Maria - Schwester Aarons?

In Sure 19:28 wird erzählt, dass Menschen zu Maria (s) sagten, als sie ihren neugeborenen Sohn Jesus (s) zu ihnen trug: „O Schwester Aarons, dein Vater war kein Mann von Übel, und deine Mutter war keine Dirne.“ Der Prophet Aaron trat historisch jedoch in einem ganz anderen Zeitalter auf. Verwechselt der Koran sie hier nicht mit einer Maria (Mirjam), die etwa 1200 Jahre zuvor gelebt hat und in der Bibel „die Schwester Aarons“ genannt wird?1 Wird der Eindruck, dass der Koran die Mutter Jesu tatsächlich für die Schwester Mose und Aarons hält, nicht noch dadurch verstärkt, dass er Maria „die Tochter Imrâns“ (des biblischen „Amram“) und die Hadithe Moses „den Sohn Imrâns“ nennen?

Hiermit ist kein Fehler nachweisbar, denn:

  • „Schwester Aarons“ ist nicht der Ausdruck leiblicher Geschwisterschaft, sondern eine Art Zweitname.2 Dieser wurde Maria möglicherweise von ihrer Mutter und von Geburt an gegeben oder kam im späteren Verlauf ihres Lebens als Ehrenbezeichnung hinzu. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen sein:

    • Zu Ehren der alttestamentarischen Mirjam, zu ihrem Gedenken und sogar in bewusster Anspielung auf jene Bibelstelle, was für semitische Völker nicht untypisch ist.3
    • Die Anrede „O Schwester Aarons“ passt sehr gut zu Maria, war sie doch - insbesondere hinsichtlich des Tempeldienstes - die Schwester Aarons im Sinne der priesterlichen Frömmigkeit, die sie mit ihm gemeinsam hatte, und für die sie bekannt war und ist. Für diese Frömmigkeit ist Aaron als erster Hohepriester der Kinder Israels ein geradezu ideales Symbol.

