Der Rang von Frau und Mann

Wie ist es mit der Gerechtigkeit Gottes zu vereinbaren, dem Mann einen höheren Rang als der Frau zuzuordnen, obwohl beide vollwertige Menschen sind und sogar einen gemeinsamen Ursprung haben (Sure 4:1)? Rudi Paret übersetzt zu Sure 4:34: „Die Männer stehen über den Frauen“. In einer Koranübersetzung der Sure 2:228 über Frauen heißt es: „Doch die Männer stehen eine Stufe über ihnen.“ Eine andere Übersetzung desselben Verses lautet: „... doch haben die Männer einen gewissen Vorrang vor ihnen.“ Ist der Koran zugunsten des Mannes tendenziös, obwohl Gottes eigene wesenheitliche Erhabenheit über Geschlechtlichkeit eine neutrale Haltung Seiner Offenbarung zu den Geschlechtern erwarten lassen müsste?

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Parets vor über einem halben Jahrhundert veröffentlichte Übersetzung von Sure 4:34 ist mittlerweile überholt und in philologischer Hinsicht letztlich unhaltbar. (Mehr dazu hier.)
  • Nirgendwo im Koran steht, der Mann sei allgemein ranghöher als die Frau, und schon gar nicht von Natur aus. Wer den Vers im arabischsprachigen Original vollständig und aufmerksam genug liest, erkennt, dass er sich nicht auf Frauen allgemein bezieht, sondern zunächst ausschließlich auf in der Wartephase befindliche geschiedene Frauen: Und es sollen die geschiedenen Frauen drei Perioden mit sich verharren [...] Und ihnen steht im Anerkennbaren2 ein Gleiches3 desjenigen zu, das ihnen gegenüber zusteht.4 Und den Männern steht ihnen gegenüber eine Stufe zu.5 . Da einer Frau durch die Umstände einer Scheidung häufig Nachteile („das ihnen Obliegende“) entstehen, ist es gerecht, wenn der Ehrwürdige Koran ihr das Recht zusichert, einen äquivalenten Ausgleich an Vorteilen („das ihnen zustehende Gleiche“) dafür zu erhalten, soweit ein solcher Ausgleich für alle Betroffenen zumutbar („anerkennbar“) ist. Bei in der Sache unentscheidbaren und aufgrund der Sonderbarkeit zunächst nicht vom offenbarten Gesetz abgedeckten Interessenkonflikten wird allerdings nicht, wie kurioserweise in westlichen Familiengerichtssälen, würdelos gewürfelt oder eine Münze geworfen, sondern in diesem Extremfall dem Mann ein Entscheidungsvorrang zugestanden („eine Stufe“), wenn er dessen nicht unwürdig6 ist. Auch dies ist gerecht, da die Frau...

