Keine Gefährtin

Einerseits wird Marias Frage, wie sie ohne einen Partner ein Kind bekommen könne, damit beantwortet, dass dies herbeizuführen, für Gott ein Leichtes sei (Sure 19:20-21), und andererseits stellt der Koran selbst die Frage, wie Gott ohne eine Gefährtin ein Kind haben könne (Sure 6:101). Widerspricht dies nicht Seiner Allmacht, und müsste Er nicht hier auch sagen, dass dies herbeizuführen Ihm ein Leichtes sei? Immerhin existiert in der Natur auch asexuelle Fortpflanzung. Wirft der Koran den Christen hier nicht außerdem fälschlicherweise vor, sie glaubten, Gott habe auf biologische Weise einen Sohn (Jesus) bekommen, obwohl dies der christlichen Theologie gar nicht entspricht?

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Im arabischen Original der obigen Verse kommt das Wort „können“ nicht vor. Es wird also nicht explizit gesagt, Gott könne etwas nicht, schon gar nicht im Sinne einer Schwäche. Stattdessen wird annâ benutzt, ein Fragewort, das auch lediglich Unwahrscheinlichkeit oder Abwegigkeit auszudrücken vermag.
  • Selbst wenn das Wort „können“ vorkäme, widerlegte dies genauso wenig Seine Allmacht wie der Satz, Gott „könne“ keinen Stein erschaffen, der für Ihn zu heben zu schwer sei. Denn logische Undenkbarkeiten sind kein Beweis für Schwäche. Mehr dazu hier: Die Allmacht Gottes (klicken).
  • Selbst wenn das Argument des Verses nur die Partnerlosigkeit wäre: Asexuelle Fortpflanzung ist eine niedrigere Form der Reproduktion als sexuelle Fortpflanzung, denn erstens findet asexuelle Fortpflanzung in der Natur meist bei primitiven Lebensformen (in der entsprechenden Literatur oft „Niedere Tiere“ genannt) und nie bei Säugetieren, Reptilien oder Vögeln statt, und zweitens ist der Substanzverlust des sich reproduzierenden Individuums bei der asexuellen Fortpflanzung größer als der des Vaterindividuums bei der sexuellen Fortpflanzung (wegen Vermehrung durch Selbstaufteilung usw.). Sexuelle Fortpflanzung zeichnet sich hinsichtlich des männlichen Individuums also besonders dadurch aus, dass eine prozentual sehr geringe Menge Substanz verloren wird (Sperma, Blütenstaub). Da die Verneinung eines kleinen Verlustes zugleich die Verneinung eines großen Verlustes impliziert, genügt zum Ausschluss der partnerlosen Geburt die Erwähnung der Partnerlosigkeit, zumal Gott unabhängig von der Frage nach Seiner Fähigkeit dazu zu erhaben ist, als dass ihm die partnerhafte Elternschaft, geschweige denn die partnerlose Elternschaft zugeschrieben werden dürfte.
  • Die Frage Marias lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem Argument in 6:101 vergleichen. Denn Marias Frage lautet: Woher soll mir ein Knabe sein, wo mich doch kein Mensch berührt hat? Das Argument in 6:101 dagegen lautet: Woher sollen Ihm Kinder sein, wo Er doch keine Gefährtin hatte und alles erschaffen hat?
  • Liest man den Vers 6:101 zusammen mit dem ihm vorausgehenden Vers, erkennt man, dass er sich gar nicht speziell auf die Christen oder Jesus bezieht, sondern auf Polytheisten allgemein oder die damaligen arabischen Götzendiener: Und sie wiesen Gott Teilhaber zu - die Daimonien - obwohl Er sie erschaffen hat. Und Söhne und Töchter schwindelten sie Ihm ohne Wissen an. Seine herrliche Erhabenheit, und voller Höhe ist Er über ihre Beschreibungen. Der Schöpfer der Himmel und der Erde - woher sollen Ihm Kinder sein, wo Er doch keine Gefährtin hatte und alles erschaffen hat? Und um alles ist Er wissend. Man beachte auch, dass das hier benutzte Substantiv walad besonders im damaligen Arabisch häufig als Kollektivum benutzt und auch als Plural gemeint wurde („Kinder“).2
  • Wenn das Wort walad von den Adressaten selbst ausschließlich als ein durch Paarung erzeugtes Wesen definiert wurde, rechtfertigte dies die Argumentation voll und ganz, selbst wenn sie nur auf dem Hinweis auf die Erhabenheit Gottes über Gefährtenschaft fußte.
  • Um die Anbetung ihrer Götzen zu legitimieren, behaupteten die mekkanischen Götzendiener, jene Götzen seien als Töchter Gottes von Ihm abstammend und hätten daher erbhaften Anteil an Seiner Göttlichkeit bzw. Anbetungswürdigkeit.3 Doch fehlten in ihrer Mythologie beide logisch einzige (Schein-)Möglichkeiten, diese angebliche unerschaffene Abstammung zu erklären: 1.) Existenz einer Partnerentität. 2.) Geburt ohne Partnerentität, also durch Abspaltung vom göttlichen Wesen, welches dadurch reduziert würde. - Da sie sich zu keiner dieser beiden Unwürdigkeiten durchringen konnten, lässt sich der Vers als Bloßstellung dieser logischen Inkonsistenz verstehen, denn die Mekkaner mussten zugeben, dass Er - auch in ihrer eigenen Mythologie - keine Gefährtin hatte und Er zur Herbeiführung einer neuen Entität auch nichts von Seinem Wesen abgespalten hat, evtl. mit anderen Worten: alles erschaffen hat.4