  • Was den gemeinsamen Vatersnamen „Imrân“ betrifft, so benennen noch heute manche Orientalen ihre Kinder so, dass sich in der Familie Namenskonstellationen ergeben, die in heiligen Schriften ihre Parallele haben. So nennen manche Väter, die „Ibrâhîm“ (Abraham) heißen, den ersten Sohn „Ismael“ und den zweiten „Isħâq“ (Isaak), da der Prophet Abraham (s) diese beiden Söhne hatte. Eine ähnliche Intention mag bei der Mutter Marias bei der Namensgebung vorgelegen haben.
  • Wie der vorangegangene Punkt impliziert, sind der sogenannte Imrân, der Vater Mose, und Imrân, der Vater Marias, zwei verschiedene Personen. Hinzu kommt nun, dass im Koran nirgendwo ein „Imrân“ als Vater Mose oder Aarons vorkommt und fraglich ist, ob der Authenzitätsgrad der Hadithe, in denen dies anders ist, ausreicht.4 Somit ist nicht klar, ob €imrân überhaupt die korrekte Arabisierung des biblischen „Amram“ ist,5 ganz zu schweigen von der Frage, ob die biblische Überlieferung hier den historischen Tatsachen6 entspricht. Der Koran ist sich durchaus bewusst, dass Moses bzw. Aaron und Jesus in zwei verschiedene Zeitalter gehören, zumal er von einer Reihe von Gesandten ausgeht, die zwischen den beiden Generationen entsendet wurde (Sure 2:87). Außerhalb des diskutierten Verses macht der Koran an keiner einzigen Stelle den Eindruck, dass er alle in dasselbe Zeitalter einordnet.
  • Bei Stammesbezeichnungen, die eine Angabe eines einzelnen Patriarchen darstellen, wird im Arabischen manchmal das als solche kennzeichnende banû/banî weggelassen, wie es beispielsweise beim im Koran vorkommenden Volk Aad aus gutem Grund vermutet wird. Wie der Koran auf den Propheten Hûd zur Angabe seiner genealogischen Zugehörigkeit zu den Aad als Bruder Aads Bezug nimmt (Sure 46:21) und dies als Abkürzung für „Bruder der Kinder Aads“ geeignet ist, so kann „Schwester Aarons" als Abkürzung für „Schwester der Kinder Aarons“ stehen und sie somit als Nachfahrin Aarons ausweisen.  
  • Der Koran, wie die Forschung bestätigt, ist mit so vielen und so feinen, selbst vielen religiösen Juden und Christen unbekannten Details der Themen und historischen Abläufe, auf die sich auch die Bibel bezieht, vertraut, dass es allein schon deshalb praktisch unmöglich ist, dass hier ein Fehler des Koran vorliegt. Beispielhaft für diese Vertrautheit ist von Beginn an mit ihrem historisch korrekten chronologischen Arrangement diese Sure 19 selbst (Zacharias - Johannes - Maria - Jesus), und auch, falls der Name „Imrân“ eine Variante von „Amram“  ist, allein schon seine Zuordnung als Vatersname zu irgendeiner Miriam/Maria.
  • Der Koran zitiert/paraphrasiert mit dem Wort „Schwester Aarons“ Menschen - wenn es also ein Fehler wäre, so wäre es der Fehler der zitierten Menschen, nicht des Koran. Dem Neuen Testament zufolge wurde immerhin auch Jesus von einigen Menschen der damaligen Zeit irrtümlicherweise mit einer anderen Person, die Jahrhunderte vorher gelebt hatte (Elias), identifiziert bzw. als ihre Reinkarnation betrachtet. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das Prophetenhafte Marias und ihr Name im Zusammenspiel mit einer gewissen Mentalität der Menschen der damaligen Zeit einige von ihnen dazu bewog, sie mit der alttestamentarischen Schwester Aarons zu identifizieren.
1 s. Exodus 15:20 („Und Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, nahm das Tamburin in ihre Hand; und alle Weiber zogen aus, hinter ihr her, mit Tamburinen und in Reigen.“)
2 Dies wird laut einer Überlieferung im Saħîħ-Werk Muslims vom Propheten (s) persönlich zu diesem Vers in einem authentisch überlieferten Ausspruch eindeutig mitgeteilt: „Sie pflegten nach ihren Propheten und den früheren Rechtschaffenen benannt zu werden.“ (Saħîħ Muslim, kitâbu l-°âdâb, Hadith Nr. 2135) Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass die Überliefererkette dieses Hadiths eine leichte Schwachstelle beinhaltet (Simâk b. Ħarb).
3 Vgl. z.B. „Benaissa“ für „Sohn Jesu“ bei heutigen Orientalen. Eine ähnliche Intention liegt auch beim europäischen Zusatz „Maria“ vor, z.B. im Namen des deutschen Dichters „Rainer Maria Rilke“.
4 Auffällig viele unter der großen Menge an Hadithen, in denen der Ausdruck mûsâ bnu €imrân vorkommt, weisen Überliefererketten mit schwachen Gewährsmännern und solchen auf, die andernorts der Erfindung von Hadithen wissenschaftlich überführt worden sind. Die wenigen einigermaßen akzeptablen Überliefererketten weisen bei genauerer Betrachtung allesamt kleinere Schwachstellen auf und sind nicht stark genug, um mehr als den groben Inhalt der Überlieferung zu stützen. Feinheiten der Formulierung wie beiläufig erwähnte Namenszusätze benötigen erfahrungsgemäß Überliefererketten höchster Güte, möglichst gestützt von weiteren Überliefererketten zum selben Inhalt unter Beibehaltung der Formulierung. Beispiel: In einer der authentischsten Überlieferketten (Saħîħ Muslim, kitâb al-°îmân, Hadith Nr. 165) taucht der Gewährsmann Qatâdah b. Du€âmah auf, der für Auslassungen in der Überliefererkette bekannt ist und hier nicht explizit sagt, dass er den Hadith von dem anderen Gewährsmann gehört habe.
5 Dagegen spricht 1.) die Umwandlung des a in das schwierigere i, wo doch eigentlich das Gegenteil zu erwarten wäre, wie z.B. bei der Abwandlung von miryam zu maryam, 2.) die Abwandlung des abschließenden m zum n, die bei maryam offensichtlich ausgeblieben ist, und 3.) die hinzukommende Dehnung in der zweiten Silbe erhöht kaum die Anpassung an arabische Sprachgewohnheiten, zumal عمرم dasselbe Muster wie مريم hat.
6 Aufgrund der merkwürdigen Bedeutung des Namens „Amram“, nämlich „der Onkel ist erhaben“, herrscht unter Bibelwissenschaftlern einige Unklarheit über ihn, so dass eine der Annahmen lautet, es handele sich hier um einen „Ersatznamen“ (Quelle: WiBiLex, Eintrag „Amram und Jochebed“, Stand Okt. 2009). Er wäre somit womöglich gar nicht der wahre Name des Vaters Mose und Aarons. Noch stärker zeigt sich die Unzuverlässigkeit der biblischen Überlieferung darin, dass laut Exodus 6:20 die Mutter Mose und Aarons „Jochebed“ geheißen habe. Dieser Name ist offensichtlich hebräisch und bedeutet mit der „Jo“-Vorsilbe „Jahwe ist Gewichtigkeit“. Doch aus der Bibel selbst geht hervor, dass der Name „Jahwe“ jener „Jochebed“ noch gar nicht bekannt sein konnte, sondern erstmals ihrem Sohn Moses offenbart wurde (Ex 3:13-14, Ex 6:2-3), geschweige denn, dass bereits die Tradition der Benutzung der „Jo“-Vorsilbe existierte. - Auffällig ist auch, dass laut Exodus 6, wo Aarons Vater erstmals auftaucht, alle erwähnten Mitglieder seiner Stammeslinie einschließlich seiner eigenen Person ein Alter von über 130 Jahren erreichen (Levi: 137 Jahre, Kehat: 133 Jahre, Amram: 137 Jahre), obwohl nach modernem Forschungsstand das Durchschnittsalter der damaligen Menschen zu ihrem Tod unter 50 Jahre betrug.


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