    • bereits beim Eintritt in die Ehe einen nicht unerheblichen Entscheidungsvorrang hatte (z.B. bzgl. der Höhe der Brautgabe), und dies nicht nur als potentielles Recht für Extremfälle und Unentscheidbarkeiten, sondern sogar als reguläres, in praktisch jedem Fall zum Einsatz kommendes Recht.
    • nach der Scheidung keine Abfindung (mutah) zu zahlen bräuchte, selbst wenn die Scheidung auf ihre Initiative eingeleitet wurde und sie reich und ihr ehemaliger Ehemann arm ist; der Mann im umgekehrten Fall schon.
  • Auf dem Satz vor der Erwähnung der Stufe aufbauend lässt sich annehmen, dass die geschiedenen Frauen im Rahmen des Zumutbaren und Anerkennbaren auch einen Anspruch auf einen Ausgleich für die ausnahmsweise zusätzliche „Stufe“ haben, die sie den Männern schulden, denn den geschiedenen Frauen steht dem Satz zufolge ja genauso viel zu, wie sie schulden.
1Parets Übersetzung versetzt angesichts seines Rufs ausgerechnet als philologischer Experte in höchstes Erstaunen, denn sie ist gerade in philologischer Hinsicht schlicht falsch und kommt nicht einmal als alternative Option in Frage. Wenn sie nicht ideologisch motiviert ist, lässt sie sich womöglich nur noch damit erklären, dass er seine Koranübersetzung so früh zu verfassen begonnen hatte, dass sich eine erst später optimierte philologische Expertise in einigen Teilen noch nicht niedergeschlagen hatte. Aus zeitlichen Gründen mag dieser Fehler darum belassen worden sein, wobei bei Übersetzern manchmal auch die psychologischen Faktoren der Gesichtwahrung und der Hoffnung eine Rolle spielen, die falsche Übersetzung einer bestimmten Stelle könnte sich ja irgendwann doch noch irgendwie begründen lassen.
2 ma€rûf, womöglich noch wörtlicher: „... Anzuerkennenden“ - Passivpartizip von €arafa (arab. „kennen, erkennen, anerkennen“).
3 Oder: „genauso viel wie“
4 Noch wörtlicher: „Und für sie (ist) im Anzuerkennenden ein Gleiches dessen, das auf ihnen (liegt).“ So werden im klassischen Arabisch Rechte, Verpflichtungen und Schuldverhältnisse ausgedrückt, d.h. sie haben ein Recht auf etwas, das mit dem, wozu sie verpflichtet sind, gleichwertig ist.
5 Noch wörtlicher: „Und für die Männer (liegt) auf ihnen eine Stufe.“ D.h. die Geschiedenen sind verpflichtet, den Männern eine Stufe zuzugestehen. - Die Satzstruktur ist dieselbe wie in Sure 3:97 (وَلله على الناس حج البيت).
6 Wg. rijâl statt muTalliqîn.

Sind Männer den Frauen überlegen?

Warum lesen wir in der Übersetzung von Max Henning zu 4:34, die Männer seien den Frauen überlegen - was mittlerweile als wissenschaftlich widerlegt gilt -, bzw. bei Lazarus Goldschmidt, sie seien höherstehend als sie? 

Hiermit ist kein Fehler feststellbar, denn:

  • Die Übersetzungen Hennings und Goldschmidts sind hier eklatante Falschübertragungen, von eigenen Vorurteilen oder manchen Werken befangener männlicher Korankommentatoren beeinflusst.1 Nichts an dem Ausdruck qawwâm €alâ bedeutet auch nur im Entferntesten „höherstehend“, „Oberhaupt“ oder impliziert aspektunabhängige Überlegenheit. Selbst die verbreitete Übersetzung „stehen den Frauen in Verantwortung vor“ ist hinsichtlich des Begriffs des Vorstehens sprachlich höchst fragwürdig.2 Dem Ausdruck qawwâm €alâ, als hohe, wiederkehrende Aktivität assoziierende Intensivierung und Rollentypisierung von qâ°im €alâ, liegt das Verbkonstrukt  qâma €alâ zugrunde, welches wörtlich „(auf-)stehen ob“3 bedeutet, die Bedeutung ist also wörtlich in etwa „Aufsteher ob [...]“. Verwendet wurde das Verbkonstrukt als solches im damaligen Arabisch hauptsächlich für drei Bedeutungen:

