richtigkeit der hier diskutierten Feststellung lässt sich anhand einer Abwandlung des Trolley-Problems veranschaulichen: Darin ist auf dem linken Gleis eine willensfähige unbescholtene Person an die Schienen gebunden, auf dem rechten ihr seit der Kindheit unwiderruflich willensunfähiger, eineiiger und sich nur hierin von ihr unterscheidender Zwilling. Dies alles ist dem Weichensteller, der außer dem Umlegen seines Hebels keine andere Handlungsmöglichkeit hat (auch nicht zum Würfeln o.ä.), bekannt. In anderen Situationen wäre die absichtsvolle Tötung egal welches von den beiden Menschen ein ungeheures Verbrechen. Durch die ungeheure Höhe des zugehörigkeitsbedingten Menschenwerts sowie andere Faktoren, wie z.B. die Betroffenheit von Verwandten u.v.m. ist der anzunehmende verhältnismäßige Unterschied im Wert (der sich durch Kenntnis von mehr - insbesondere personenbezogenen - Details sicherlich ganz anders darstellen mag, weshalb in anderen Situationen vorsichtshalber von Gleichwertigkeit auszugehen wäre) weit davon entfernt, unbegrenzt zu sein, doch es dürfte klar sein, nach welcher der beiden möglichen fatalen Weichenstellungen der Weichensteller mit den größeren Gewissensbissen geplagt würde.
82 Eines von vielen ähnlichen Beispielen aus der Realität, in welcher das Prinzip Anwendung findet: „Zweijähriger Julen tot im Brunnenschacht gefunden“. Nicht weniger passend ist die berühmte Geschichte von Hagar, der Mutter Ismaels, des Sohnes Abrahams, die in einer verlassenen und trockenen Wüstengegend in ihrer verzweifelten Sorge um ihr vom Verdurstungstod bedrohtes Kind sich unaufhörlich hin- und herlaufend abwechselnd auf die Spitzen der beiden Hügel Safa und Marwa stellte, um nach Menschen Ausschau zu halten, bis sie nach dem siebten Lauf den Engel bemerkte, der ihr den verborgenen Brunnen Zamzam zeigte.
83 Siehe hierzu die Ausführungen zur Empirik im Lichtwort-Artikel „Urteil und Erkenntnis
84 Siehe den Lichtwort-Artikel „Urteil und Erkenntnis
85 Ein anderes Thema ist, dass die Formulierungen doch noch für Sinnvolles stehen können, wenn in den Sätzen die jeweils erstgenannte Würdigkeit oder das jeweils erstgenannte (Nicht-)Dürfen ein aposteriorisches (z.B. ein menschengemachtes Gesetz) und das andere ein apriorisches. Ansonsten ist es offensichtlich, dass sie niemals die Standardmethodik ethischen Räsonierens repräsentieren können.
86 Ebd.
87 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der arabische Fachausdruck für das logisch Notwendige in Philosophie und Kalamtheologie wâjib lautet, was zugleich „Pflicht“ bedeutet.
88 Der Ehrwürdige Koran verwendet zur Bezeichnung des entschlossenen Glaubens den Terminus îmân und ordnet es dem qalb („Herz“) zu (Suren 5:41, 3:167, 4:155, 7:101, 10:88, 49:14, 57:16, 16:106). Für das passive Gewissheitsgefühl verwendet er hingegen istîqân und ordnet es der nafs (u.a. „Psyche“) zu (Sure 27:14).
89 Siehe „Begriffe als die eigentlichen Objekte innerer Haltungen“ in „Vom Begriff des Begriffs“.
90 An der Vorsilbe „emp-“, die nichts anderes als eine Lautangleichung aus der Vorsilbe „ent-“ ist, lässt sich gut sehen, dass es sich beim Empfinden gewissermaßen um ein Entnehmen und passives Aufnehmen handelt, während die Vorsilbe „be-“ in „befinden“ und „beurteilen“ zum Umgekehrten passt, nämlich zu einer aktiven Behandlung durch den Intellekt.
91 Im Arabischen steht für „verdienen“ das Verb istaħaqqa, das direkt von ħaqq abgeleitet ist, welches wiederum „Wahrheit“ und „Recht“ bedeutet. Der Objektivitätsanspruch bei der Verwendung des Verbs ist angesichts dessen offensichtlich. Die Etabliertheit dieses Sachverhalts in der Sprache einer ganzen Allgemeinbevölkerung ist ein starker Hinweis dafür, dass bei der Mehrheit der Menschen davon auszugehen ist, dass sie den Begriff hat.
92 Ein im hiesigen Kulturkreis vertrauteres Beispiel wäre das Tabu (insbesondere behinderte) Menschen nachzuäffen, und sei es auch in ihrer Abwesenheit und ohne ihr Wissen, so dass von ihnen keine Gefahr der Rache ausgeht, die als Begründung des Tabus taugen könnte.
93 Zahlreiche Stellen im Ehrwürdigen Koran, obgleich zur Demonstration historischer Musteranalogien auf lange vor Mohammed  vorausgegangene Propheten bezogen, gleichen Echos dieser Auseinandersetzung, besonders die Suren 7:70, 11:62, 11:87, 11:109, 14:10, 34:43.
94 Hier ist Narzissmus in seiner alltagssprachlichen Bedeutung gemeint, nicht die psychopathologische  Persönlichkeitsstörung.
95 Dem Autor ist bewusst, dass der kantische Gebrauch des Terminus der Transzendentalen Ästhetik nicht viel damit zu tun hat.
96 David Hume in „A Treatise of Human Nature“ (Buch III, Teil I, Kapitel I, S. 244-245), London 1874
97 Der verwendete Terminus der Implikation gilt an den Stellen seines Vorkommens in dem Eintrag der empirischen, kausalen oder sonstwie aposteriorischen, nicht aber in erster Linie der logischen Implikation. Er kann hier auch als oft dem Terminus des Phänomens zu bevorzugende Alternative betrachtet werden, zumal es sich bei vielen der „Phänomene“ um (Folge-)Wertbeimessungen handelt und als solche vielleicht als nicht direkt und an sich wahrnehmbar und somit womöglich strenggenommen non-phänomenal aufgefasst werden müssen.
98 Kommentar einer Sanitäterin in einem Sozialen Netzwerk zur Kritik an Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen: Männlich, 42, Landrover, die Polizei war sich nicht sicher, ob 265 km/h oder mehr, ich war die kleinste und passte ins Wrack hinein, sein Kopf war abgeschnitten, in der Hand noch sein Telefon, seine Frau schrie noch immer seinen Namen.
99 ... die sich hinsichtlich der Zuordnung von Unwürdigkeit übrigens vollständig invertieren lassen. Z.B. die Wahrnehmung von als unwürdig Eingestuftem, die Interaktion mit ihm und seine Nähe werden prinzipiell vermieden, es wertzuschätzen wird missbilligt etc.
100 Ab hier steht am Ende jedes Beispiels bzw. jeder Beispielgruppe in Klammern gefasst diejenige Ziffer, die gemäß der vorausgegangenen Auflistung zu der Implikation gehört, für die das Beispiel erbracht wurde.
101 Der Einwand, er könnte ja schon zuviele Kleidungsstücke mit dem Emblem zu Hause haben und fürchten, von seiner Umwelt weniger ernstgenommen zu werden, zählt nicht, da dann eines der beiden Hemden mit einem Nachteil einherginge und somit die beiden nicht in allen indirekten Aspekten gleich wären.
102 Das gegenteilige Phänomen, nämlich die Vernichtung all dessen, was an die geliebte Person erinnert, kann dennoch auftreten, weil es an den verhassten Schmerz der Trennung erinnert. Dann aber konkurriert die Wertschätzung der Wohlseligkeit und somit der eigenen Person mit der Wertschätzung der anderen Person, und sei diese noch so hoch, womit sie wiederum doch relativ niedrig ist.
103 Dies stellte der US-Ernährungspsychologe Paul Rozin fest, erwähnt in der Aprilausgabe 2005 der „tabula“-Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung.
104 Als ich einmal die Frage meines jüngsten Kindes, ob wie ihm auch mir ein von ihm im Kindergarten erlerntes Lied gefalle, verneinte, bestand es vehement darauf, dass auch ich es mochte...
105 Dass sich die Wertschätzung eines solchen Gegenstandes anders anfühlt, als wenn man ihn „selbst“ wertschätzte, lässt sich problemlos darauf zurückführen, dass weder in dem einen noch im anderen Fall die Wertschätzung eine solche um des Gegenstandes selbst willen ist. Im einen Fall ist sie eine solche um des Kindes willen, im anderen vielleicht um irgendeines Nutzens für die Elternperson willen.
106 Das prominente Entführungsopfer Nathalie Birli schildert, wie es ihr gelang, ihren Entführer dazu zu bringen, sie freizulassen: Mein Durchbruch war, als ich im Haus die vielen Orchideen gesehen habe. Ich hab' sie bewundert, und plötzlich war der Täter nett zu mir. Er [sei] Gärtner, hat er gesagt, und mir plötzlich über sein verpfuschtes Leben erzählt. (sueddeutsche.de, 26. Juli 2019)
107 Interessant ist auch, wie dies für Suggestionen in der philosophischen Literatur benutzt wird. So setzt beispielsweise Immanuel Kant den Begriff der Reinheit bewusst ein, um das Apriorische gegenüber dem Aposteriorischen hervorzuheben, indem er nur das von empirischen „Beimischungen“ Freie als „rein“ bezeichnet.
