Die Sukzessivität der koranischen Offenbarung

Einerseits kam der Koran laut eigener Aussage stückweise herab, während andere Stellen nahe legen, dass er als Ganzes herabgekommen sei, z.B. in Sure 2:185, wo es heißt: „Der Monat Ramadan ist derjenige, in dem der Koran herabgelassen wurde“, oder in Sure 97:1, wo es heißt: „Wir haben ihn in der Nacht der Bestimmung herabgelassen“.

Hiermit ist kein Widerspruch feststellbar, denn:

  • Nirgendwo steht im Koran explizit, der Koran sei nur ein Mal und als Ganzes herabgesandt worden. Worte wie „ganz“ oder „vollständig“ tauchen auch in den oben genannten Koranstellen nicht auf.
  • Im Koran wird an vielen Stellen die Vergangenheitsform eingesetzt, um die irreversible Beschlossenheit oder die Unabwendbarkeit eines zukünftigen Ereignisses auszudrücken.1 Dies passt erst recht zu der Unabwendbarkeit eines Ereignisses, das bereits begonnen hat, wie z.B. der Offenbarung des Koran, die mit Sure 96:1-5 in einer Ramadannacht begann.
  • Schon wenn lediglich die Vorhut einer vorrückenden Armee mit deutlichem zeitlichen Vorsprung im Dorf erschienen ist, lässt sich problemlos sagen: „Die Armee ist nun eingetroffen.“ - Weiteres Beispiel: Nie meint die Aussage, jemand habe sich die Finger in die Ohren gesteckt, er habe mehr als zwei Fingerspitzen in der Öffnung versenkt (vgl. Suren 2:19, 71:7). - Weiteres Beispiel: Über eine aus dem Fenster eines höheren Stockwerks hängende Stahlkette, auch wenn ihr größter Teil noch im Inneren jener oberen Etage liegt und sie nur mit einem einzigen Kettenglied bereits die Erde berührt hat, lässt sich problemlos sagen, sie sei nun herabgelassen worden. - Der Beginn der Offenbarungskette in einer der Nächte des Ramadan, zusammen mit der irreversiblen Beschlossenheit der Folgeoffenbarungen rechtfertigt somit die Formulierung in 2:185 durchaus und widerspricht einer späteren stückweisen Offenbarung nicht.
  • In der ersten Nacht kam der Engel Gabriel (s) herab, um Mohammed (s) die ersten Verse zu lehren. Nichts spricht dagegen, dass der Engel auch den übrigen Koran in sich trug, so dass auch in diesem Sinne der gesamte Koran in der ersten Nacht herabkam. Immerhin steht an den betreffenden Stellen nur etwas von Herabsendung (°inzâl), nichts jedoch explizit von Offenbarung bzw. Eingebung (waħy).
  • Es ist unter den Korangelehrten unabhängig von diesem Thema eine weitgehend akzeptierte Vorstellung, dass mindestens einige Verse mehr als ein Mal herabgesendet wurden. Somit ist es für den gesamten Koran prinzipiell denkbar, dass er mehrmals und in verschiedenen Weisen herabgebracht wurde. Dies lässt Raum für das eine oder andere Szenario, mit dem die beiden Verse zusätzlich erklärt werden können2, auch wenn dies angesichts der bisherigen Punkte nicht mehr nötig ist.
  • Die fâtiħah-Sure trägt neben dem Namen „Mutter des Koran“ auch den Namen „der gewaltige Koran“3 und enthält seine inhaltliche Essenz, so dass es sogar ausreichen würde, wenn nur diese eine Sure in einer Ramadan-Nacht herabgekommen sein sollte.
  • Es ist authentisch überliefert, dass Gabriel in jedem Ramadan-Monat herabkam, um Mohammed (s) den ganzen bis dahin offenbarten Koran vorzutragen und ihn mit ihm zu studieren.4
1 z.B. Sure 16:1 u.v.m. Auch die gewöhnliche arabische Sprache lässt dies zu, wie in den Worten des Umar b. Khattâb nach dem Attentat auf ihn: „Der Hund hat mich getötet [...] Schau, wer mich getötet hat.“ (Saħîħ al-Bukhâriyy, kitâb faDâ°il as-Saħâbah, Nr. 3497)
2 So ließe sich überlegen, ob der Prophet (s) nicht in einer der Ramadannächte nach der Nacht der ersten Offenbarung den gesamten Koran empfangen hat, jedoch ohne tiefe Einprägung, und ohne dass er genau wusste, in welchem Bezug einzelne Verse standen und welche genaue Bedeutung sie hatten. Letzteres würde in diesem Szenario erst später bei der erneuten, anlassweisen Offenbarung der jeweiligen Abschnitte zustande gekommen sein. Dies würde erklären, warum er sich manchmal so sicher schien, in Kürze offenbarte Antworten auf gewisse Fragen der Menschen zu bekommen, und warum er während des Offenbarungsprozesses seine Lippen bewegte, um den Prozess zu beschleunigen, als ob er im Voraus wüsste, welche Worte folgen würden (75:16). Mit diesem Vorschlag scheint zwar Sure 25:32 im ersten Moment in Konflikt zu stehen: Und es sagten die, die entkennend geworden sind: Warum ist der Koran auf ihn nicht als ein einziges Ganzes herabgesandt worden? - Derart (verfahren Wir), um dein Herz zu festigen.. Der Konflikt löst sich möglicherweise jedoch auf, wenn man beachtet, dass dhâlika („das“) in diesem Vers syntaktisch möglich gewesen wäre und dennoch stattdessen kadhâlika („wie das“, „derart“) zum Einsatz gekommen ist; oder, indem man berücksichtigt, dass der Ausdruck „der Koran“ in diesem Vers zwar den ganzen Koran meint, in den anderen Versen jedoch sprachlich nicht nur gerechtfertigt ist, wenn der ganze Koran, sondern auch dann, wenn lediglich der größte oder der essentielle Teil (z.B. der mufaSSal-Teil) gemeint ist. - Ein weiteres Szenario wäre, dass der gesamte Koran in einer der Nächte des letzten Ramadanmonats im Leben des Gesandten (s) noch einmal offenbart wurde.
3 Saħîħ al-Bukhâriyy, kitâbu tafsîri l-qur°ân, Hadith Nr. 4204 & 4427.
4 Saħîħ al-Bukhâriyy, kitâbu faDâ°ili l-qur°ân, Hadith Nr. 4712. Ibn Ħajar v. Aschkelon zitiert in fâtħ al-bârî den Sha€biyy, einen der Gelehrten der Altvorderen und Zeitgenossen der Prophetengefährten, wie er diese Überlieferung als Erläuterung von Sure 2:185 anführt. Ibn Ħajar selbst ist dort anzumerken, dass er diese Ansicht für richtig hält, obwohl die Erläuterung von Ibn Abbâs populärer ist, nämlich, dass in 2:185 mit dem Herabsenden nur die Herablassung des ganzen Koran zum niedersten Himmel und zunächst nicht weiter hinab gemeint sei.


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