    • „(nach einem Marsch) zum Stehen kommen zu (sitzenden Personen)“, „vor (einer sitzenden Person) stehen“ , was die eher gegenteilige Assoziation, nämlich die der Frauen als höherstehend, mit sich zu führen geeignet ist,4 oder „an (etwas) stehen“ (z.B. an einer Tür oder einem Grab)5, was hier kaum anwendbar ist.
    • „(bsd. Gäste) bedienen/versorgen“, „sich (bsd. um Gäste) kümmern“.6 Hiervon ausgehend ist ein Verständnis des Verses naheliegend, demzufolge respektable Männer solche sind, die den Frauen im Rahmen einer von hoher Aktivität geprägten Rolle dienen, wenn auch nicht im Sinne einer die Männer erniedrigenden Versklavung, sondern als begehrenswertes Privileg,7 das mit dem Privileg der Frauen, den Anspruch auf diese „Bewirtung“ zu haben, einhergeht.
    • „bewahren“, „wachen über“.8 Respektable Männer sind unter Annahme dieser Bedeutung solche, die stets darauf achten, dass ihren Ehefrauen kein Übel geschieht, ebenfalls als zum Privileg der Frauen komplementäres begehrenswertes Privileg der Männer.
    Daraus resultiert die Übersetzung: „Männer sind die Bediener/Bewahrer von Frauen dadurch, wie sehr9 Gott sie voreinander bevorzugt hat, und dadurch, wie sehr sie von ihrem Vermögen ausgegeben haben.“
  • Die Begründung dadurch, wie sehr Gott sie voreinander bevorzugt hat anstelle von „dadurch, dass Gott sie (die Männer) vor ihnen (den Frauen) bevorzugte“ zeigt mit dem „einander“ und der damit angedeuteten Wechselseitigkeit, dass dem Vers zufolge nicht nur den Männern unter gewissen Aspekten ein Vorzug gegenüber den Frauen verliehen wurde, sondern auch den Frauen gegenüber den Männern unter anderen Aspekten, so dass es sinnlos ist, den Versbeginn als einseitige Konstatierung einer Überlegenheit der Männer gegenüber den Frauen aufzufassen. Vielmehr teilt er offenbar etwas auch den Frauen als Privileg Zukommendes mit.10
  • Selbst wenn man den Vers als Höherstellung der Männer zu verstehen hätte, wäre ihre Begründung mit ihren Vermögensaufwendungen der Anhaltspunkt, dass aus der Natur der Männlichkeit an sich eben kein höherer Rang resultiert.
  • Es ist nichts dagegen einzuwenden, solange nicht die aspektweise Überlegenheit der Frau gegenüber dem Mann geleugnet wird, von einer Überlegenheit der Männer unter anderen Aspekten zu sprechen. Vielmehr entspräche dies durchaus dem aktuellen Stand des Wissens.11
1 Ibn Kathîr, dessen Korankommentar im Allgemeinen eigentlich von überaus großem Nutzwert ist, startet fatalerweise den dazugehörigen Eintrag bereits im ersten Satz mit der völlig ungezügelten Überinterpretation, der Mann sei dem Versbeginn zufolge der Häuptling der Frau, während Qortobiyy seinen Eintrag vorbildlich und linguistisch korrekt beginnt, sich aber zum Ende des Eintrags zu noch gravierenderen unbegründeten Aussagen hinreißen lässt.
2 Nicht einmal auf den Vorsteher einer betenden Gemeinschaft lässt sich der Ausdruck anwenden.
3 „ob“ hier als Präposition, nicht als Konjunktion.
4 Zayd b. Sahl von den Ansâr berichtete: „Wir saßen in den Vorhöfen und unterhielten uns. Da kam der Gesandte Gottes, worauf er vor uns zum Stehen kam (fa-qâma €alaynâ).“ (Saħîħ Muslim, kitâbu s-salâm, Nr. 2161) Es kann auch allgemein das Stehen vor sitzenden Personen meinen, wie in dem folgenden Prophetenzitat über die Perser und Römer: Sie stehen vor (yaqûmûna €alâ) ihren Königen, während diese sitzen. (Saħîħ Muslim, kitâbu s-salâm, Nr. 2161)