108 Gleichwohl lässt sich beobachten, dass Menschen im Falle ihrer Wertschätzung eines solchen die üblichen Implikationen ausschließenden Konzepts zumindest ab einem gewissen Grad der Wertschätzung zu substitutionellen Verhaltensweisen und ebensolchen Folgewertschätzungen neigen, z.B. indem sie das Konzept symbolisieren, verkörperlichen und/oder personifizieren und das entsprechende Verhalten  auf die jeweilige Verkörperung oder Personifikation statt direkt auf das Konzept selbst anwenden, um sich den Vollzug überhaupt irgendeiner der habituellen und sonstigen Implikationen doch noch zu ermöglichen; wenn diese schon nicht auf das abstrakte Konzept angewendet werden können, dann wenigstens auf einen Stellvertreter, wird hier das Motiv lauten. Nationalflaggen, Statuen und Götterkulte wie der römische um die sogenannte „Libertas“, aber auch die muslimische Schmückung von Moscheen und Wänden der Wohnung mit kalligraphischen Verschriftlichungen der Namen des Propheten und längst verstorbener herausragender Weggefährten desselben wären Beispiele, in denen sich dieses Prinzip manifestiert. Diese Beobachtung braucht im Übrigen nicht als eigene Implikation aufgeführt zu werden, da sie wohl von den bereits aufgeführten zur Genüge abgedeckt ist (Nr. 7, Nr. 17, Nr. 18, Nr. 13).
109 Ab hier steht am Ende einer Reduktionsplausibilisierung eine eingeklammerte Ziffer mit einem Minuszeichen für diejenige in der vorausgegangenen Auflistung enthaltenen Implikation, die aufgrund der Plausibilisierung als eigenständige, mit Gewissheit irreduzible Implikation ausscheidet.
110 Das Phänomen der Synästhesie sei hier außen vor gelassen.
111 Dem Kontext des freizeitlichen Besuchs des engsten Freundes sind beispielsweise andere Maßstäbe zugrundezulegen. Unter Freunden könnte ein allzu zugeknöpftes Auftreten sogar beleidigend oder zumindest irritierend wirken. Doch auch hier gibt es in der Regel Grenzen. Diese sind hier und in allen anderen Kontexten auch durch einen von einer gewissen Indirektheit geprägten Aspekt bedingt: Scham empfindet man ausschließlich vor Subjekten, denen man ein gewisses Mindestmaß an Würde (und somit Wert) zuordnet und deren Meinung über einen selbst in irgendeiner Form und zu irgendeinem Maß wichtig ist. Im Falle der Nacktheit wird dem Menschen diese Scham in den meisten Kulturen schon früh eingepflanzt, insbesondere durch die Erfahrung, dass man als Kind bei gewissen Entblößungen ausgelacht wurde oder selbt die Blöße Anderer als skurril empfand. (Selbst kleidungsärmste, indigene Kulturen kennen das schambehaftete Gefühl der Nacktheit, z.B. Amazonasvölker wie die Huaorani und Yanomami, deren traditionelle Bekleidung im Wesentlichen aus einer Hüftschnur besteht.) Daraus folgt, dass eine in der jeweiligen Kultur extrem unüblich geringe Bekleidung vor anderen Menschen ohne Grund und Anlass nur möglich ist, wenn einem ihre Meinung - und somit sie selbst - nicht sehr wichtig ist, ähnlich wie den meisten Menschen die Meinung ihnen und ihrer Bekleidung gegenüber vonseiten von Vieh nicht besonders wichtig ist.
112 Algazel (Abu Hamid al-Ghazaliy) geht in seinem populärsten Werk, „Belebung der religiösen Wissenschaften“ bzw. der Nebenfassung „Das Elixier der Glückseligkeit“  von fünf irreduziblen Ursachen der Liebe aus:
   Die erste Ursache oder Art der Liebe ist für ihn die Selbstliebe, zu der auch die Liebe zur Erhaltung der eigenen Selbstheit gehört. Die zweite Ursache ist ihm zufolge die Liebe von etwas Anderem außer sich selbst, aber um der eigenen Selbstheit willen, insbesondere wenn man von der anderen Entität Wohltaten empfängt. Die dritte Ursache ist die Liebe zu etwas Anderem nicht um der eigenen Selbstheit Willen, sondern eben um jenes Andere willen. Die vierte Ursache ist die Liebe zu etwas Anderem aufgrund seiner äußeren oder inneren Schönheit. Die fünfte Ursache ist die Liebe aufgrund von Ähnlichkeit und Verwandtschaft, sei diese eine äußere oder eine innere Ähnlichkeit oder Verwandtschaft.
   Was bei der Lektüre dieser fünf Ursachen vielleicht zunächst einmal verwirren könnte, ist, dass die vierte Ursache bei ihm die Liebe aufgrund der Wahrnehmung von Schönheit ist, aber er zur dritten Ursache bereits gesagt hatte, zu ihr gehöre die Liebe zur Schönheit, sodass bei oberflächlichem Lesen die dritte und die vierte Ursache für manchen nicht unterscheidbar sind. Die Auflösung steckt darin, dass in der Rede zur dritten Ursache die Liebe zur Schönheit nur ein Beispiel für die Liebe zu etwas um seiner selbst willen ist, während in der Rede zur vierten Ursache es nicht um die Liebe zur Schönheit geht, sondern um die Liebe aufgrund von Schönheit. Die Unterscheidung zwischen diesem dritten und vierten Abschnitt lässt sich auch so formulieren, dass es bei der dritten Ursache um Liebe zu etwas Anderem außer der eigenen Selbstheit um eben jenes Anderen selbst willen geht, und bei der vierten Ursache um Liebe zu etwas Anderem um etwas noch Anderem willen. Das fügt sich „logisch“ in die Reihe der Ursachen 1 bis 4 ein.
   Überblick: Ursache 1 ist Liebe zu sich selbst; Ursache 2 Liebe zu etwas Anderem um der eigenen Selbstheit willen; Ursache 3 Liebe zu etwas Anderem um dieses Anderen willen; Ursache Nummer 4 Liebe zu dem Anderen um etwas noch Anderem willen. Ursache Nummer 5 ist nun allerdings nicht nur etwas, das aus der logischen Reihe tanzt, sondern übrigens auch ein Stein des Anstoßes (s. folgende Fußnote).
   Seltsam scheint die Bezeichnung als Ursachen, wiewohl es eher angemessen schiene, stattdessen hier von Bedingtheitsformen der Liebe, oder von fünf anhand ihrer Ursachen bestimmten Arten von Liebe zu reden. Doch wenn Algazel z.B. schreibt, die Liebe zum Wohltäter sei eine Ursache von Liebe, dann ist das so zu verstehen, dass dem Menschen von Natur aus die Liebe zum Wohltäter eingepflanzt sei. Es lässt sich als Abkürzung dafür auffassen, dass die Natur des Menschen so beschaffen ist, dass er seinen Wohltäter liebt. Anders ausgedrückt: Eine Veranlagung zur Liebe zum Wohltäter ist Ursache der Liebe zu ihm. Solches äußert er an mehr als einer Stelle explizit, womit sich zeigt, dass sich auch Algazel bis zu einem gewissen Grad der Rolle der conditio humana  in der Ethik bewusst war.
   Bemerkenswert ist, dass, obwohl der Einteilung Algazels abgesehen von „Ursache 5“ zweifelsohne die besprochene logische Struktur zugrunde liegt und hiermit zu Ursache 4 der Anlassgeber der Liebe völlig abstrakt bleiben könnte, sich dieser für den großen Denker Algazel anscheinend dennoch völlig in irgendeiner Form von Schönheit zu erschöpfen scheint.
113 Was den „Stein des Anstoßes“ in dem vor Algazels Genialität und Geistfülle strotzenden Kapitel „Von der Liebe“ betrifft, so wird Ursache 5 als ein solcher Stein erst vollends sichtbar, als der Autor alle fünf Ursachen der Liebe einschließlich dieser fünften Ursache später der Liebe zu Gott zugrundegelegt zu werden idealisiert und obendrein diese fünfte Ursache über alle anderen Ursachen erhebt. Er besteht in dem Fehler, die fünfte Bedingtheitsform der Liebe für ebenso irreduzibel wie die anderen zu halten, wiewohl sich Liebe aufgrund von Ähnlichkeit und Verwandtschaft problemlos auf die erste Bedingtheitsform, nämlich die der Selbstliebe, zurückführen lässt: Zum einen, weil der einem Ähnliche einen an einen selbst erinnert und man sich zu einem gewissen Grad selbst in ihm wiedererkennt, und zum anderen, weil Eigennutz nebst Sicherung und Erhöhung eigener Wohlseligkeit damit verbunden ist (z.B. können Angehörige desselben Berufes auf diese Weise Erfahrungen austauschen, die Kommunikation fällt aufgrund einer gemeinsamen Milieuzugehörigkeit leichter etc.). Theologisch fatal könnte sich diese Fehleinschätzung bei der Suche des Autors nach dieser Ursache in der Liebe zu Gott ausgewirkt haben, zumal sich für ihn auch hier die Liebe aufgrund von Verwandtschaft und Ähnlichkeit hinzugesellt und eben dafür eine (verborgene) Verwandtschaft und Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch postuliert werden muss, was, wie sich zeigen lässt, idealer Gottesliebe vielmehr widerspricht als ihr zu entspringen, auch wenn der Autor dem Anschein nach meinte, mit dem bloßen Ausschluss physischer Ähnlichkeit u.ä. sei dem Grundsatz der grenzenlosen Unvergleichlichkeit Gottes Genüge getan. (Ein Ansatz zu seiner Verteidigung könnte sein, dass er wenigstens bei der Anwendung des Prinzips der fünften Ursache auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch vermeidet, ausdrücklich von Ähnlichkeit - mushâbahah - zu sprechen, und stattdessen vorwiegend von munâsabah redet, was Hellmut Ritter mit „Verwandtschaft“ übersetzt und in dieser Bedeutung theologisch zwar ebenfalls inakzeptabel wäre, jedoch auch einfach „zueinander passen“ bedeuten kann.)
   Dieser und weitere Kritikpunkte oder wenigstens Missverständlichkeiten in Algazels Werk „Belebung der religiösen Wissenschaften“ bzw. „Das Elixier der Glückseligkeit“ sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Werk von ihnen abgesehen zur großartigsten Literatur gehört, die in der islamischen Geistesgeschichte von einem Gelehrten je produziert wurde.
114 Als von der Psychologie wissenschaftlich belegt gilt, dass ein großer Teil der sinnlichen Aversionen des Menschen nicht angeboren ist, sondern mit der Sozialisation erworben wird. Ein unabstreitbarer Anhaltspunkt für die soziale Beeinflussbarkeit des menschlichen ästhetischen Empfindens ist zudem allein schon die Existenz des Akts des Preisens, der ohne eine solche Beeinflussbarkeit sinnlos wäre. Insofern ist Preisung der Versuch, das eigene ästhetische Empfinden auf andere Individuen zu übertragen bzw. die gleiche Empfindung in ihnen hervorzurufen und dadurch ihren Empfindungszustand zu modifizieren.
115 Gerade die metaphysischen Voreiligkeiten oder gar Übertreibungen vieler Philosophen und das allzeitliche Florieren esoterischer Wirtschaftszweige kommen nicht von ungefähr.
116 Kein Widerspruch, wenn die Intelligenz hauptsächlich zur Verfolgung der Instinkte eingesetzt wird.
117 ... wobei in der Realität solche Korrelationen von den Menschen in „sozialstrategischer“ Absicht regelmäßig verfälscht werden. Nicht umsonst verneinte Mohammed  die Frage, ob man bei der (gewöhnlichen) Begegnung mit einem Kameraden diesen umarmen oder küssen solle, und bejahte dafür die Frage, ob man ihm die Hand reichen solle. Darüber hinaus ermutigte er zum freundlichen Lächeln.
118 Für den Fall, dass die wahre Natur eines Gegenstandes unmöglich für jemanden fassbar ist, muss seine Natur in der subjektiven Auffassung des Akteurs genügen, solange diese Auffassung typischerweise praktisch alle Menschen im Rahmen ihres Umgangs mit dem Gegenstand von seiner Natur zu haben gezwungen sind.
119 Es geht nicht nur um Sein und Sollen, als vielmehr um Fakten und ethische Wertungen allgemein, siehe Eintrag §33.
120 Zur Gewissheit und Notwendigkeit hergeleiteter ethischer Urteile siehe §55.
121 Die Beschränkung auf die Sprache der Bezugnahmen auf Akte und aktionale Haltungen bringt es mit sich, dass diese Normenmenge kein einziges Urteil über einen nicht-aktionalen Gegenstand enthält, außer indirekt in Urteilen, nach denen die Bildung eines ethischen Korrelats mit non-aktionalem Gegenstand obligat ist. Notativ wäre hier das offensichtlich damit einhergehende Problem des Overheads und der Redundanz zu lösen. Ein weiteres Problem dieser Herangehensweise ist die Schwierigkeit, zwischen den obligaten Akten eine Rangordnung für Konfliktfälle herzustellen, ohne für jeden denkbaren Konfliktfall die obligate Verhaltensweise anzugeben, was sich schier unermesslich kompliziert gestalten würde.
122 Immanuel Kant in der Vorrede zu seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, BA VIII, IX
123 Andererseits räumt er perspektivabhängig empirisch-kausalen und  anthropologischen Faktoren durchaus einen Platz ein (GMS, BA 123-124).
124 Der möglichen Kritik, dass es am Anfang des Satzes „Letzteres lässt sich so sagen“ statt „Letzterem ist so“ hätte heißen müssen, möchte ich folgendermaßen begegnen: Der orangene Balkon gegenüber meinem Fenster besitzt nach unserem heutigen Erkenntnisstand aus der Physik das Orange nicht an sich und als physikalisches Objekt - er reflektiert lediglich Licht mit einer rein quantitativ definierten Wellenlänge -, sondern es ist mein Eindruck, den ich von dem Balkon in meinem Bewusstsein habe, der qualitativ orange ist. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, dass auch ein physikalischer Gegenstand an sich qualitativ orange sein könnte (auf der selben Ebene wie eine objektive Eigenschaft von ihm wie Ruhe oder Bewegung), und sei es auch in nur seltenen Fällen, wäre es zu Zwecken der Differenzierung sinnvoll, vorsichtshalber zu erwähnen, dass hier bloß eine Redeweise vorliegt. Es ist aber ontologisch ausgeschlossen, dass ein physikalisches Objekt als solches qualitativ objektiv orange ist, so dass sich eine differenzierende Redeweise weitgehend erübrigt. Der Balkon ist also tatsächlich orange, wenn auch nicht an sich und als physikalisches Objekt.
125 Ein Beispiel für den aus stochastischen Gründen im Vergleich zu False-Friend-Vokabeln seltenen Fall solcher False-Friend-Sätze wäre der folgende Satz, für den sich ohne Wissen um Sprache und Kontext die Bedeutung nicht eindeutig angeben lässt, ob ihm zufolge ein gewisser Donald in der Hölle sterben oder aber lediglich Schuhe in heller Farbe bevorzugt: „Donald will die in Hell.“ (Gelegentlich wird das Wort „hell“ im Englischen als Eigenname gesehen und groß geschrieben.) Ein Beispiel, das von der Schreibweise unabhängig ist und auf das Akustische abzielt, wäre der englische Satz „Here's a nest for mice“, der sich mit dem passenden Akzent fast exakt so anhört wie der deutsche Satz: „Hirse nässt vor Mais.“ Auch ist beim ersten Hören nicht unbedingt klar, ob der englische Satz „I missed Mark's gift“ nicht doch eine Schlagzeile über ein wissenschaftliches Wunder ist („Ei misst Mark's Gift“)...
126 Je größer die Anzahl der Teilnehmer, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie alle „gesund“ sind. Steht man nur einem Teilnehmer gegenüber, beträgt sie ohne Weiteres 50% (in Rücksicht auf statistische Verhältnisse in der Gesellschaft natürlich eher 99%).
127 Aus welchem Grund oder Anlass und mit welchem Ziel das geschieht, kann hier unbeachtet bleiben, auch wenn eine Erfahrung eine Rolle spielen mag, nach welcher intellektuelle Wertschätzungen (in solchen besteht die Affirmation oder mündet in sie) emotionale Wertschätzungen wiederum nach sich ziehen, so dass das Ziel zugrunde liegen kann, die Dauerhaftigkeit einer emotionalen Wertschätzung durch die Reduzierung ihrer Abhängigkeit von ihren bisherigen rein naturalen Bedingungen sicherzustellen, sie zu konsolidieren und dafür zu sorgen, dass die Stabilität der Haltung zu einem bestimmten Gegenstand gewahrt bleibt, zumal Inklinationen und emotionale Dispositionen neutralisierend überlagert oder mit der Zeit nachlassen können.
128 Weiteres zum Konzept der Intellektualprojektion in Eintrag §52.
129 Eine Rolle spielen könnten: 1.) Zu welchem Zweck der Intellekt die Affirmation vornimmt (z.B. zur Sicherung der Beschäftigung mit dem Gegenstand ihres Gegenstands gegenüber anderen, um die Ressourcen des Individuums konkurrierenden Gegenständen), so dass sich ohne die zwecksichernde Nachzeichnung der Kaskade ein Widerspruch ergäbe. 2.) Möglicherweise erzeugt der Intellekt bei der Betrachtung von Folgeinklinationen lediglich bedingte Wertbeimessungen (S), wobei die Bedingung ist, dass aus irgendeinem Grund (hier: Naturnotwendigkeit) Folgewertschätzungen als Bestandteil der ursprünglichen Wertschätzung zu betrachten sind, d.h. dass für ihn den anderen Gegenständen Wert zukommt, sofern ihre Wertschätzung als unzertrennlicher Teil der Wertschätzung des ersten Gegenstands gedacht wird.) 3.) Dass der Intellekt zwar womöglich zunächst keine Nachzeichnung der Kaskade vollzieht, aber dennoch empirikbasiert erkennen kann, dass bei Fehlen einer Inklination (aus seiner Sicht: einer Wertschätzung) eine andere Inklination (aus seiner Sicht: eine andere Wertschätzung) fehlt, und diese Abhängigkeit gemeinsam mit ihrer Erkennbarkeit rein methodisch behandelbar ist als intellektuelle Folgewertschätzung.