  • Zweck der Frage könnte durchaus auch sein, die mekkanischen und ähnliche Götzendiener in ein moralisches Dilemma zu führen. Wenn sie auf die Frage, woher Gott ohne Gefährtin ein von Ihm abstammendes Kind haben solle, mit der einzig übrigen Antwort entgegnen, er habe einen größeren Teil von sich abgespalten, hätten sie Ihm eine Wesensreduzierung zugeschrieben, die Seiner Würdigkeit offenkundig genauso wie oder noch mehr widerspräche als die Partnerschaft. Sie würden sich damit selbst der Blasphemie überführen, die sie immer weit von sich wiesen.
  • Wenn ein vorislamischer Mekkaner, der an eine auf Abstammung und Geburt5 beruhende Gotteskindschaft glaubt, es ablehnt, Gott „Mutter“ statt „Vater“ zu nennen, impliziert dies, dass er Gott nicht zuschreibt, aus Seinem Wesen etwas geboren zu haben. Somit bliebe für „echte“ Gotteskindschaft ohne Schöpfung und Adoption logisch allenfalls die Geburt des Kindes aus einem anderen Wesen, gleichgültig ob „Gattin“ oder anders genannt. - Wenn dieser Mekkaner aber zugleich das Allschöpfersein Gottes bestätigt (um dem Vorwurf zu entgehen, Gott rangmäßige Konkurrenz durch weitere unerschaffene Entitäten beizugesellen) und darum keine unerschaffene Gattin postuliert, bliebe nur die erschaffene Gattin. Dies war für die damaligen Polytheisten Mekkas undenkbar (andernfalls hätten sie eine solche in ihre Mythologie eingeführt und verehrt), so dass sie der Versteil wo Er doch keine Gefährtin hat[te]6 mit dieser logischen Inkonsistenz konfrontiert.
  • Hindus glauben an einen elefantenköpfigen „Ganesha“, welcher der Sohn des Shiva sei, und zwar nicht als Ergebnis eines Sexualaktes, sondern allein dadurch, dass Parvati, die Gattin Shivas, ihn aus Lehm geformt habe. Da Menschen offenbar glauben können, jemand könne auch unbiologisch und ohne Paarung automatisch Kind Gottes sein, wenn eine sogenannte Gattin - erhaben ist Er darüber - ihn erschaffen habe, eignet sich der Satz bestens als Komponente in der Widerlegung des Irrglaubens von der Gotteskindschaft. Schließlich bespricht der Vers (6:101) die Frage nach der „Gefährtin“, nicht jedoch explizit die Frage nach biologischer Paarung.
  • Unabhängig von der Mythologie der damaligen Götzendiener und ähnlicher Auffassungen betrachtet, mag die Erwähnung der Nichtexistenz einer Gefährtin als Argument heute nur noch eine geringe Rolle spielen. Sie ist dennoch unter einem anderen Aspekt noch heute universell relevant, nämlich allgemein als Lehre und Mitteilung, dass die Auffassungen, denen zufolge Gott eine Gefährtin habe, falsch sind.
  • Der diskutierte Satzteil des Verses kann übrigens auch so verstanden werden: „Wie soll Er ein Kind haben, wenn Er nicht einmal eine Gefährtin hat?“ Im Sinne von: Erst recht hat Er nichts von Seinem eigenen Wesen abgespalten, wenn Er sich nicht einmal auf eine lose Gefährtenschaft einlässt, die nicht das Geringste von Seinem Wesen reduziert (unabhängig von der Frage nach der sexuellen Fortpflanzung).
  • Die Details der christlichen Theologie sind vielen Christen unbekannt, so dass leider davon ausgegangen muss, dass die Masse der Laien unter ihnen, die an eine über eine bloße Titulierung und Auserwählung hinausgehende Gottessohnschaft glauben, durchaus an eine mehr oder weniger wörtliche Zeugung glauben. Somit wäre der Vers gerechtfertigt, selbst wenn er sich explizit auf Christen bezöge.
1 Vgl. die Syntax in 6:100 (وخلقهم).
2 Beispiele im Koran: 18:39, 19:77.
3 Siehe Suren 53:19-23, 43:81
4 Die Kritiker übersahen, dass diese beiden Versteile zusammengehören und zusammengenommen auf eine logische Undenkbarkeit aufmerksam machen, während Marias Worte lediglich empirische Unwahrscheinlichkeit assoziierten.
5 Das in dem Vers benutzte Wort walad bedeutet wörtlich „Geborener“ und kommt von dem Verb walada („gebären“).
6 Im Original steht die Vergangenheitsform. Auf Gott bezogen ist diese im Koran jedoch oft nicht als bloße Vergangenheit gemeint.


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