5 Aishah berichtete, sie habe ein Kissen gekauft, an dem sich Figuren (oder: auf dem sich Abbildungen) befanden. Als der Gesandte Gottes - Gott segne ihn fürsorglich und umgebe ihn mit heilvollem Frieden - es sah, „stand er an der Tür“ (qâma €ala l-bâb) und trat nicht ein. (Saħîħ al-Bukhâriy, kitâbu l-buyû€, Nr. 1999) Vgl. auch Sura 9:84.
6 ِAnas b. Mâlik berichtete: „Ich bediente (qâ°im €alâ) den Stamm - meine Onkel und Tanten - indem ich ihnen zu trinken gab, wobei ich der Jüngste von ihnen war.“ (Saħîħ al-Bukhâriy, kitâb al-ashribah, Nr. 5262). - Wiederzufinden ist diese Bedeutung ansonsten in der privaten Praxis Mohammeds, des Verkünders des Koran. Seine Ehefrau Aishah berichtet, dass er zu Hause im Dienste seiner Ehefrauen zu stehen pflegte (كانَ يَكونُ في مِهْنَةِ أهْلِهِ تَعْنِي خِدْمَةَ أهْلِهِ).
7 Erkennbar daran, dass die Aufwendungen als Begründung genannt werden. Betreuender und bewirtender Dienst allgemein als Privileg ist auch von anderen Stellen des Koran vertraut (Suren 3:44, 9:19).
8Numan b. Bashîr berichtete: „Das Gleichnis desjenigen, der die Grenzen Gottes wahrt (al-qâ°im €alâ) und desjenigen, der in sie hineinstürzt, ist wie das Gleichnis von Leuten, die wegen eines Schiffes Lose warfen [...]“ (Saħîħ al-Bukhâriy, kitâbu s-sharikah, Nr. 2361).
Weit zuverlässiger als manche Koranexegeten geben herausragende klassische Sprachgelehrte wie Ibn Manżûr im lisân al-€arab und Fayruzabadiy im al-qâmûs al-muħîT diese und die im vorigen Punkt erwähnte Bedeutung präziser und frei von Zusatzinterpretationen an.
Ibn Manżûr:
وقد يجيء القيام بمعنى المحافظة والإصلاح؛ ومنه قوله تعالى: الرجال قوّامون على النساء، وقوله تعالى: إلا ما دمت عليه قائماً؛ أي ملازماً محافظاً [...]  وقام الرجلُ على المرأَة: مانَها وإنه لَقَوّام علهيا: مائنٌ لها وفي التنزيل العزيز: الرجالُ قَوَّامون على النساء؛ وليس يراد ههنا، والله أَعلم، القِيام الذي هو المُثُولُ والتَّنَصُّب وضدّ القُعود، إنما هو من قولهم قمت بأَمرك، فكأنه، والله أَعلم، الرجال مُتكفِّلون بأُمور النساء مَعْنِيُّون بشؤونهن
Fayruzabadiy:
وقام الرجلُ المَرْأةَ وقام عليها: مانَها، وقام بشَأْنها
9Das im Original vorliegende, spezielle Verbalnomensubstitut wird von vielen Übersetzern übersehen und mit einem Relativsatz verwechselt, ist allerdings schwierig ins Deutsche zu übertragen, hier mithilfe des zumindest stilistisch diskutablen „wie sehr“.
10Der überregional renommierte Gynäkologe und Experte in Hormonfragen Prof. Dr. Johannes Huber sagt: "Die Frau hat drei Geschlechtshormonsysteme, der Mann im Prinzip nur eines. [...] Daher ist auch die Frau, schon von der Pubertät beginnend, viel mehr privilegiert - und viel komplizierter letzten Endes auch - als der männliche Organismus.". (Aus einem NZZ-Interview in „Sexualhormone Testosteron und Östrogen“, 2015)
11Frauen sind geschickter als Männer und haben eine höhere soziale Kompetenz. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des Instituts für Arbeits- und Umweltmedizin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität unter Prof. Dennis Nowak. Demnach haben Frauen mit 36 Prozent des Körpergewichts eine geringere Muskelmasse als Männer (42 Prozent). Die Muskelkraft entspreche im Mittel etwa 70 Prozent der des Mannes. Die Handgeschicklichkeit der Frauen ist jedoch etwa zehn Prozent höher als beim Mann. Bei der Fingerfertigkeit übertreffen die Frauen die Männer um sechs Prozent, wobei der Unterschied zwischen rechts und links jeweils bei etwa sechs Prozent liegt. Nowak: «Die Frau erledigt buchstäblich mit links, was der Mann mit rechts schafft.» Frauen hätten auf «physiologischer Grundlage» eine höhere soziale Kompetenz als Männer.“ (aus einer dpa-Pressemeldung vom 31. Juli 2002)