130 Zur Unterscheidung zwischen ontischen und kontextuellen Begriffen siehe den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs
131 Sie lassen sich auch „ungerechte Bezugnahmen“ nennen, mit „gerecht“ in einer sehr ursprünglichen Bedeutung des Wortes, nämlich etwa im Sinne von „(hier: der Würdigkeit des Gegenstands) angemessen“.
132 Die Möglichkeit heliographischer Schatten der Vernunft in Form von KI steht dem nicht entgegen.
133 Das am nächsten Kommende kann darin bestehen, dass lediglich so viele der methodisch erforderlichen Schritte wie möglich vollzogen werden, oder darin, dass lediglich ein so ähnliches Ergebnis erzielt wird wie möglich.
134 So wird, wenn Händeschütteln in üblicher Form wegen nasser oder fettiger Hände nicht möglich ist, einem der Handgelenkknöchel zum Schütteln angeboten, und in der Covid-19-Pandemie breiteten sich der Stoß von Faust gegen Faust und die Berührung der Ellbogenknöchel als Ersatz aus; auch das Winken allgemein ist eine Ersatzhandlung, die in gewöhnlichen Zeiten aus nächster Nähe extrem unüblich ist; jemandem einen Gruß ausrichten zu lassen, soll ansatzweise den persönlichen Besuch ersetzen... Noch deutlicher wird das hier zugrundeliegende anthropologische Charakteristikum im Zusammenhang mit religiösen Ritualen: So soll vielen Juden das tägliche Amida-Gebet, weil sie sich außer Stande sehen, das tägliche Tieropfer nach Num 28,1-5 zu erbringen, als Ersatz hierfür gelten und sie es in der Absicht der Opferung von Zeit anstelle eines Tiers beten; ist der Wunsch eines Juden, in Israel begraben zu werden nicht erfüllbar, legt(e) man dem Verstorbenen ein Säckchen Erde aus dem Heiligen Land unter den Kopf; die christliche Gestik der Bekreuzigung lässt sich als approximative Ersatzhandlung für eine im Alltag zu viele Schwierigkeiten nach sich ziehende farbliche Selbstbemalung mit dem Kreuzsymbol oder für ein physisch-materielle Kreuze einbindendes Ritual ansehen; nach den Gelehrten des Islam hat der Kranke die den ursprünglich vorgeschriebenen am nächsten kommenden ihm nicht zu schweren Bewegungen des rituellen Pflichtgebets auszuführen, so dass ein am ganzen Körper Gelähmter die Verneigungen und das Niederstirnen wenigstens mit den Augenlidern nachzuvollziehen hat; eine Gruppe von Mekka-Pilgerern, welche die tayammum-Regelung wohl nicht kannte oder der diese anzuwenden nicht möglich war, wurde einmal (ohne ihr Wissen) dabei gefilmt, wie sie die rituelle Gebetswaschung mit den bloßen typischen Waschbewegungen und ohne Wasser simulierte. - David Ben-Gurion schien dieses Prinzip unterbewusst präsent gewesen zu sein, als er die unter Voraussetzung des eigenen Volkes als finaler Wertträger theoretisch bestehende, praktisch jedoch unmöglich zu erfüllende Pflicht der Wiederbringung der vernichteten Vorfahren mit dem diesem am nächsten Kommenden, nämlich der unablässlichen Arbeit an der Verunmöglichung und Aufrechterhaltung der Unmöglichkeit der Wiederholung der Katastrophe zu ersetzen hochhielt: Wir können unsere Väter und Mütter nicht auferwecken, aber unsere Pflicht ist (wenigstens), zu sichern, dass solches Unheil nie wieder geschieht.. (D. Ben-Gurion in einer Rede anlässlich eines Besuchs des UNRRA-Lagers in Eschwege am 16.10.1946 laut der Inschrift des Eschweger Ben-Gurion-Denkmals; Eingeklammertes nachträglich.)
135 Die Bezeichnung als Ismen dient lediglich dazu, die Kategorie der Ideale von derjenigen des ethischen Satzes zu unterscheiden, der auf ein Ideal Bezug nimmt (z.B. ist Weisheit ein Ideal und der sie bewertende Satz |Weisheit ist würdig| sei der dazugehörige Idealismus), und die Kategorie der Realitäten (S) von dem auf eine Realität (S) Bezug nehmenden ethischen Satz zu unterscheiden (z.B. ist die Umwelt eine Realität und der sie bewertende Satz  |Die Umwelt ist würdig| sei ein Realismus).
136 Vgl. G. E. Moore, „Principia Ethica“, Reclam, Stuttgart 1970, S. 36
137 Die Setzung einer hinzukommenden „halben“ Dimension soll der Tatsache Rechnung tragen, dass im Werteraum zum einen, anders als vom Materieraum vertraut, mehrere Dinge zugleich ein und dieselbe Position innehaben und an ihr „Platz“ haben können, zum anderen ohne aber ihre Positionen in einer zweiten Dimension nicht differenzierbar wären. Von - wenn überhaupt - untergeordneter Relevanz ist, ob anstelle eines Werteraums nicht doch lieber die Idee eines Geistraums zugrundegelegt werden sollte, in welchem der Werteraum nur eine von mehreren Dimensionen ist, wie auch in der relativistischen Physik der Zeitraum als vierte zu den Dimensionen der Raumzeit hinzutritt.
138 Der Gedankengang der Analyse setzt bei dem axiomatischen Ausgangspunkt an, dass sich ein physikalisches Objekt durch die Veränderung seiner bloßen raumzeitlichen Position selbst in seinem Wesen nicht ändert. Da im Falle einer Positionsveränderung eine Veränderung nun mal vorliegt und eine Veränderung von nichts keine Veränderung ist, sich folglich nicht nichts verändert hat, muss die Existenz einer oder mehrerer nicht oder nicht auf dieselbe Weise wie das Objekt sichtbarer Sekundärentitäten angenommen werden, in welchen die Veränderung an ihrem Wesen stattfindet. Da Positionsveränderungen quantitativer Natur sind und diese am Wesen von etwas, wenn auch auch nicht direkt am Wesen des Objekts, stattfinden, muss diese Veränderung eine Veränderung der Anzahl der sekundären Entitäten sein und in ihrer dem Grad der Positionsveränderung genau entsprechenden teilweisen Entstehung oder Vernichtung bestehen, oder in etwas, was mit Entstehung und Vernichtung in diesem Kontext äquivalent ist, z.B. in der Herstellung und Aufhebung der Verknüpftheit eines Teils der Menge mit der Substanz des Objekts. Die Anzahl gehört der Menge der natürlichen Zahlen an, ist also stets ganzzahlig und positiv.
139 Damit dies nicht als Konflikt mit Ausführungen in Eintrag §18 erscheint, wo ein unendlicher subjektiver Wert der vollkommenen Wohlseligkeit ausgeschlossen wird, ist zu berücksichtigen, dass dort keine Frage zur intellektuellen Organisation behandelt wird, sondern eine zur neigungssystemischen Dynamik, die zur Begreifbarmachung des Sachverhaltes in Begrifflichkeiten der intellektuellen Organisation lediglich eingekleidet wird. Immerhin ist vom Vorhandensein der dort beschriebenen Dynamik auch bei zahlreichen intellektlosen Lebensformen auszugehen, die kaum zur Bildung des Begriffs des unendlichen Wertes fähig sein werden, und aus naheliegenden Gründen auch nicht zur sinnlichen Vorstellung von irgendetwas Unendlichem (wie auch nicht einmal intellektbegabte Lebewesen).
140 Spätere Ausführungen des Eintrags erhärten dies.
141 Zur syntaktischen Klärung: Bei Einsatz des Verbs „darstellen“ anstelle von „sein“ lautete der Ausdruck: „das diesen Baum nicht Darstellende“.
142 Das Ausbleiben des Tuns (z.B. Schwimmen) sei vorerst als bloße Implikation vermerkt, und begrifflich nicht als damit, das Tun nicht zu tun (z.B. nicht zu schwimmen) selbst identisch, da Tun bedeutet, tuend zu sein (z.B. schwimmend zu sein) bzw. ein(e) Tuende(r) zu sein (z.B. ein Schwimmender zu sein), so dass die Verneinung davon die Verneinung einer Identität oder kategorialen Zugehörigkeit darstellt, nicht aber die der realen Gegebenheit.
143 Der Faktorbegriff wird hier lediglich zu Zwecken der deutsch-grammatischen Klarheit eingebunden.
144 Gegen die Bezeichnung von Taten als Eigenschaften oder Zustände möchte eine von lokalen Sprachgewohnheiten geprägte Intuition vielleicht protestieren. Für Eigenschaften und Zustände könne man ja nichts, jedenfalls nicht direkt, für Taten schon, mag man hier einwenden wollen. Die Gewohnheit geht also darauf zurück, dass man im Angesicht einer Tat (der Einfachheit halber?) normalerweise eine ihr zugrunde liegende Willentlichkeit (V) unterstellt. Hier aber möge unter einer Tat vorerst nur eine Aktivität unter Ausblendung einer evtl. zugrunde liegenden Willentlichkeit (andererseits ohne sie auszuschließen) verstanden sein, wie man sie beispielsweise beim Schlafwandeln tun könnte, oder wie sie in der Aktivität eines seelenlosen Vulkans oder in der Instinkthandlung eines Tieres vorliegt. Die ethische Relevanz dieses Verständnisses und dieser Einfachhaltung des Tatbegriffs besteht u.a. darin, dass man verpflichtet sein könnte, auch seine eigenen, an sich unwillentlichen Taten im Voraus zu verhindern. - Diese Auffassungsmöglichkeit wirkt für deutsche Sprachgewohnheiten fremd, wenn sie auch in Redewendungen, wie dass jemand „gut lachen“ oder „gut reden“ habe, durchaus überlebt zu haben scheint. Anderen Sprachen ist die Möglichkeit der Behandlung von Aktivitäten als Eigenschaften noch weniger fremd, z.B. dem Arabischen. In Sure 10:21 des Ehrwürdigen Koran heißt es beispielsweise für „sie agitieren planvoll“ wörtlich „sie haben planvolles Agitieren“ (lahum makr), oder in 7:148 für „es blökt(e)“: „es hat(te) Blöken“ (lahû khuwâr).
145 Nicht zu schwimmen ist kein Schwimmen, also kein Schwimmendsein, also kein Schwimmendsein Seiendes.
146 Man könnte denken, dass bei drei oder mehr Wegen Ad in die Unwürdigkeit hinabgezogen würde, weil sie die Behinderung der Durchschreitung von Wegen enthielte, auf die zwei Drittel des Wertes oder (je nach Anzahl der Wege) noch mehr entfiele, während sie nur ein Drittel oder (je nach Anzahl der Wege) noch weniger hätte. Jedoch kommt ihr ausgleichend zugute, dass sie nun zugleich Durchschreitungen behindert, von denen jede ihrerseits die Durchschreitung einer höheren Anzahl von Wegen behindert.
147 Außerhalb des für Pflicht X spezifischen Kontextes befindliche Handlungen, deren Durchführung durch die Beschreitung eines Weges zur Erfüllung von Pflicht X verhindert wird, werden, wenn X eine wahre Pflicht ist, zu Recht aufgehalten, da sie sonst die Erfüllung von Pflicht X behindern; die Durchschreitung keines der Wege wird hierdurch in die Unwürdigkeit (V) hinabgezogen. Die aufgehaltenen Handlungen sind also Unwürdigkeiten, worüber die eventuelle Würdigkeit (V) ihrer allgemeineren Formen nicht hinwegtäuschen sollte. Z.B. ist die Versorgung der Schürfwunde eines verletzten Rehs durch einen Rettungsschwimmer, während im See nebenan ein Mensch im Wasser gegen das Ertrinken kämpft, eine Unwürdigkeit, auch wenn die allgemeinere Form hiervon, nämlich Handlungen der Tierliebe, eine Würdigkeit (S) ist und ihre Position in der Wertehierarchie nicht verändert (auch nicht infolge der Situation).
148 Man denke an das sprachliche Problem, ob ein Komparativ für zwei Gegenstände möglich ist, von denen nur einer die betreffende Eigenschaft besitzt und der andere überhaupt nicht statt nur in geringerem Maße.
150 In einer Studie, welche mit Unterstützern der amerikanischen Parteien der Demokraten und der Republikaner durchgeführt wurde, soll man festgestellt haben, dass sich die subjektive Wahrnehmung von Politikern in ästhetischer Hinsicht abhängig davon unterscheiden kann, ob der Wahrnehmende die politische Einstellung der jeweiligen Persönlichkeit teilt oder diese ihm zutiefst zuwider ist.
151 Liest man den folgenden Vers (9:126) im Ehrwürdigen Koran, könnte man sich schon fragen, ob er nicht genau darauf anspielt: Sehen sie denn nicht, dass sie in jedem Jahr einmal oder zweimal versucht werden, ohne dass sie sich sodann bekehren oder nachsinnen?
152 Im Ehrwürdigen Koran (Sure 67:2) heißt es: Segensreich gepriesen sei derjenige, in dessen Hand das Königreich ist, und der zu allem äußerst imstande ist; der den Tod und das Leben erschuf, um euch zu prüfen, wer von euch vortrefflicher im Werk ist.
153 Es ist zwischen Dank und Dankbarkeit zu unterscheiden, bzw. zwischen dem Dank im Sinne der Danksagung oder Dankestat und dem Dank im Sinne tiefer Dankbarkeit. Ersteres anzustreben, verringert den ethischen Wert einer Handlung (d.h. erweist die Geringwertigkeit der Handlung), da es dem hauptsächlich mit einer solchen Motivation Handelnden mit seiner Handlung in Wirklichkeit um seine eigene Person geht, weshalb der Ehrwürdige Koran die Mildtätigkeit wahrhaft frommer Menschen zu Recht vom Streben nach solchem Dank freispricht (Sure 76:9). Davon ist die tiefe Dankbarkeit zu unterscheiden, die dem Leid des Mildtätigen, das er mit den Lebewesen in der Welt empfindet, als Zeichen der positiven Wirksamkeit seiner Handlung zum Anlass gereicht, sich wenigstens kurzfristig zu verringern, und außerdem insofern wohltuend wirken kann und darf, als sie zu erleben für ihn außerdem ein Indikator dafür ist, seine Wohltat jemandem zuteil werden gelassen zu haben, der eher als eine undankbare Person verdient hat, so dass man durch die Wohltat nicht den bösesten Teil der Menschheit gefördert hat.
154 Siehe Eintrag §47.
155 Die hier implizierte Möglichkeit der Bewertung hebt natürlich nicht die Feststellung aus Eintrag §11 auf, dass es letztlich nicht das Vorhaben - auch nicht das Ultimativvorhaben - ist, was der Handlung ihren Wert verleiht. Es ist hier höchstens eine ratio cognoscendi dieses Wertes, nicht aber seine ratio essendi.
156 Anregen ließen sich: 1.) die Unterscheidung zwischen einer intentio abstracta und einer intentio concreta. 2.) Diskursrelevante Absichten. 3.) Die Annahme einer „Intellektualbrille“, die unabhängig von der konkreten Situation, insbesondere auch im Nachhinein ohne die Interpretation als Würdigkeitszuordnung nicht auskommt.
157 D.h. welche von zwei gleichstarken Motivationen konfligierender Vorhaben in Aktion treten...
158 Siehe Eintrag §38.
159 Für die Postulierbarkeit der Verantwortlichkeit des Menschen muss hier keine Selbstprogrammierung vorliegen; auch bedeutet Programmierung nicht, dass jedes Individuum stur jeden Befehl voll ausführen muss. Vielmehr genügt für die Postulierbarkeit die frühe Abbruchmöglichkeit auf der inneren Ebene.
160 Wortgeschichtlich verbergen sich im deutschen Verb „befehlen“ die Bedeutungen „sinken“, „einsenken“, „versenken“, „eingraben“, „dringen“, „(in etw.) hineindringen“ und „hineinlegen“. Die Bedeutung des Hineinlegens ist in der berühmten Redewendung In deine Hände befehle ich meinen Geist unverändert gegenwärtig. Offensichtlich ist somit die wortgeschichtliche Harmonie mit der konzeptionellen Auffassung von Befehlen als „Hineinlegen“ einer Proposition in einen „Behälter“, als auch mit den Ausführungen in Eintrag §14, in welchen sich ein Befehl insbesondere von seinem Zweck her gewissermaßen darstellt als das versuchsweise „Eindringen“ des Befehlenden in den Körper einer anderen Person, um nach dem Sockenpuppenprinzip anstelle ihres Personenkerns ihren Körper zu bewegen... Ebenfalls zu finden ist die Bedeutung des Anvertrauens, durch die sich die im Rahmen eines Befehls transportierte Idee als etwas darstellt, bei dem es dem Empfänger überlassen ist, was er damit macht. Dies deckt sich damit, dass ein Befehl zumindest beim gesundenen erwachsenen Menschen zwar schon den Charakter eines Steuerungsversuchs hat, aber eben nicht wie bei einem domestizierten Tier oder einem Roboter, sondern die befehlende Person allenfalls auf die Übereinstimmung des Willens des Befehlsempfängers hoffen kann (s. Pfeifer et al.; Kluge 1999).
161 Epistemische Korrelate bestehen im Wesentlichen aus Begriffen, und da diese sinnlich nicht direkt wahrnehmbar sind, werden sie sicherlich auch nicht direkt mit einem sinnlichen Wertcharakteristikum versehen. Dieses ist darum ausschließlich als Auszeichnung einer sinnlichen Vorstellung zu erwarten, was in der Regel selbst bei vom noch nur wenig erforschten Syndrom der Aphantasie betroffenen Personen der Fall sein dürfte. Denn 1.) meist beschränkt sich ihre Unfähigkeit, sich etwas sinnlich vorzustellen, auf einem bestimmten (z.B. dem visuellen) Sinn zugehörige Vorstellungen, während sie zu anderen (z.B. taktilen, akustischen, olfaktorischen oder introspektiven) Vorstellungen durchaus fähig sind, und für die beschriebene Imperativwirkung ist es nicht notwendig, dass die evozierte Vorstellung dezidiert visueller Art ist. 2.) Zumindest im Falle der kongenitalen Aphantasie ist das Hauptproblem der Patienten anscheinend nicht so sehr, dass ihr Inneres keine Bilder produzieren kann (z.B. visuelle Träume und Fieberhalluzinationen können vorkommen), als vielmehr, dass sie diese nicht willentlich in sich hervorrufen können (das Lesen von Romanen sei für sie darum grundsätzlich eine zutiefst langweilende Prozedur). Für die Imperativwirkung ist allerdings keine vom Adressaten willentlich in sich hervorgerufene Vorstellung nötig, denn diese würde unwillentlich, und sei es kurzfristig evoziert. 3.) Aphantasie ist häufig nicht absolut, sondern lediglich ein sehr geringer Grad an Vorstellungsfähigkeit. 4.) Es sollte in Betracht gezogen werden, ob das Hauptproblem in der Regel nicht die Konstruktion vollständiger und dauerhafter Szenarien, während extrem detailarme, bruchstückhafte und/oder fragile visuelle Vorstellungen ansatzweise möglich sind. 5.) Malerische Gesten und spontane, innovativ-bildhafte Rhetorik von Betroffenen in Gesprächen legen nahe, dass sie sehr wohl zumindest flüchtige Vorstellungen haben. 6.) Der Überzeugung, sich nichts vorstellen zu können, könnte zugrunde liegen, dass sie beim Versuch, sich selbst auf Imaginationsfähigkeit hin zu überprüfen, sich lediglich sozusagen blockieren und kein Erleben des inneren Erlebens zustande kommt und auch keine Erinnerung daran, d.h. nur im Moment der inneren Selbstbeobachtung die inneren Bilder auszubleiben scheinen, d.h. die eigentliche Unfähigkeit diejenige zur Wahrnehmung der eigenen (inneren) Wahrnehmung ist. 7.) Bei einigen sind Fehldiagnosen möglich, weil sie irrtümlich davon ausgehen, dass gesunde Menschen mit geschlossenen Augen Halluzinationen ähnliche, „echte“ Bilder produzieren können. Die zu hohe Erwartung an sinnliche Vorstellungen wäre hier der Grund, warum sie meinen, sich nichts vorstellen zu können.
162 Das „Online Etymology Dictionary“ (OED) sagt im Eintrag empireimperare "to command," from assimilated form of in- "in" (from PIE root *en "in") + parare "to order, prepare" (from PIE root *pere- (1) "to produce, procure"). Hier ist somit tatsächlich eine Bedeutung gegenwärtig, nach welcher ein Akteur im Inneren eines anderen Individuums etwas produziert oder herbeiführt, oder etwas hineinbringt. - Laut OED bedeutete das englische Wort für „empfehlen“, „to recommend“, ursprünglich: praise, present as worthy. Interessant ist in dieser Beziehung auch die veraltete Sitte der Verabschiedung mit den Worten: „Ich empfehle mich.“ Bei Grimm wurde in ähnlichen Redeweisen noch früher übrigens statt „empfehlen“ das Verb „befehlen“ eingesetzt (der herr graf läszt sich ihro gnaden höflichst befehlen). Damit meinte man wohl so etwas wie: „Bitte erinnern Sie sich an mich. / Vergessen Sie mich nicht.“ Die Sitte gab es offenbar auch im angelsächsischen Kulturraum; zu „to commend“ heißt es im OED: Sense of  ‘commit, deliver with confidence’ in English is from late 14 c. Meaning  ‘bring to mind, send the greeting of’ is from c. 1400. Letzteres in dem Zitat lässt sich gut als im Rahmen der in Eintrag §39 behandelten Grundimplikation liegend ansehen, dass eines Wertgeschätzten und als würdig Anerkannten mehr gedacht wird als eines Sonstigen. Zudem wirkt der Charakter einer Redewendung wie „Ich empfehle mich“ so performativ, dass sich hierdurch vor dem etymologischen Hintergrund das Empfehlen und somit auch das Befehlen als mitteilungsfreier, reiner Akt zu bestätigen scheint. - Gewisse Sprachzeugnisse sprechen indessen dafür, dass die Redewendung elliptisch für „Ich empfehle mich in...“ steht, so dass wie beim Befehlen die Bedeutungen des Hineinlegens, Versenkens und Anvertrauens gegenwärtig sind, z.B. in: Ich empfehle mich in deine unerforschliche Weisheit. oder Ich empfehle mich in deine mildreicherte Gütigkeit. oder Ich empfehle mich gehorsamst ihrer Gunst und Gnade. Der Abschiedsspruch mag angesichts des in diesen Beispielen anklingenden Sich-Hineinlegens im Sinne von Hingabe indirekt doch eine Mitteilung mit sich führen, nämlich ein untertäniges „Ich bin Ihnen ein treuer Diener“, oder direkter und zugleich eher performativ: „Ich lege mich in Ihr Gedächtnis ab.“ (Vgl.: Ich empfehle mich dem geneigtesten Andenken der Frau Kriegsrätin.)
163 Siehe hierzu (§102) im Appendix „Lexikologie der Würdigkeit“.
164 Immanuel Kant in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Königsberg 1794.
165 Mit utilitären Wertschätzungen verhält es sich ähnlich, wobei feine Unterschiede nicht ausgeschlossen sind.
166 Dies geschieht entweder im Kampf um dieses Gleichgewicht (durch Wahl eines Stellvertreters eines wertgeschätzten Gegenstands), oder seine Abhängigkeit lediglich ausweitend.
167 Hierin ist die emotionale von der sinnlichen Wertbeimessung zu unterscheiden. Ohne dieses Kriterium wären diese beiden Arten der Wertbeimessung wohl kaum auseinanderzuhalten, zumal beide in Wirklichkeit wohl uneigentliche Wertbeimessungen sind, beide natural bedingt sein können und manche sinnliche Wertschätzungen (bzw. diejenigen vieler Individuen je nach Ausrichtung) erfahrungsgemäß in emotionale Wertschätzungen übergehen. Der Unterschied macht sich beispielsweise bei der folgenden Betrachtung bemerkbar: Jemand, der gerne Pizza isst, wird wohl kaum allein auf Grundlage seiner sinnlichen Wertschätzung leere Pizzakartons sammeln. Wer gerade Lust auf Speiseeis hat und im Kühlschrank eine Eisschachtel findet, wird sie wohl zwar an sich nehmen und öffnen, doch falls er feststellt, dass sie leer ist, wird er die Schachtel einfach wegwerfen (kein Überfließen des sinnlichen Werts eines Gegenstands auf mit ihm eng assoziiertes feststellbar). „Hüllen“ einer sehr geliebten Person hingegen, und sei es auch nur ein Handschuh, wenn die Person selbst nicht erreichbar ist, können für den Liebenden einen so hohen Wert haben, dass er einen hohen Aufwand zu leisten bereit ist, diese zu erwerben oder zu verteidigen. Das gleiche gilt für bloße Spuren des Wertgeschätzten, wie z.B. einen Zettel mit seiner Unterschrift, etc.
168 Zur konzeptologischen Unterscheidung interner und externer Implikationen siehe den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“.
169 Eine Parallele hat der Sachverhalt in den eigentumsrechtlichen Betrachtungen, die sich aus einer konsequent monotheistischen Theologie ergeben: Wahrhaft Eigentum hat nur Gott, da alles außer Ihm nur von Ihm, und zwar aus dem Nichts, erschaffen wurde und allein ein solcher Schöpfungsakt wahres Eigentum begründen kann. Gott allein kommt wahre Herrschaft über welches Ding auch immer zu. Nun gehört zu dieser Herrschaft auch Sein Recht, wem auch immer von Seinen Geschöpfen die Verfügung über ein Ding zu gewähren und andere Geschöpfe (einschließlich des Dings selbst) in Bezug auf dasselbe Ding von der Verfügung auszuschließen. Damit zeichnet sich einerseits kein Geschöpf durch Herrschaft über irgendetwas aus, weil von einem Geschöpf nichts aus dem Nichts erschaffen worden ist, andererseits entsteht durch die Zuteilung eines exklusiven Verfügungsrechts ein Verhältnis zwischen dem einen Geschöpf und dem Ding, das dem anderen Geschöpf zu dem Ding fehlt und im Angesicht dieses Fehlens als Herrschaftsverhältnis erscheint - ohne ein solches wirklich zu sein.
170 Vgl. §22, §39 Abschnitt „Physik der Würdigung“.
171 Siehe Eintrag §48, Abschnitt „Bereitschaft“.
172 Wittgensteins „erste[r] Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes“ (6.422) ist nicht zwingend der erste Gedanke (welcher allenfalls die Frage nach der Grundlage des Gesetzes sein sollte), sondern nur die natürliche Reaktion eines auf Aufwandsersparnisse bedachten Akteursystems.
173 Siehe Einträge §2, und §10.
174 Siehe „Urteil und Erkenntnis“, Abschnitt 2.3.5.
175 Dies mag angesichts der primären Prinzipien der Subsphäre I b erstaunen, da die meisten von ihnen recht absolut, apriorisch und unhinterfragbar anmuten. Dieser Anschein geht jedoch eher darauf zurück, dass man sich bei ihnen Ausnahmen und Einschränkungen nur schwer oder gar nicht vorstellen kann. Anders hingegen wirken die Sätze der Sphäre II. So ist z.B. Mitgefühl allgemein ein hoher Wert, nicht aber im speziellen Fall der pflichtgemäßen Ausführung einer gerechten Bestrafung, oder hinsichtlich der erzieherischen Bewahrung von Kleinkindern vor entwicklungsschädlichem Konsumverhalten, auch wenn sie untröstlich hierauf bestehen, da uneingeschränktes Mitgefühl hier zu pflichtwidrigem Verhalten führen kann.
176 Verbunden waren mit dem Wort die Bedeutungen „gegen“, „wenden“ (erinnernd an Tausch) und „Gegenwert“ (s. Pfeifer et al. zum Adjektiv „wert“; Kluge 1999 zum Adjektiv „wert“); vgl. die verwandten Ausdrücke („konvertieren“, „Version“, „invertieren“, „reversibel“ etc.)
177 Wäre sie völlig sekundär, wäre der Begriff dem Ausdruck nur im Rahmen einer Metapher zugeordnet. Die Prägung der Kategorie der Multikonzeptionalität dient hingegen der Erklärung der gewissen Ausdrücken anhaftenden begrifflichen Diffusität, welche durch eine für jeden erkennbare Sekundarität aller Begriffe außer eines einzelnen Primärbegriffs zumindest für seine Ebene nicht mehr gegeben wäre. Da begriffliche Sekundarität subjektiv nicht immer klar vorliegt, bzw. der betreffende Begriff bei vielen Sprachteilnehmern auf der Primärebene mit einem anderen Begriff konkurriert, bei vielen anderen aber nur auf sekundärer Ebene mit dem Begriff verknüpft ist, liegt der Nutzen einer Rede von „Semi-Sekundarität“ nahe.
178 Hier muss dies bedeuten, dass der Annäherung oder Beachtung etc. des Gegenstands aufgrund eines zuvor diesem selbst zukommenden Wertes Würdigkeit zukommt. Denn es entspricht nicht dem Gebrauch des Wertlexems, etwas Unwürdiges als wertvoll zu bezeichnen, wenn seiner Beachtung oder Annäherung etc. lediglich aufgrund ihrer eventuellen Notwendigkeit für seine Bekämpfung oder Meidung Würdigkeit zukommt.
179 Als eine solche kann man z.B. Kants Rede vom „absoluten Wert“, den er vom hedonisch-utilitären „relativen Wert“ unterscheidet, ansehen. Seine alternative Bezeichnung des „absoluten Wertes“ kommt unserer Bezeichnung als „Würdigkeit“ interessanterweise recht nahe und lautet bei ihm „Würde“. Diese wiederum ist in dieser Schrift jedoch, mit der Absicht einer dem natürlichen Sprachgebrauch näher kommenden Definition, etwas davon zu Unterscheidendem vorbehalten.
180 Ein schönes Beispiel ist Andreas Gryphius' (gest. 1664) berühmtes Gedicht „Es ist alles eitel“, insbesondere, wenn man um die damaligen Bedeutungen der darin vorkommenden Adjektive „eitel“ und „köstlich“ weiß: Das Adjektiv „eitel“ bedeutete „nichtig, wertlos“, und nicht „vergänglich“, wie nicht nur aus etymologischer Literatur  hervorgeht (weder Pfeifer et al. noch Kluge geben diese Bedeutung oder auch nur etwas ihr Nahekommendes an), sondern auch daraus, dass das Gedicht jene „Eitelkeit“ anhand der Vergänglichkeit der nur scheinbar wertvollen Dinge erst begründet; das Adjektiv „köstlich“ bedeutete nicht unbedingt „wohlschmeckend“, sondern „wertvoll“ und ist somit dem heutigen „kostbar“ näher (vgl. das Verb „kosten“). Nachdem der Poet Gegenständen der menschlichen Bewunderung, denen üblicherweise Wert beigemessen wird, abspricht, wahren Wert zu haben (Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten / Als schlechte Nichtigkeit), stellt er ihnen im letzten Vers des Gedichts einen nicht näher benannten Vergleichsgegenstand gegenüber und impliziert, dieser habe viel mehr als jene Gegenstände Aufmerksamkeit verdient (Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten!).
181 Elementarität nahelegend, münden ohne einen bewussten Rückgriff auf den Begriff der Würdigkeit auch in Bezug auf den hedonisch-utilitären oder für kommerzielle bzw. ökonomische Themen relevanten Wertbegriff Versuche, diesen ohne Rückgriff auf den Würdigkeitsbegriff definitorisch zu erschließen, in der Regel in a) einer zirkulären Definition, b) einer Fehlreduktion auf etwas, das in Wirklichkeit nur der Begründung einer Wertfeststellung dient, oder c) einer Fehlreduktion auf etwas, worin sich Werte oder ihre Beimessung lediglich äußern. (Manche Fehlreduktionen (S) können gleichwohl als Arbeitsdefinitionen für spezielle, didaktische oder wissenschaftliche Zwecke geeignet sein und in hinreichender Weise „funktionieren“. Auf dieser über längere Strecken hinweg reibungslos scheinenden Funktionalität beruht wiederum die Illusion, man habe das Wesen des Wertbegriffs erfolgreich versprachlicht.) Beispiele: „dass / die Wahrscheinlichkeit, mit der im gewöhnlichen Fall niemand es gerne bedingungslos ab-/aufgeben oder ignorieren wollen würde (aufgrund von Neigungen und Interessen)“; da sowohl in einer auf Tauschhandel als auch in einer rudimentär auf Währung basierenden Wirtschaft eine Kette entsprechend bedingter Eigentumsübertragungen allgemein in einer mit irgendeinem Aufwand verbundenen Gewinnung oder Produktion, oder mit einem gemeinhin Kompensationsaufwände erfordernde Probleme nach sich ziehenden Verzicht ihren Anfang nimmt, scheint sich der Definiens auch wie folgt formulieren zu lassen: „das Ausmaß an Zeit und Mühe, welche man gewöhnlich aufzubringen bereit ist, um den Träger des Attributs im eigenen Besitz zu halten und ggf. zu bringen“; „ein quantitativ-kognitives Merkmal, die Individuen einer Sache (gleich ob bewusst oder unbewusst, freiwillig oder unfreiwillig, auf der rationalen oder auf der sinnlichen Ebene) zuordnen, und aufgrund derer sie diese gegenüber anderen Sachen bevorzugen“; „ein die Gesamtheit der Bedingungen, ohne welche niemand den Träger des Attributs gerne ab-/aufgeben oder ignorieren wollen würde, repräsentierendes Maß“; „die Geeignetheit und das Potential eines Gegenstands, Wohlseligkeit oder Handlungspotential zu erhöhen oder zu bewahren.“ Ayn Rands nicht nur fehlreduzierende, sondern obendrein bis zur Unbrauchbarkeit grobkörnige Definition „that which one acts to gain and/or keep“ ist offensichtlich nicht Wert (V), sondern Wert (S). Für Wert (V) wäre die Definition folgendermaßen zu konvertieren: „dass / wie sehr man für das Erlangen und/oder Behalten seines Trägers handeln würde“.
182 Sowohl Kluge als auch Pfeifer et al. ordnen „Würde“ etymologisch als bloßes Abstraktum von „wert“ ein.
183 Gleichwohl ist zu einem gewissen Grad rätselhaft, was es war, das zu der Benennbarkeit bloßer Zahlen als Werte geführt hat, bzw. mit welcher Intention der Etablierung der Metapher zugrunde lag. Zur Diskussion stellen lassen sich zweierlei: 1.) Der Ausdruck gehört in dieser Verwendung zum S-Typus und geht darauf zurück, dass das numerische Ergebnis einer Rechnung oder Messung das mit ihr angestrebte, „begehrte“ Ziel, also gewissermaßen ein hedonisch-utilitärer Wertträger ist. 2.) Die Metapher stammt aus dem kommerziellen Kontext, in welchem Zahlen in Preisen den Wert (V) von Waren repräsentierten, sozusagen ihr Wert dem Anspruch nach in ihnen sichtbar war. Die häufige, zum Zweck der eigentlich intendierten Lenkung des Blicks auf den Wert unvermeidliche Deutung auf die Zahl führte zur Gleichnennung.
184 Wittgenstein wird sich den moralisch idealen Menschen genau so gedacht haben, seinen Worten im Tractatus nach zu urteilen: Es muß zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung selbst liegen. (Und das ist auch klar, daß der Lohn etwas Angenehmes, die Strafe etwas Unangenehmes sein muß.) (Ebd. 6.422)
185 Das Adjektiv des Fragwürdigen ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass solche Komposita nicht unbedingt bedeuten, dass der von ihnen ausgezeichnete Gegenstand hochwürdig ist, sondern das in dem Kompositum bezeichnete Konzept (hier: das Fragen).