Der Wert der Zeugenaussage einer Frau

Betrachtet man Sure 2:282, kann man zu dem Eindruck gelangen, dass die Zeugenaussage einer Frau nur die Hälfte der Zeugenaussage eines Mannes wert ist, zumal zwei Frauen als Zeuginnen einen einzelnen Mann ersetzen. Wird die Frau hier nicht deutlich niedriger gestellt als der Mann, nur weil sie eine Frau ist? Und widerspricht die betreffende Regelung nicht dem heutigen Wissen und der Erfahrung in den modernen Gesellschaften, in denen sich die Frau als dem Mann geistig ebenbürtig erweist?

Hiermit ist kein Fehler feststellbar, denn:

  • Die betreffenden Sätze beziehen sich offensichtlich nicht auf Zeugenaussagen allgemein, sondern ausschließlich auf die Vertragszeugenschaft bei einer speziellen Art von Schuldverträgen, welche besonders zur damaligen Zeit häufig Handelsverträge waren. Die koranische Zulassung von Frauen als Zeugen dürfte gemessen an der vorislamischen arabischen Kultur zur Offenbarungszeit ein erstaunliches Novum gewesen sein, zumal die meisten Frauen wenig Gelegenheit der Berührung mit wirtschaftlichen Lebensrealitäten bekamen, um eine Kompetenz zu gewährleisten, welche diesbezügliche Erinnerungen ausreichend unterstützt.1
  • Es geht dort nicht in erster Linie um die Zeugenaussage an sich, wenn sie im Streitfall benötigt wird, sondern um die ihr vorausgehende reine Beobachtung des vertraglichen Vorgangs. Somit wird nicht ausgeschlossen, dass im Streitfall die Aussage einer einzigen Frau genügt. Es ist immerhin deutlich am Text zu sehen, dass hier nicht zwei weibliche Aussagen eine männliche durch eine Doppelaussage aufwiegen sollen, sondern es ist eine einzige weibliche Aussage, die eventuell von einer zweiten weiblichen Aussage korrigiert oder vervollständigt wird. - Der Sinn dieser bloßen Vorsichtsmaßnahme lässt sich mit den im vorigen Punkt erwähnten historischen Zuständen erklären.
  • Die Regelung hat nichts mit dem Wert und Rang der Frau als Mensch zu tun, was man daran erkennt, dass der Vers eine weit davon entfernte, verfahrenstechnische Begründung für die Regelung anführt.
  • Dass der Vers überhaupt eine Begründung für eine ohnehin unhinterfragbare göttliche Direktive anführt, lässt sich als bedingte Selbstderogation der Norm auffassen, d.h. der Vers legt demnach die Modifikation der eigenen Regelung fest, sobald durch die gesellschaftliche Entwicklung keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen in dem betreffenden Kompetenzbereich mehr feststellbar sind. Andererseits kann es angesichts der Ungewissheit der weiteren Entwicklung der menschlichen Zivilisation dennoch sinnvoll sein, das Modell auch dann noch formal beizubehalten.
  • Zu den Sonderfällen, in denen die Zeugenschaft von Frauen nicht zulässig ist, gehören nach der Meinung eines Teils der Gelehrten außerdem Schwerverbrechen, die mit physischen Großstrafen geahndet werden (ħudûd). Man mag sich streiten, ob diese Meinung irgendeine Grundlage in der Offenbarung habe, doch fällt es leicht, dies zu begrüßen, wenn man daran denkt, dass nach dem koranischen Gesetz in solchen speziellen Fällen Fehler in den Aussagen schwere Folgen für die Zeugen haben können und sich der Ausschluss weiblicher Zeugenaussagen positiv als Befreiung für die Frau werten lässt.
  • Der Vers mahnt: Und es sollen die Zeugen sich nicht weigern, wenn sie herbeigerufen werden - die Aufgabe des Zeugen ist offensichtlich auch unabhängig vom vorigen Punkt in der Regel eine Lästigkeit und kein begehrenswertes Recht.
  • Jenseits der Sonderfälle verneint der Ehrwürdige Koran nirgends die Gleichwertigkeit einer weiblichen und einer männlichen Zeugenaussage hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und des ihr zugrundeliegenden allgemeinen Gedächtnisvermögens, vielmehr bestätigt er diese Gleichwertigkeit.2 Auch aus dem Usus des Gesandten Gottes und Übermittlers des Koran ist bekannt, dass er die Aussage einer Frau als einzigen Zeugen akzeptierte.3 Über die prinzipielle Gleichwertigkeit der Aussagen von Frauen und Männern sind sich die Gelehrten in einem Bereich einig, der eigentlich weit sensibler ist als in konkreten juristischen Fällen, nämlich in der Überlieferung von Prophetenworten, die bei der Ausgestaltung der ganzen Religion eine Rolle spielen. Das Zeugnis einer Frau wiegt auch hier genauso viel wie die eines Mannes.4
  • Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit konstatieren durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung und Gedächtnisleistung.5 In welchem Maß diese Unterschiede für die Bewertung von Zeugenaussagen relevant sind, wäre unvoreingenommen zu prüfen.
1 Neurologisch betrachtet ist es nachvollziehbar, dass Gedächtnis- und andere geistige Leistungen einer Person in thematischen Gebieten, die ihr fremd sind, schwächer sind als in anderen Gebieten. Dies war bei Frauen zur Offenbarungszeit in wirtschaftlichen Angelegenheiten der Fall, wurden sie doch besonders in den nachwirkenden vorislamischen Zeiten bereits in der Jugend streng zu Hause behalten (teils aus Gründen der Ehre, teils aus Gründen der Hautkosmetik), während männliche Individuen so sehr außerhalb des Hauses beschäftigt waren, dass sich das Wort rajul für „Mann“ etablierte. Es bedeutet ursprünglich in etwa „zu Fuß Gehender“ oder „unterwegs Seiender“. - Mehrere Gelehrte, darunter der herausragende Koranexeget Ibn Ashur, sind der Meinung, dass, ähnlich wie die koranischen Regelungen zur Leibeigenschaft eine Zwischenstufe in der schrittweisen Abschaffung der Sklaverei beabsichtigt hätten, die Regelung des Verses als temporäre Zwischenstufe in einer schrittweisen Integrierung der Frau in das wirtschaftliche und sonstige öffentliche Leben zu betrachten sei.
2 In Sure 3:37 akzeptiert der Prophet Zacharias (s) Marias alleine getroffene Aussage über die Herkunft der bei ihr gefundenen Speisen; in Sure 27:34 wird die Beobachtung der Königin von Saba über das Verhalten von Königen durch einen Satz, der als Gottesrede darstellenden Einschub auffassbar ist, bestätigt; in Sure 28:25 tritt eine der beiden Schwestern, denen Moses (s) half, anscheinend alleine als Übermittlerin der Einladung, welcher Moses (s) Folge leistet, auf; in Sure 28:26-27 begnügt sich der Vater anscheinend mit dem Zeugnis einer einzigen der beiden Töchter, um sich von der Tauglichkeit Mose (s) überzeugen zu lassen; in Sure 24:8-9 ist die Anzahl der Zeugnisse, welche der Ehemann, der seine Ehefrau vor Gericht ohne vier Zeugen der Unzucht beschuldigt, ablegen muss, vier (zzgl. der bedingten Selbstverfluchung), wobei die vier eigenen Zeugnisse wohl diejenigen der vier fehlenden Zeugen ersetzen sollen - um die Strafe von sich abzuwehren, muss die Frau nicht acht, sondern ebenfalls nur vier Gegenzeugnisse ablegen (zzgl. der bedingten Selbstverwünschung). - Auf Letzteres wies der ägyptische Azhar-Gelehrte Issam Telimah, angelehnt an die Arbeiten des Gelehrten Muhammad Imarat, hin.
3 So bei der Feststellung von Stillverwandtschaften.
4 Ahmad b. Hanbal überliefert die Aussage des Hadithgelehrten Yazid b. Harûn: „Die (juristische) Zeugenaussage von jemandem kann zulässig sein und die Anerkennung seiner Überlieferung dennoch unzulässig. Die Anerkennung seiner Überlieferung aber ist unzulässig, wenn seine (juristische) Zeugenaussage unzulässig ist.“ (aus dem Muntaqâ des Imam al-Bâjiy) - Dies impliziert offensichtlich: Ein anerkannter Überliefererstatus, wie ihn auch viele Frauen innehatten, hat die Vollwertigkeit der Zeugenaussage und die volle Qualifikation dazu zur Mindestvoraussetzung.
5 Wohl als Folge der Tatsache, das noch heute kleine Mädchen wesentlich seltener weit außerhalb des Hauses spielen als Jungen, haben laut Studien (z.B. von Catherine Jones & Susan Healy, Universität Edinburgh) Frauen ein besseres Gedächtnis und Orientierungsvermögen in Bezug auf geschlossene Räume, Männer hingegen in Bezug auf die außerhäusliche Geographie, so dass sie sich Wege und Strecken besser merken können. - Auch soll während der Schwangerschafts- und Stillzeit, aber auch während der Wechseljahre die allgemeine Merkfähigkeit von Frauen deutlich abnehmen, und somit während einer Zeit, die für Frauen in früheren Zeiten und noch heute mancherorts den überwiegenden Teil ihres Erwachsenenlebens darstellt. Statistisch sind von Alzheimer-Demenz doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen.  - Ebenfalls eine Rolle könnte spielen, dass während Frauen eine präzisere Farbwahrnehmung zu haben scheinen, Männern allerdings feine optische Details und Bewegungen wohl eher auffallen. - Andererseits können sich Frauen anscheinend Gesichter besser merken als Männer.

Erlaubnis zu Gewalt bei Widerspenstigkeit?

Zu Sure 4:34: Wenn der Mann seine Frau verprügeln darf, wenn sie sich „widerspenstig“ verhält, bis sie „gehorsam“ ist, ist das nicht ein klares Zeichen, dass die Frau dem Mann untergeordnet ist? 

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Provokativ ließe sich sagen, dass der Form nach (Imperativ) der Vers strenggenommen nicht von einer Erlaubnis, sondern von einem (womöglich dringenden) Rat, wenn nicht gar von einer Pflicht redet. Dies zeigt:

    1. dass die meisten „Kritiker“ den Vers nicht richtig lesen.
    2. der Mann hier nicht unbedingt die Wahl hat, die eine hohe Autorität erwarten lassen würde.
  • Nicht zuletzt am Satzbau (zumindest im arabischen Original) ist zu erkennen, dass es bei weitem nicht um die durchschnittliche Ehefrau geht, und sei sie auch „widerspenstig“, sondern um eine spezielle Minderheit extrem destruktiver Personen.1
  • Peinlicherweise schaffen es Übersetzer selten, wenn überhaupt, die Semantik des Wortes nushûz angemessen und originalgetreu zu übertragen. Die Vorschläge „Widerspenstigkeit“ und „Auflehnung“ sind geradezu verhängnisvolle, inakzeptable Fehlgriffe. Das lässt sich leicht daran erkennen, dass der Koran auch den Fall des nushûz vonseiten des Ehemanns kennt (Sure 4:128). Der Ausdruck meint fundamental ehevertragswidriges Verhalten, insbesondere eheliche Untreue.2
  • Weder steht dort „verprügeln“ noch sind die harten Assoziationen des deutschen Ausdrucks „Schlagen“ im arabischen Wort Daraba in einem vergleichbaren Maß vorhanden. Auch ein freundschaftliches Schulterklopfen oder zustimmendes Tätscheln ist  Darb (Nomen zu  Daraba).3
  • Die Anweisung wird in einer Reihe von drei Anordnungen hintenan gestellt, erst nach derjenigen, predigend zu mahnen, und derjenigen, das Ehebett zu meiden bzw. Intimitäten einzustellen.
  • Für Probleme und „Widerspenstigkeiten“ in gewöhnlichen Ehen rät der Ehrwürdige Koran ausdrücklich von dieser Vorgehensweise ab. Die dem Ehrwürdigen Koran und der Ususlehre des Propheten (s) entsprechende Ehe ist zweifellos die gewaltfreie, von Nachsicht und Vergebung geprägte Ehe.4
  • Sure 4:34 erlegt der Ehefrau weder allgemein auf, ihrem Ehemann sklavisch gehorsam zu sein, noch kann der Ehemann dies angesichts fundamentaler koranischer Prinzipien von seiner Ehefrau verlangen, zumal