186 Das „Gabler Wirtschaftslexikon“ erklärt Wert als Ausdruck der Wichtigkeit eines Gutes. Das „Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik“ schreibt: Werte sind in der Psychologie also bewertende Gedanken zu wichtigen Dingen im Leben. Ebenso heranziehen lassen sich alle Definitionen in Lexika, nach denen Wert eine einem Gegenstand zukommende Bedeutung sei, sofern dieser Terminus synonym zu demjenigen der Wichtigkeit verwendet wird, z.B. in „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ (Band 20. Leipzig 1909, S. 545-546): Wert (franz. Valeur, engl. Value), im allgemeinen die Bedeutung, die man einem Gegenstand auf Grund vergleichender Schätzung beilegt., oder im „Brockhaus in fünfzehn Bänden“ (Band 15, Leipzig 1999, S. 208): Volkswirstchaftslehre: Bedeutung, die Gütern [...] beigemessen wird., oder im dtv-Lexikon (Band 20, Mannheim 1992, S. 44): Volkswirtschaftslehre: die Bedeutung, die der Mensch einem Gut [...] beimißt. Derweil definieren der Duden und Wikipedia (Abruf am November 2021) Wichtigkeit als Bedeutsamkeit. - Pfeifer et al. zu „Axiom“: Es handelt sich um eine Bildung zu griech. axiū́n (ἀξιοῦν) ‘für würdig, wert, angemessen erachten’, das von griech. áxios (ἄξιος) ‘wert, würdig, angemessen’ abgeleitet ist. Dies gehört letztlich im Sinne von ‘wichtig’ wohl zu griech. ágein (ἄγειν) in der Bedeutung ‘wiegen, wägen’.
187 Siehe hierzu „Wendungsvariabilität“ im Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“.
188 Es ist zwischen unvollständigen und vollständigen, bzw. zwischen minimalen, medialen und maximalen Gegenteilen zu unterscheiden. Ein minimales Gegenteil ist i.d.R. bloß negational, z.B. das Nichtgeben als minimales Gegenteil des Gebens. Ein mediales Gegenteil des letzteren ist das Zurückhalten oder Vorenthalten. Die Medialität eines Gegenteils lässt sich daran erkennen, dass ein noch extremeres und mindestens ebenso passendes, diametrales Gegenteil zu finden ist, hier das Nehmen.
189 So rangiert das „Unwerte“ noch unterhalb des bloß „Wertlosen“, „Unerfreuliches“ ist mehr als bloß „nicht erfreulich“, und ohne einen Widerspruch lässt sich sagen, der Anblick eines bestimmten Gegenstands sei weder „appetitlich“ noch „unappetitlich“.
190 Treffen sich die beiden Planeten nach 1000 Jahren wieder... A: Du hattest ja Homo sapiens, wie geht's dir inzwischen? - B: Besser! - A: Ah, freut mich, dass es dir gut geht! - B: Es geht mir nicht gut, es geht mir besser! - A: Aber es ist doch gut, wenn es dir besser geht! - B: Aber es wäre doch besser, wenn`s mir gut ginge!
(Inspiriert von einem Twitter-Beitrag des Nutzers @SvenSchrecklich)
191 Die Analogie dieser Verhältnisse trägt signifikant zur Geeignetheit der angeführten Beispieladjektive bei, als Metaphern für das Wichtige und Würdige zu dienen. Im arabischsprachigen Koran dient hierfür z.B. das im Elativ stehende °akbar (wrtl. „enorm groß“, „größer“) in Sure 29:45, im Lateinischen das Wort magnus („groß“), und im Französischen u.a. majeur, das vom lateinischen maior (ursprgl. „größer“) herrührt. In verschiedenen Sprachen sind extrem unwichtige oder geringwürdige Gegenstände oder Personen „nichts“ oder „ein Nichts“, worin kein realitäres Nichtsein gemeint ist, aber metaphorisch dennoch so gesprochen werden kann, wenn die Bilder des Großen und des Massereichen für das Hochwürdige stehen, denn in dieser Metaphorik erscheint das Unwichtige und jeglicher signifikanter Würdigkeit Entbehrende als masselos jeglicher Materialität und größenlos jeglicher Korporalität entbehrend, als sei es nicht im Raum befindlich und somit kein Anlass zur Befürchtung gegeben, darüber zu stolpern oder mit ihm zusammenszustoßen, was wiederum unterstreicht, dass es nicht beachtet werden muss. Bemerkenswert ist auch die Verbindung, die sich zwischen der Massenmetapher und dem Wort „wichtig“ über den Begriff des Gewichts und seine Bezeichnung herstellen lässt.
192 Dies bedeutet im Übrigen nicht zwingend, dass der Ausdruck „wahrhaft würdig“ analog dazu eine Begriffswolke des Würdigen, aus welchem er einen bestimmten Begriff selektiert, voraussetzt. Bei Eigenschaften, deren Bezeichnungen keine Begriffswolken anhaften, bedeutet ihr wahrhaftes Zukommnis lediglich, dass dieses in vollkommener Weise begründbar ist, d.h. dass die eindeutig feststehende Eigenschaft dem Gegenstand tatsächlich und nicht nur dem Wunschdenken oder der Einbildung nach zukommt, denn dies ist hier das würdigste und insofern wahrhafte Zukommnis. Bei Eigenschaften, deren Bezeichnung multikonzeptionell ist, bedeutet es lediglich zusätzlich, dass die Eigenschaft, deren Zukommnis in vollkommener Weise begründbar ist, die würdigste unter denen ist, deren Begriffe die Begriffswolke enthält, da die Höchstwürdigkeit eines Zukommnisses auch davon abhängt, dass die zukommende Eigenschaft die würdigste unter den möglichen ist.
193 Siehe „Lexikon der deutschen Antonyme“ von Gudrun Petasch-Molling (Hrsg.), Bechtermünz Verlag, Eltville 1989, zum Eintrag „würdevoll“
194 Siehe hierzu Pfeifer et al. und Kluge.
195 Im Saħîħ-Werk Muslims wird von 'Amr ibn Âs, den früheren Feind und späteren Gefährten des Propheten Mohammed (s), berichtet, auf dem Sterbebett habe dieser lange geweint und sein Gesicht von den Besuchern abgewandt. Um ihn zu trösten, habe sein Sohn ihn dann an die frohen Dinge erinnert, die ihm der Gesandte Gottes verkündet hatte, woraufhin er sich ihm mit dem Gesicht zugewandt und gesagt habe: „Das vorzüglichste, was ich zu bieten habe, ist die Bezeugung, dass es keine Gottheit gibt außer Gott, und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist. Denn ich habe drei Zustände durchlaufen. Es gab eine Zeit, in der es niemanden gab, der den Gesandten Gottes, Gott umgebe ihn mit fürsorglichem Segen und heilvollem Frieden, mehr hasste als ich und mir nichts lieber war, als ihn zu überwältigen und zu töten. Wäre ich in jenem Zustand gestorben, wahrlich, ich gehörte zu den Bewohnern des Feuers. Als Gott mir aber die Ergebung ins Herz legte, kam ich zum Propheten, Gott umgebe ihn mit fürsorglichem Segen und heilvollem Frieden, und sagte: ‚Strecke deine Rechte aus, ich will dir den Treueeid leisten.’ Er streckte seine Rechte aus, doch ich hielt meine Hand zurück. ‚Was hast du, 'Amr?’, fragte er. Ich antwortete: ‚Ich möchte eine Bedingung stellen.’ ‚Was für eine Bedingung?’, fragte er. Ich sagte: ‚Dass mir verziehen wird.’ Er sagte: ‚Weißt du denn nicht, dass die Ergebung niederreißt, was vor ihr gewesen ist? Und dass die Auswanderung niederreißt, was vor ihr gewesen ist? Und dass die Pilgerfahrt niederreißt, was vor ihr gewesen ist?’ Und es war mir niemand lieber als der Gesandte Gottes, Gott umgebe ihn mit fürsorglichem Segen und heilvollem Frieden, und auch niemand achtbarer in meinen Augen als er. Wegen meiner Hochachtung vor ihm vermochte ich meine Augen mit seinem Anblick nicht auszufüllen. Bäte man mich, ihn zu beschreiben, könnte ich es nicht, denn aus Hochachtung pflegte ich meine Augen mit seinem Anblick nicht auszufüllen. Wäre ich in jenem Zustand gestorben, hätte ich Hoffnung gehabt, zu den Bewohnern des Paradieses zu gehören. Später dann wurde uns aber die Verantwortung für Dinge übertragen, von denen ich nicht weiß, was mein Zustand in Bezug auf sie ist. Wenn ich also gestorben bin, sollen mich weder ein Klageweib noch Feuer begleiten. Und wenn ihr mich begrabt, schüttet die Erde auf mich Stück für Stück nieder. Sodann verweilt um mein Grab herum so lange, wie ein Kamel geschlachtet und sein Fleisch verteilt würde, damit ich durch euch beruhigt werde und schauen kann, was ich den Gesandten (Engeln) meines Herrn antworte.“
196 Zur konzeptologischen Unterscheidung interner und externer Implikationen siehe den Lichtwort-Artikel „Vom Begriff des Begriffs“.
197 Siehe hierzu Pfeifer et al. und Kluge.