    1. in dem Vers das Wort sich eindeutig nur auf die erwähnte Sondergruppe beziehen lässt.
    2. anders als die Assoziationen des deutschen Wortes „Gehorsam“ nahelegen, sich der arabische Ausdruck Tâ€ah auch auf eine freiwillig und aus Liebe resultierende allgemeine Folgsamkeit, die sich nicht unbedingt auf Details und Nebensächlichkeiten bezieht, einschränken lässt.
  • Wegen des Folgeverses (4:35) ist zu ahnen, dass die Anweisung insbesondere als letztes Mittel, eine Ehe von innen heraus zu retten, gemeint ist. Einen durch den Überraschungseffekt der großen Ausnahme als Markierung einer roten Linie eingesetzten, nicht verletzenden und nicht quälenden einmaligen Schlag auf den Oberarm oder den Oberschenkel einer extrem destruktiv agierenden Ehepartnerin als letztes Mittel, eine Familie mit kleinen Kindern vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren, kann kein vernünftiger Mensch ernsthaft verurteilen wollen. - Allenfalls ließe sich fragen, warum die Regel nicht auch in umgekehrter Richtung existiere. Doch abgesehen davon, dass dies den Anforderungen selbst vieler emanzipierter Frauen an die gefühlsmäßige Hierarchie in einer Ehebeziehung widerspräche: Welch gefährlichen, spiralartigen Eskalationen eine derartige Regelung so manche Ehefrauen aussetzen würde, bedarf keiner allzu tiefen Erörterung.
1 Man beachte den syntaktischen Unterschied zum Folgevers oder zu Sure 4:128 und die folgenden besonderen Komponenten der Syntax: 1.) Relativsatz statt °in-Bedingungssatz, 2.) bestimmtes (allâtî) statt unbestimmtes Relativpronomen (man), 3.) Imperfekt- statt Perfektverb, 4.) nushûz determiniert statt indeterminiert.
2 Dies lässt sich durch zweierlei klar belegen: 1.) nushûz bedeutet wörtlich, sich vom Boden hinwegzuheben, wie mit Sure 58:11 nachvollzogen werden kann. Dort lässt sich auch die Neutralität des Ausdrucks feststellen. Im vorliegenden Zusammenhang lässt sich nur der Boden des Ehevertrags denken, den die Person zu verlassen im Begriff ist. 2.) In einem als authentisch klassifizierten Ausspruch liefert der Gesandte Gottes (s) praktisch die Erläuterung des Wortes, indem er durch die wortwörtliche Übernahme von Formulierungen des Verses auf diesen anspielt: Hört! Geht gut mit den Frauen um, denn sie sind bei euch (praktisch) Angebundene. Zu mehr als das habt ihr kein Recht, es sei denn, dass sie eine deutliche obszöne Abscheulichkeit begehen. Sollten sie das tun, dann meidet sie in den Liegestätten und schlagt sie, ohne sie zu quälen oder zu verletzen. So sie euch dann gehorchen, sucht keinen Weg gegen sie.  (Sunan at-Tirmidhiyy, kitâb tafsîr al-qur°ân, Nr. 3087). Der Ausdruck der „deutlichen obszönen Abscheulichkeit“ wird typischerweise als alternative Bezeichnung für Unzucht oder mindestens ihr extrem Nahekommendes verwendet.
3 Gleichwohl ist bei diesem Vers natürlich vom Kontext her klar, dass das entwarnende Signal eines Schulterklopfens oder Tätschelns keineswegs das Gemeinte ist; die Beispiele dienen nur dazu, aufzuzeigen, dass die Härteassoziation nicht in dem selben Maße wie im Deutschen vorhanden ist, also die Adressaten nicht zu Härte ermuntert werden. - Als nicht ausreichend begründbar gänzlich abzulehnen sind weit hergeholte Versuche, Darb hier als Beischlaf oder als Trennung zu interpretieren. Solche Versuche meinen, das Verb semantisch unverändert aus Redewendungen herauslösen zu können, in welchen sie eine andere als die wörtliche Bedeutung haben - ein sprachanalytisch völlig unzulässiges Vorgehen.
4 s. Suren 4:19, 30:21, 64:14


Widerspruchsfreiheit zu naturwissenschaftlichen Fakten: Übereinstimmung mit anderen externen Fakten: Theologie und Dogmatik: Ethik: Geschlechtergerechtigkeit:
Innere Widerspruchsfreiheit: Sonstiges: